„O Captain! Mein Captain!“:
Rezension „Der Club der toten Dichter“ in Bad Hersfeld
13.08.22 – Rezension „ Der Club der toten Dichter“ - Schauspiel nach dem Spielfilm von Peter Weir (Regie) und Tom Schulman (Drehbuch) - Inzenierung Joern Hinkel - Bad Hersfelder Festspiele
„Bullshit“ wettert John Keating, der neue Lehrer an der renommierten Welton-Akademie, gegen die Literaturtheorien des Dr. J. Evans Pritchard. Er fordert die Schüler auf: „Reißt die Seiten raus.“ Wie jetzt? Die Buchseiten? Rausreißen? Die anfängliche Verblüffung schlägt rasch in Begeisterung um. Doch beim Establishment kommen Keatings unkonventionelle Unterrichtsmethoden gar nicht gut an. Was dagegen auch im zweiten Bad Hersfelder Aufführungssommer mehr als nur gut ankommt, ist Joern Hinkels Inszenierung des Schauspiels „Der Club der toten Dichter“. Hier gehen die brillante Darstellerriege, Regie, Bühnenbild und die unvergleichliche Atmosphäre der Stiftsruine eine Symbiose ein, die den „Club der toten Dichter“ zum Must-See des Sommers 2022 macht.
Regisseur und Festspiel-Intendant Joern Hinkel orientiert sich eng an der gleichnamigen Filmvorlage, die mit dem unvergessenen Robin Williams in der Hauptrolle 1989 in die Kinos kam. Hinkel und Dramaturg Tilman Raabke erarbeiteten gemeinsam die deutsche Textfassung, in enger Abstimmung mit Tom Schulman, dem Autor des oscarprämierten Drehbuchs. Nach der Europäischen Erstaufführung bei den Bad Hersfelder Festspielen 2021 feiert der Dichterclub 2022 eine furiose Wiederaufnahme.
Ein Bühnenbild voller Überraschungen
Schon die Atmosphäre könnte besser nicht sein: Die Wände der Welton-Akademie verschmelzen geradezu mit den Mauern der Stiftsruine. Jens Kilian hat ein meisterhaftes Bühnenbild mit vielen Überraschungen geschaffen. Mittig führt eine Holztreppe auf eine zweite Ebene, dort begrenzt eine Balustrade den Raum, von dem wiederum seitlich eine Treppe hinabführt. Ein schmiedeeisernes Gitter lässt den Blick auf die Apsis wirken wie den Blick aus dem Fenster des Schulgebäudes.
Immer wieder wandelt sich das Bühnenbild während der Szenen: Das Klassenzimmer fährt mitsamt Stühlen und Pulten unter der Treppe hervor. Die Schüler sitzen mit dem Rücken zum Publikum, das dadurch sozusagen mit im Schulraum Platz nimmt. Als Keatings Unterricht die ersten Schüler zu kritischer Auseinandersetzung mit bestehenden Gegebenheiten motiviert, dreht sich das Klassenzimmer, die Schüler sitzen nun frontal zum Publikum – ein großartiger Moment, in dem das Bühnenbild die Handlung intensiviert. Auch die Höhle, der heimliche Treffpunkt des Clubs der toten Dichter, wird höchst effektvoll umgesetzt: Eine Klappe im Bühnenboden, ein paar Äste und Laub – und Taschenlampen, deren aufblitzende Strahlen das Dunkel der Nacht durchschneiden.
Liebevoll ausgewählte Requisiten, beispielsweise die vielen Bilder, die teils ein bisschen schief an der Wand des Klassenzimmers hängen oder eine Vitrine mit Pokalen für ehrenvolle Siege, verdichten die Atmosphäre zusätzlich. Mit wenigen Elementen entstehen bei Bedarf weitere Räume: Zwei Bettgestelle aus Metall öffnen den Blick ins karge Zimmer von Todd und Neil, ein Tor und schon befindet man sich auf dem Fußballplatz, ein Vorgang wird aufgezogen und im Handumdrehen wird der zweite Stock des Schulgebäudes zur Theaterbühne, auf der Puck sein Unwesen treibt.
Traum vs. Realität
Dass für Neil Perry der Traum vom Theaterspielen wahr wird, ist dem Einfluss des neuen Welton-Lehrers Keating zuzuschreiben, für den er vom ersten Moment an geradezu schwärmt. Darsteller Till Timmermann legt in seine Blicke und Gesten die gesamte Gefühlswelt seines Bühnencharakters: Ungläubiges Staunen, vorsichtige Hoffnung, wachsende Begeisterung. Ganz subtil vermittelt Timmermann Neils Hoffnung auf einen selbstbestimmten Lebensweg. Geradezu euphorisch initiiert er mit leuchtenden Augen die Neugründung des Clubs der toten Dichter und gibt letztlich sogar den Puck in einer Schüleraufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“, heimlich, gegen den Willen seines Vaters.
Timmermann gelingt der Wechsel zur Rolle in der Rolle bravourös – auch als Puck kann man sich den jungen Künstler absolut vorstellen. Als Vater Perry unerwartet auftaucht, kollidieren Neils Träume mit der Realität. Timmermann lässt das Publikum hautnah an Neils emotionalem Aufruhr teilhaben. Mit dem Mut der Verzweiflung spricht Neil-Puck die Abschiedsworte „nun, gute Nacht, das Spiel zu enden, begrüßt uns mit gewognen Händen“.
Doch Mr. Perry ist weit davon entfernt, den künstlerischen Ambitionen seines Sohnes auch nur ansatzweise Wohlwollen entgegenzubringen. Thorsten Nindel gibt mit akkurater Haltung und schneidender Stimme Neils militärisch-strengen Vater, weiß aber der doch recht klischeebehafteten Rolle auch eine zugänglichere Komponente zu verleihen. Ein unbeholfenes Schulterklopfen, Vaterstolz angesichts von Neils schulischen Leistungen und ein Geschenk, das für ihn selbst eine große Bedeutung hat, lassen ahnen, dass Mr. Perry davon überzeugt ist, das Beste für Neil zu tun.
Das gilt auch für den erzkonservativen Rektor der Lehranstalt, Mr. Nolan, beängstigend glaubhaft verkörpert von Hannes Hellmann. Wo käme man denn hin, wenn die Jugend sich in poetische Gefilde verirren, anstatt vom strukturierten Lehrstoff profitieren würde? Er ist die Personifizierung der Welton‘schen Prinzipien Tradition, Ehre, Disziplin und Leistung, letzteres in Bad Hersfeld übersetzt mit „Exzellenz“.
Ein Gegenpol zu Mr. Nolan findet sich, ganz unerwartet, im Mathematiklehrer Mr McAllister. Tagsüber gibt er sich penibel und streng, gibt klare (Zeit)-Ansagen und hält ebenso wie alle anderen Lehrer die Schüler auf Distanz. Aber kaum läuft im Radio Rock’n Roll, ist er wie verwandelt. Was als verschämtes Fußwippen beginnt, gipfelt in Hüftschwüngen, bei denen selbst Elvis vor Neid erblassen würde. Peter Englert als rockender Mathelehrer dient als willkommenes comic relief und wird zum frenetisch bejubelten Showstopper.
Brillant: Michael Rotschopf als John Keating
Doch der Grundtenor des Schauspiels „Der Club der toten Dichter“ bleibt ernst und eindringlich: Es geht um die Freiheit des Denkens, um das Recht auf Individualität und um den Mut, den es braucht, beides umzusetzen und einzufordern.
Als John Keating an der Eliteakademie auftaucht, geraten verkrustete Strukturen ins Wanken. „Carpe Diem“ statt Literaturtheorie, Auf-Dem-Tisch-Stehen und Urschreie statt Pauken nach Plan. Michael Rotschopf lebt bis ins kleinste Detail die Rolle des eigenwilligen Lehrers, dessen ureigenes Anliegen es ist, den Schülern nicht nur den Weg zum Lehrstoff, sondern vor allem den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft zu ebnen.
Besonders faszinierend an Rotschopfs Schauspielkunst ist die ebenso präzise wie feinfühlige Weise, mit der er den Blick in Keatings Innerstes öffnet. Alleine in seinem kargen Zimmer sitzend, wirkt der engagierte Lehrer plötzlich tieftraurig, was er aber sofort abstreift, als Neil ratsuchend an seine Tür klopft. Wenn ihn seine Schüler mit begeistertem „O Captain! Mein Captain!“ nach einer höchst ungewöhnlichen Literaturstunde auf dem Fußballplatz hochleben lassen, wirkt dies nicht nur für die Klasse wie ein Befreiungsschlag, sondern auch für Keating selbst, der ja als Jugendlicher ebenfalls „in der Hölle von Welton geschmort und überlebt“ hat.
Die berühmte Schlussszene, in der die Mitglieder des Clubs Keating Tribut zollen und ihn auf den Tischen stehend mit seiner präferierten Anrede verabschieden, während Rektor Nolan in ohnmächtiger Wut versucht, dies zu verhindern, erfährt in der Interpretation von Michael Rotschopf eine völlig neue emotionale Tiefe. Neils Selbstmord, der Keating angelastet wird, lässt das innere Gleichgewicht des Lehrers zerbrechen. Michael Rotschopfs Miene ist von purer Seelenqual gezeichnet, mit eingezogenen Schultern schleppt er sich stolpernd ein letztes Mal durch sein Klassenzimmer, echte Tränen rollen. Auch im Publikum.
Ebenfalls eine Leistung par excellence zeigt Nico Ramon Kleemann als Todd Anderson. Der Welton-Neuling steht anfangs schüchtern an der Seite, wagt kaum, den Mund zu öffnen, knetet permanent verlegen seine Hände und lebt in ständiger Furcht, unangenehm aufzufallen oder, besser gesagt, überhaupt irgendwie wahrgenommen zu werden. Parallel ausgerichtet stellt er seine Schuhe vors Bett, und natürlich zieht er diese aus, bevor er zögerlich und übervorsichtig Keatings Aufforderung folgt, sich zwecks Perspektivenwechsel auf den Tisch zu stellen. Als ausgerechnet er Keating vehement verteidigt und bei dessen Rauswurf als erster geradezu auf den Tisch springt, wird das Ausmaß von Todds persönlicher Entwicklung klar. Er scheitert nicht, wie Neil, am Konflikt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, sondern ist das beste Beispiel für die Umsetzbarkeit von Keatings hehren Idealen. Nico Ramon Kleemann lässt miterleben, wie Todd Anderson zu einem gefestigten Charakter mit eigener Meinung heranreift, seine Darstellung ist in allen Rollenfacetten beeindruckend und absolut glaubhaft.
Auch alle übrigen Welton-Schüler werden von den hochtalentierten jungen Schauspielern mit sprühender Spielfreude und großem Können dargestellt.
Da ist Luke Bischof als sympathisch-vorlauter Charlie Dalton, der immer einen frechen Spruch auf den Lippen und auch gerne mal ein gemaltes Symbol auf der Brust hat. Er sieht Keatings so ganz anderen Unterricht zunächst nur als willkommene Abwechslung und nutzt den Dichterclub vorrangig, um den Mädels zu imponieren. Bischof spielt aber auch präzise heraus, wie Dalton angesichts der tragischen Entwicklungen Charakterstärke beweist. Durch einen heimlich in die Schülerzeitung geschmuggelten Artikel, der im Namen des Clubs der toten Dichter die Aufnahme von Mädchen an der Eliteschmiede fordert, eskaliert die Situation. Charlie Dalton trägt die Konsequenzen seines Rebellionsversuchs und nimmt hoch erhobenen Hauptes den Schulverweis in Kauf.
Nils Eric Müller gibt den Technikfreak Steven Meeks, der eher abwartend und vor allem anfangs mit verblüfftem Staunen auf Keating reagiert, Fabian Hanis schwärmt als Knox Overstreet ebenso heftig wie vergebens für die attraktive Chris (klasse: Eli Riccardi) und überschlägt sich buchstäblich vor Freude, wenn sie sich nur vage an seinen Namen erinnert. Den Part des ewig mahnenden und auf Einhaltung der Regeln bedachten Richard Cameron übernimmt Constantin Gerhards, der seinem Bühnencharakter gekonnt ziemlich unsympathische Züge verleiht. Cameron wird es sein, der als erster Verrat begeht.
Dem Club nicht beigetreten sind Gerald Pitts (Stefan Reis), Jonas White (Klaas Johann Lewerenz, der zusätzlich als völlig untalentierter Schulaufführungs-Oberon sein komödiantisches Talent beweist) und Kurt Hopkins, der bei Keatings Rauswurf überraschend ebenfalls auf den Tisch steigt. Manuel Nero zeigt in dieser Szene mit differenzierter Mimik Hopkins' Gedanken, von Zaudern und Zögern bis hin zum bewussten Entschluss.
Dem gesamten Ensemble, ob tragende Rolle oder kleinerer Part, gelingt dank Joern Hinkels exakter Personenregie die klare Darstellung der jeweiligen Charaktere. Nico Kleemann, Constantin Gerhards, Luke Bischof, Nils Eric Müller, Fabian Hanis und Till Timmermann wirken durch das lockere Miteinander auf der Bühne wie direkt aus dem Internatsleben gegriffen. Im Zusammenspiel mit dem charismatischen Burgschauspieler Michael Rotschopf erfährt der Hersfelder Dichterclub noch ein zusätzliches Quantum an Authentizität.
Manch einer mag vielleicht neue Regieansätze vermissen, aber eine Geschichte, die Ende der 1950er Jahre spielt, krampfhaft zu modernisieren, ist weder nützlich noch nötig. Die zentrale Thematik beschäftigt Jugendliche aller Generationen, und in allen Generationen gab und gibt es Lehrerinnen und Lehrer wie John Keating. All‘ diesen setzt Michael Rotschopf mit seiner emotionalen, grandiosen Darstellung ein Denkmal.
Text: Sylke Wohlschiess
Wenn Ihnen die Rezension gefällt, freuen wir uns über Ihr „like“ für unsere FB-Seite: MusicalSpot.de
Diese Inhalte auf MusicalSpot.de könnten Sie auch interessieren: