„In meinem Herzen welche Glut“:
Rezension Musical „Goethe!“ in Bad Hersfeld
31.07.2022 – Musical-Rezension „Goethe!“ - Das Musical von Martin Lingnau (Musik), Frank Ramond (Songtexte) und Gil Mehmert (Buch und Regie) - Bad Hersfelder Festspiele
Goethe – jeder kennt seinen Namen. Die einen erinnern sich mit Begeisterung an literarische Diskussionen, die anderen mit eher gequälter Miene an endlose Deutschstunden. Wer angesichts der Thematik im ersten Moment skeptisch stockt, dem sei gesagt: Mit drögem Unterricht hat dieser „Goethe!“ nichts, wirklich gar nichts zu tun. Das Musical von Martin Lingnau (Musik), Frank Ramond (Songtexte) und Gil Mehmert (Buch und Regie) basiert auf dem gleichnamigen Spielfilm von Philipp Stölzl und ist eine temporeiche, hochemotionale Reise in die wilden Jugendjahre des Johann Goethe. Rasante Szenenwechsel, quirliges Treiben auf der Bühne und ein grandioser Song nach dem anderen lassen das Publikum atemlos staunend miterleben, wie der mäßige Jurist Johann sich aus allen Konventionen befreit, um seine wahre Berufung zu leben.
Bunt und wild - Goethe mal ganz anders
Das Musical „Goethe!“ war ursprünglich von Stage Entertainment beauftragt, wurde aber nach Schließung der Entwicklungsabteilung erst einmal ad acta gelegt. 2017 brachte das Autorenteam „Goethe! – Auf Liebe und Tod“ als Tryout an der Essener Folkwang-Universität der Künste auf die Bühne. Nach der Uraufführung bei den Bad Hersfelder Festspielen 2021 steht die Stiftsruine auch 2022 wieder ganz im Zeichen des stürmenden und drängenden Dichters.
Jens Kilian hat in dieser ältesten romanischen Kirchenruine der Welt ein rundum stimmiges, äußerst kreatives Bühnendesign erschaffen. Zwar verstellt die Guckkastenbühne als zentrales Element den Blick in die Apsis, so dass ein Teil der beeindruckenden Tiefe der Location verloren geht, aber allein die alten Mauern sorgen für eine Atmosphäre, die den Hauch der Jahrhunderte in die heutige Zeit trägt.
Sobald sich der silbern glänzende Vorhang des Guckkastenrahmens hebt, blickt man mal in die spärlich möblierte Junggesellenbude von Goethe und Wilhelm Jerusalem, mal in Lottes Zuhause. Hält oben auf dem begehbaren Rahmen Mephisto die Fäden in der Hand, sieht man sich einem überdimensionalen Marionettentheater gegenüber. Den Guckkasten gibt es noch ein zweites Mal, gebastelt von Goethe als Geschenk für Lotte und bis ins kleinste Detail identisch mit der großen Version. Wenn Lotte von ihrer Theaterminiatur auf die echte Guckkastenbühne schaut und sich dort wie auf einer überlebensgroßen Spieluhr Personen im Gleichklang mit den Papierfiguren des Modells drehen, wechselt aber nicht nur das Größenverhältnis. Durch die optische Vergrößerung wird die Emotionalität der Szene intensiviert und es entsteht ein sehr berührender Moment.
Die effektvolle Ausstattung trägt viel zur Lebendigkeit des Musicals bei: dunkle Baum-Silhouetten, ein auf ein geformtes Holzelement gemaltes Spinett und Fahrräder, die mit Kopf- und Schweifkonturen zu Pferden werden.
Exakt auf die jeweilige Szene abgestimmt sind die Requisiten des Tanzensembles. Da werden im Gerichtssaal Akten gewälzt und Staubwedel geschwungen, Vögel flattern durch die Bäume beim Ausritt, Blumen in kleinen Glasvasen werden zur Picknickwiese und Herzballons dürfen bei Kestners Heiratsantrag natürlich nicht fehlen. Auch die vielen Kostüme, für die Claudio Pohle verantwortlich zeichnet, sind perfekt auf jede Szene zugeschnitten, wechseln von gerichtsgrau zu höllisch bunt und bilden eine brillante Symbiose aus alt und neu: Lange Röcke - bei Goethe natürlich in komplementärem Blau-Gelb - Westen und gepuderte Perücken. Aber statt der im späten Rokoko üblichen Beinkleider tragen Goethe & Co. moderne Hosen und die Damen zeigen Leggins unter vorne hochgerafften ausgestellten Röcken.
Dem großartigen Ensemble kommt bei „Goethe!“ eine besondere Bedeutung zu: Es trägt und treibt in den langen inhaltsreichen Szenen die Handlung und verstärkt die Wirkung einzelner Momente. Darauf ist auch Kim Duddys Choreographie ausgerichtet, die von den Darstellerinnen und Darstellern präzise, energiegeladen und absolut mitreißend getanzt wird. Statt hölzerner Synchronizität gibt es viele individuelle Bewegungsabläufe, die sich am Ende der Szenen wieder zu einem Gesamtbild vereinen. Dabei wechseln die Schauplätze im Eiltempo. Szenen laufen fast wie Videoüberblendungen ineinander. Gerade noch liegt Goethe mit Lotte auf weichem Waldboden, schon wird die Picknickdecke zum Jägerumhang und Goethe geht mit Kestner auf die Pirsch. Pausen gibt es in diesem Musical nicht.
„Goethe!“ - Musik mit Chartpotenzial
Das gilt auch für die Musik. „Goethe!“ fegt von Hit zu Hit, fast herrscht Konzertatmosphäre. Das liegt nicht nur daran, dass das Musical nahezu durchkomponiert ist, sondern vor allem daran, dass Martin Lingnau dramatische Melodien mit Musical- und Rock-Pop-Elementen komponiert hat, die allesamt das Zeug zu Top-Platzierungen in den Charts haben. Lingnau gelingt das Kunststück, gefühlvolle Balladen zu schreiben, die sich neu und zugleich vertraut anhören. Bei den Uptempo-Nummern möchte man am liebsten mittanzen und auch das Thema des Openers „Goethe?“ geht sofort ins Ohr.
Der Musikalische Leiter Christoph Wohlleben spielt Keyboard und geleitet zugleich gewohnt souverän das über 20-köpfige Orchester durch die Partitur. Immer wieder heben sich einzelne Instrumente ab, um eine Szene einzuleiten oder einen Augenblick zu betonen, und fügen sich dann wieder in den Klangteppich ein. Lingnaus Kompositionen kombiniert mit dieser orchestralen Power, das weckt starke Emotionen. Um diese nachwirken zu lassen, hätte man sich zumindest ab und zu ein paar Sekunden des Innehaltens gewünscht. Wenn schon die Jagdhörner schallen, aber der letzte schmerzvolle Ton des leidenden Helden noch gar nicht ganz verklungen ist, geht das einfach zu schnell.
Optimiert werden sollte auf jeden Fall die Aussteuerung. Während mittig vorne die Tonqualität nichts zu wünschen übrig lässt, geht auf den hinteren, seitlichen Plätzen die Textverständlichkeit gegen Null. Da es außer ein paar Rezitativen aber so gut wie keine gesprochenen Passagen gibt, muss man die Lieder verstehen, um der Handlung folgen zu können. Außerdem lohnen Frank Ramonds Songtexte das Hinhören. Ihm gelingt es auf einzigartige Art und Weise, großartige eigene Wort-Bilder mit den zeitlos schönen Gedichten und Texten Goethes zu verbinden und so eine Brücke zwischen Literaturgeschichte und moderner Unterhaltung zu schlagen.
Man merkt „Goethe!“ an, dass das Kreativtrio Lingnau, Ramond und Mehmert eng zusammenarbeitet. Das Musical besticht immer wieder durch herausragende Dynamik und besonders gekonnte Verbindungen von Szene, Text und Musik. Rechtsreferendar Goethe verfasst ein ausgesprochen poetisches Gerichtsprotokoll. Die Juristen sind empört, heute schätzt man „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ als Gedicht der Mignon aus Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Die Zeilen des Kanons, den Goethe mal eben für Lottes Geschwister erfindet, bilden das Gedicht „Gleich und Gleich“, das allerdings erst 1814 entstand, also in Goethes späteren Lebensjahren.
Die schönste Umsetzung gelingt bei „Willkommen und Abschied“. In dieser Schlüsselszene erfasst Lotte intuitiv, welches dichterische Ausnahmetalent in dem jungen Goethe steckt, der noch voller Selbstzweifel seinen Weg sucht.
Wenn Philipp Büttner in der Titelrolle „Es schlug mein Herz geschwind zu Pferde“ anstimmt, dann wird aus einem Gedicht von 1775 einer der bewegendsten Musicalmomente der letzten Jahre. Lingnau spannt den musikalischen Bogen des Liedes analog zum Gedicht: Von sanften Tönen, als der Abend die Erde wiegt, geht es in rauschendes Crescendo bei der Glut des Herzens und mündet nach kurzem Innehalten in ein furioses Duett-Finale von Iréna Flury als Lotte und Philipp Büttner. Hier zeigt sich die Harmonie beider Stimmen ebenso schön wie gegen Ende, als Goethe im Gefängnis „Die Leiden des jungen Werther“ zu Ende schreibt, in der leicht zeitversetzten Doppelszene Lotte das Manuskript liest und dabei die geschriebenen Worte auf einer riesigen Stoffbahn über die ganze Bühnenbreite aufgezogen werden.
Top-Cast in Bad Hersfeld
In „Träume sind wie Wasser“ werden gleich mehrere von Goethes Balladen erwähnt. Goethes Vater, von Rob Pelzer mit würdevoller Autorität und schöner Stimme verkörpert, verzweifelt schier angesichts von „Erlkönig“ und „Der König in Thule“. Als Goethe dann noch erklärt, dies sei „eine Ode an den Mond“, verliert Goethe sen. die Geduld und schickt den dichtenden Filius nach Wetzlar.
Doch wohin er auch geht, seine Poesie bleibt für Johann Goethe immer das Wichtigste. Statt sich um das Mädchen in seinem Bett zu kümmern, schreibt er mit „Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß!“ noch schnell die letzten Worte des „Götz von Berlichingen“, statt Reue über die verpatzte Prüfung gibt’s ein freches „lecket mich!“.
Philipp Büttner steht in der Titelrolle fast ständig auf der Bühne. Er singt, spielt und leidet durchweg fantastisch. Samtweich klingt sein Tenor bei den langsamen Liedern, bis zur letzten Note mit voller Power schmettert er die vielen schnellen, rockigen Nummern. Wenn Goethe, wo auch immer er sich aufhält, wie getrieben Worte aufs Papier wirft, bei Lottes Verlobung mit Kestner in ohnmächtiger Wut mit der Schreibfeder einen Herzballon zersticht und im Tollkirschenrausch Mephisto entgegentaumelt, vermittelt Philipp Büttner die leidenschaftliche Hingabe des Dichters an die Dichtkunst und die tiefe Verzweiflung über die unerfüllte Liebe zu Lotte so authentisch, dass einem fast der Atem stockt.
Iréna Flury überzeugt ebenfalls auf ganzer Linie. Ihr klarer Sopran bleibt auch in den Höhen angenehm weich, in den druckvollen Passagen beweist sie enormes Stimmvolumen. Flury durchlebt Lottes vielschichtige Gefühlswelt: Theaterbegeistert, immer ein keckes Wort auf den Lippen und bald schon stürmisch-verliebt in Johann, erscheint sie dem Jungdichter wie eine verwandte Seele. Zugleich ist sie aber auch die verantwortungsbewusste älteste Tochter, die sich hingebungsvoll um die kleinen Geschwister kümmert.
Inga Krischke als Lottes älteste Schwester fällt durch schöne Gesangsparts auf. Anton Schweizer und Claudio Gottschalk-Schmidt gelingt nur durch den Wechsel der Kopfbedeckung die überzeugende Wandlung von Jurastudenten zu Lottes kleinen Brüdern und zurück. Tief berührend spielt und singt Iréna Flury das Solo „Irgendwann“, als sie sich den Verzicht auf eine Liebesbeziehung mit Johann und die Vernunftehe mit Kestner schönredet.
„Sprühender Kopf, sensible Natur“, so beschreibt Kestner Goethes Wesensart. Auch wenn der konservative Jurist nicht ganz versteht, was seine Lotte so anziehend an diesem seltsamen Vogel findet, bedient er sich gerne dessen sprachlicher Fähigkeiten, um einen überzeugenden Heiratsantrag zu formulieren. Als ihm klar wird, dass Goethe ihm Lotte tatsächlich abspenstig machen könnte, ist es schnell vorbei mit der aufgesetzten Freundlichkeit.
Christof Messner spielt die kühle Überlegenheit des selbstbewussten Johann Christian Kestner hervorragend heraus und gibt seinem Bühnencharakter auch den leicht verschlagenen Touch, der sich offenbart, als Kestner Goethe mit einem fingierten Duell in eine Falle lockt. Duelle waren damals schon verboten. Goethe landet im Gefängnis und kann so Kestner nicht mehr in die Quere kommen. Im Bewusstsein seiner Position ist sich Kestner mit Lottes Vater vollkommen einig, dass er der beste Ehegatte für sie ist.
Auch Detlef Leistenschneider hat als Lottes Vater großes Interesse daran, seine Tochter als Ehefrau eines wohlsituierten, angesehenen Bürgers gut versorgt zu wissen. Ihn treibt jedoch nicht Kalkül, sondern die feste Überzeugung, alles zum Besten für sein Kind zu regeln. „Liebe ist wie Wasser“ singt Leistenschneider mit wunderschönem Bariton, zeigt in Spiel und Stimme viel Gefühl und schafft so einen willkommenen kurzen Ruhepol inmitten der turbulenten Ereignisse.
Diese reißen außer Goethe und Lotte auch den jungen Juristen Wilhelm Jerusalem mit. Jonas Hein brilliert als Goethes Kollege und Freund, der sich ebenfalls in eine bereits vergebene Frau verliebt. Nach einer kurzen Affäre entschließt sich „Rotschopf“, treffend charakterisiert von Karen Müller, zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Anders als Goethe, der in der Dichtung ein Ventil für seine Gefühle findet, wählt Wilhelm Jerusalem den Freitod. Nach ausufernd-wilden Szenen auf dem Studentenfest und dem Jahrmarkt der Halluzinationen, in denen Jonas Hein mit purer Spielfreude und starker Stimme mit Philipp Büttner gemeinsam glänzt, beherrscht er auch die leisen Töne. Nicht alles im Musical „Goethe!“ ist historisch korrekt, aber dieser Suizid beruht auf Tatsachen und diente Johann Wolfgang von Goethe als reale Vorlage für Werther.
Wo Goethe ist, darf der teuflische Gegenspieler nicht fehlen. Was beginnt mit fröhlicher Jahrmarktsmusik und einem Ensemble, das mit Pferdeköpfen an langen Stangen eine gelungene Illusion eines Karussells bildet, endet in einem schaurig-schrillen Alptraum. Mischa Mang zieht mit Hörnern, Maske und knallrotem Zottelumhang alle Register und gibt mit brachialer Stimmgewalt und expressivem Spiel einen wahrhaft furchteinflößenden Mephisto. „Es geht um Euch und mich, um Eure Entscheidung“, sagt Mischa Mephisto Mang und lächelt diabolisch.
Und wie sich Faust zwischen Liebe und Weisheit entscheiden muss, so muss Goethe zwischen dem Mut zur eigenen Entscheidung und dem einfachen Weg des geringsten Widerstands wählen. Wenn Mephisto offenbart, „nur um der Zerstörung allein“ Herr dieser Welt zu sein, ist es nicht weit zum Geist, der stets verneint.
Da sind die Parallelen zum Fräulein, das keines ist und zur inneren Unruhe, die der junge Goethe und Faust gemein haben, gleich viel weniger verstörend. Die Anspielungen auf die „Faust“-Tragödie sind im Musical „Goethe!“ allgegenwärtig. Das ist folgerichtig, entstanden doch der Urfaust und die Werther’schen Leiden zu gleicher Zeit.
Nun setzt natürlich nicht jeder Dichter seinen Liebeskummer in einen Briefroman um, der zu einem epochalen Werk der Literaturgeschichte wird. Aber zweifellos gibt es quer durch die Zeiten und in allen Kunstformen immer wieder besondere Glanzlichter. Mit dem Musical „Goethe!“ erlebt man ohne jeden Zweifel ein solches Glanzlicht der Musicalgeschichte.
Text: Sylke Wohlschiess
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