Rettet den Ring – oder:
Wie aus einem Showabbruch das Event des Jahres wurde
11.10.2018 - „Der Ring - das Musical“ - Festspielhaus Füssen - konzertante Show
„Was die Macht aus den Menschen macht hat mich richtig hochgebracht“… rumms. Chrrrum. Wummmms. DAS war jetzt aber nicht das Schlagzeug, oder? Irritation im Publikum. Dort oben, wo in gerader Linie Scheinwerfer an einer Eisenstange befestigt sind, die Alberichs unterirdisches Nibelheim in schaurig-unheilvolles Licht tauchen, leuchtet es nur noch teilweise. Oh weh. Mein Sitznachbar schaut schon skeptisch Richtung Schnürboden. Auch ein, zwei der fantastischen Tänzer werfen jetzt einen Blick nach oben und alle sehen, wie der blaue Schwanenvorhang auf halbe Höhe fährt. Irritation auf der Bühne. Und vermutlich vor allem dahinter.
Denn was am 7. Oktober 2018 nachmittags gegen 15 Uhr bei der dritten Füssener Vorstellung von „Der Ring – Das Musical“ passierte, war eine technische Panne, die leicht hätte noch viel schlimmer ausgehen können. Was aber dann geschah, wird in die Geschichte von Ludwigs Festspielhaus eingehen als der – pardon – geilste Showabbruch aller Zeiten.
Doch der Reihe nach: Als der Vorhang ganz fällt und kurz darauf das Licht im Saal angeht, ist schon klar, dass die Show jetzt wirklich richtig unterbrochen werden muss. Theaterdirektor Benjamin Sahler schickt das Publikum in eine 15-minütige Pause, aus der wir nach 30 Minuten wieder hereingeläutet werden. Der Vorhang bleibt unten und davor treten Sahler und Festspielhaus-Geschäftsführerin Birgit Karle. Klar, dass jetzt keine guten Nachrichten kommen:
Zwei Lichtzüge sind ineinander gekracht, die Befestigungsstange ist gebrochen und (zum Glück) in die Sicherungsseile gefallen. Wie gut, so Benjamin Sahler, dass an deutschen Theatern alles doppelt gesichert sein muss. In solchen Momenten weiß man, wofür das gut ist. Niemand ist zu Schaden gekommen, aber wenn lose Kabel von der Decke hängen, ist an ein Weiterspielen nicht zu denken.
Das ist bitter. Für die Darsteller und Musiker, die eine tolle Show abliefern wollten und für das teils von weither angereiste Publikum, das sich auf eben diese gefreut hat. Benjamin Sahler bietet eine großzügige Regelung an: Die Tickets können entweder für eine der Folgeshows umgetauscht oder erstattet werden. Und ein Freigetränk gibt’s heute auch noch. Aber zu Ende ist der Festspielhaus-Nachmittag trotzdem noch nicht. Die Künstler haben sich bereit erklärt, die wichtigsten Songs aus „Der Ring – Das Musical“ in konzertanter Form zu präsentieren, damit man zumindest einen Eindruck mitnehmen kann und nicht ganz vergebens heute an den (übrigens wieder fast vollen) Forggensee gekommen ist.
Alles klar, dann singen die jetzt drei, vier Titel und das war's. Wohl dem, der nächstes Wochenende nochmal Zeit hat. Ich gehöre leider nicht dazu. Da muss ich nämlich die „Ring“-Rezension schreiben, 250 Bildzeilen texten und ein Interview vom Band aufs Blatt bringen (is‘ klar, ich hab’s jetzt verraten, was demnächst auf MusicalSpot.de kommt). Zum Glück war ich schon bei der Premierenshow, weiß also, was ich jetzt nicht sehe. Was aber weder ich noch die übrigen ca. 794 Gäste wissen, ist, was Anke Fiedler, Christopher Brose, Jan Ammann, Kathy Savannah Krause, Stefanie Gröning, Kristin Backes und – last but not least – Chris Murray jetzt gleich abliefern werden.
Meine Güte, seit 35 Jahren gehe ich in Musicals und Rockkonzerte, war in Japan auf Aerosmith-Tour, habe weltweit über 70 Bon Jovi Konzerte erlebt und David Garrett auf einer Release-Party aus 10 cm Entfernung beim Geige spielen bewundern dürfen, ganz zu schweigen von den vielen grandiosen Musicalaufführungen und -Konzerten. Aber never ever hätte ich für möglich gehalten, dass man ohne Proben, ohne Vorbereitung, ohne irgendwas und nach so einem Riesenschreck die Bühne so dermaßen rocken kann.
Das war nicht einfach nur eine „ganz normale“ konzertante Aufführung - das war ein Happening, ein Megaevent und Oberkracher.
Alberich hat zwar keine Unterwelt mehr, aber was ein richtiger Niblung ist, den schert das nicht. Mit „Macht“ stürmt Chris Murray vor den schwarzen Vorhang und reißt vom ersten Augenblick an alle mit. Klatschen, grölen, rufen – heute ist mal alles erlaubt, was sonst im Musicaltheater nur beim Schlussapplaus geht. Ha. Yes. Endlich können wir mal richtig abrocken – denkt sich auch Jan Wotan Ammann und liefert sich mit Alberich ein hitziges Duell, sorry, Duett. Das Duell kommt später, mit Siggi. Zuerst geigt Brunhild dem „müden alten Tier“ Wotan ordentlich die Meinung – was den eingeschnappten Gott dazu bringt, ihr mal eben die „Göttin von den Augen“ zu küssen.
Damit das heftigst feiernde Publikum auch ohne Wagner‘sche Vorkenntnisse wenigstens ansatzweise auch ein bisschen was von der Handlung mitkriegt, erklären Alberich und Siegfried gerne zwischendurch, was los ist. Nachdem der böse Wotan dem Kleinen hinterlistig den Ring abgeluchst hat, baut der auf Rache sinnende Zwerg seine „Ringrückholmaschine“. „Leider“ – bedauerndes Grinsen – „ist der Siegfried ein bisschen fettleibig geraten“. Protestlaute vom Bühnenrand, wissendes Kichern der „Ring“-erprobten Damenwelt.
Siegfried alias Christopher Brose legt leichtsinnigerweise schon vor dem Drachenkampf die Rüstung ab. Aber - hallelujah Baby, DAS ist mal ein Body – der Drache kapituliert vor so viel geballter Muskelkraft. Das riesige Untier wird normalerweise von mehreren Darstellern sehr effektvoll zusammengesetzt, auf der schmalen Vorbühne geht das natürlich nicht. Siegfried Ch. Brose demonstriert aber mal eben das Feuerspeien und Augenglimmen am Drachenkopf. Wow – unter den Umständen dem Vieh tatsächlich den Ring zu entreißen, war schon eine reife Leistung. Leider funktioniert das blöde Ding nicht. Aber gar kein Problem, wenn man einen Gott in der Hinterhand hat, der einem den Ersatzring anreicht. Leute, ich KANN nicht mehr. Auch die nette junge Frau neben mir hält sich hilflos vor Lachen an ihrem Begleiter fest.
„Pass auf, Du Warmduscher“ - freundliche Worte des Vaters (der zugleich Mutter ist) an den Sohn - „jetzt sei ein guter Bub und GIB MIR DEN RING.“ Renitent, wie der Nachwuchs nun mal ist, weigert der sich. „Nein“. „Doch.“ „Oooh“. Diese Worte wird wohl keiner vergessen, der dabei war. Denn wir vor der Bühne dürfen jetzt auch mitspielen und als „Oooh-Chor“ an jeder auch nur einigermaßen passenden Stelle die Darstellerriege ergänzen. Das klappt wie abgesprochen. Wie überhaupt alles an diesem Nachmittag.
Es ist unfassbar, wie diese grandiose Cast und die Musiker Dr. Konstantinos Kalogeropoulos, Stefan Engelmann und Stephan Schuchardt unter Leitung des Komponisten Frank Nimsgern aus einer Panne eine phantastische Reise durch Ober- und Unterwelt machen.
Denn eins darf man bei aller Ausgelassenheit auf und vor der Bühne nicht außer Acht lassen: Die gesanglichen Leistungen sind brillant. Einfach brillant. Da wird nicht etwa auf Ersatzshow-Sparflamme gekocht, sondern volle Lotte rausgehauen. Bombastisches Stimmvolumen beweist wieder einmal Chris Murray, Christopher Broses kaum endende Schlusstöne lassen einen fassungslos staunen („muss der auch mal atmen?“), wunderschöne Klangfarben von Jan Ammann entführen ohne jegliche Mühe in göttliche Sphären und Anke Fiedler singt so traumhaft und ausdrucksstark, dass ihr Platz in Walhall gesichert sein sollte.
Ihre Rheinamazonen- Schwestern („Stiefschwestern“ – sorry, Brunhild) sind ebenfalls auf der Suche nach dem Ring, um Daddy Wotan wieder zu besänftigen. Kaum der Unterwelt entstiegen – sprich, kaum elegant vom Orchestergraben am Gitarre spielenden Musikalischen Leiter Frank Nimsgern vorbeigeklettert – erinnern sie sich mit Grausen an den eintönigen Speisezettel. Der „Fisch-Rap“ zeigt die vielfältigen Zubereitungsmöglichkeiten von Forelle & Co und Stefanie Gröning, Kristin Backes und Kathy Savannah Krause in Bestform.
Leute, woher krieg ich jetzt ein Fischbrötchen? Oder alternativ doch Currywurst? Na, egal…
… jetzt kriegt erstmal der Siggi mit dem Ring auch noch das Mädel. Siegfried findet sich „echt geil“, und kommt auch bei Brunhild ziemlich gut an. Aber gleich diese Knutscherei? „Schande. Pfui.“ tönt der wütende Wotan von der Seitenbühne. Jetzt mischt sich auch der Alberich noch ein: „Du hast doch gesehen, was die Flachpfeife deinem Vater angetan hat. Schlag ihn toooot.“ Wotan: „HER MIT DEM RING!“ Siggi: „Äh… nein.“ Wotan: „DOCH!“ Alberich mit Publikumschor: „Oooh“.
Mal ehrlich, sowas kann sich der beste Regisseur der Welt nicht ausdenken, sowas passiert nur unter ganz besonderen Konstellationen. Alberich ist vielleicht nicht der Mann für eine Sekunde, aber Chris Murray ist definitiv der Mann der Stunde. Der Sternstunde, zu der diese Panne auch dank seiner großartigen Entertainerqualitäten wurde. Dabei ergänzen sich Murray und Brose so perfekt, als hätten sie’s tagelang geprobt: Während Christopher Brose das „Stück erklärt“, wirft Murray-Alberich den nächsten Gag ein, was seinen Kollegen immer wieder zu einem verzweifelten „Bitte, kommen Sie wieder!“ Richtung Auditorium veranlasst.
Klar, Siggi, wir kommen wieder. Ehrensache.
Auch wenn ich das jetzt nicht so gut finde, dass du dich von deiner Holden gleich so manipulieren lässt, dass du Daddy Alberich totschlägst. Mal ehrlich – so schlimm war er ja auch wieder nicht. Aber auch Wotan hat ja dank seiner mordlustigen Tochter nicht überlebt. Hm. Was soll man dazu sagen? Hätte man den Göttervater nicht lieber noch ein Solo singen lassen können, statt ihm gleich den Garaus zu machen?
Aber wir sind hier nicht bei wünsch-dir-was sondern bei so-isses. Gewünscht hatten wir alle uns eine gute Musicalshow. Bekommen haben wir ein einmaliges Erlebnis. Ein Highlight. Und was mich betrifft: Ich will weder das Ticket tauschen noch mein Geld zurück. Dieses unbeschreibliche Geschehen in Ludwigs Festspielhaus war jeden Cent wert. Das ist nicht wiederholbar, klar. Aber wie wär’s denn mal mit ein paar konzertanten Events (geplant und ohne die Technikpanne natürlich)? Ich wäre dabei. Wer noch?
Text (der keine Rezension ist): Sylke Wohlschiess
Hat das Lesen Spaß gemacht? Dann gibt's ganz unten noch ein paar Fotos und vorher freuen wir und Michi Böhmländer uns über Eure „gefällt mir's“ für unsere FB-Seiten: MusicalSpot und Michael Boehmlaender Photography.
Mehr zu „Der Ring – Das Musical“ auf MusicalSpot.de:
Darstellerprofil Chris Murray (dort weitere links zu Rezensionen von Stücken und Konzerten mit Chris Murray)
Fotos und ausführlicher Bericht von der Pressekonferenz des Festspielhauses Füssen
Und nun: Fotos des konzertanten Megaevents „Der Ring – Das Musical“ - bitte hier entlang!