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Konzert - Rezension "Spürbar" in Pforzheim
Er ist der Erste, der sich am 25. Mai 2013 im Theater Pforzheim über wahre Begeisterungsstürme freuen darf: Wolf Widder. Der "Dracula"-Regisseur verrät den "Champions-League-Flüchtlingen", dass der untote Blutsauger im Herbst wieder sein Unwesen in Pforzheim treiben wird. Einen besseren Startschuss für das zweite "Spürbar"-Konzert mit fünf Hauptakteuren des Stücks kann es kaum geben. Neben Yvonne Luithlen, Femke Soetenga und Chris Murray kann jetzt auch der beim ersten Termin erkrankte Thomas Christ die Kamera wieder gegen das Mikrofon eintauschen. Jon Geoffrey Goldsworthy vervollständigt die erstklassige Künstlerriege.
"Another Op'nin, another Show" aus "Kiss me, Kate" holt gleich zu Beginn alle Fünf auf die Bühne – und da bleiben sie auch während der ganzen Show. Denn wer gerade nicht selbst singt, nimmt auf einem der seitlich am Bühnenrand aufgestellten Sofas Platz. Da wird mitgeklatscht, leise getuschelt, mit witzig-charmanten Frotzeleien die Anmoderationen der Kollegen unterbrochen und auch mit dem Publikum geschäkert. Eine besondere Stimmung ist sofort greifbar, sofort spürbar. Im ausverkauften Theater entsteht eine fröhlich-entspannte Wohnzimmeratmosphäre, Künstler und Besucher rücken dicht zusammen.
Das ist durchaus wörtlich zu nehmen: Der Orchestergraben ist abgedeckt, dort agieren die Band, die Backgroundsängerinnen "Angels & Vamps" und die Solisten. Die ersten Reihen sind kaum ein paar Zentimeter entfernt. Zudem gibt es auf der Bühne Sitzplätze für einige Zuschauer, die das Geschehen aus ganz anderer Perspektive verfolgen können. Eine von den Sängerinnen und Sängern bediente Kamera wirft – meistens, leider klappt das nicht immer – Bilder des Geschehens an die Seitenwände und den Bühnenhintergrund.
Das gelungene Konzept von Wolf Widder reiht neue und alte, bekannte und unbekanntere, amüsante und dramatische Lieder aneinander, darunter viele aus Produktionen, in denen die Solisten des Abends schon gespielt haben. Musicalkenner finden selten gehörte Perlen wie "Leah" und "Sie schlagen ihre Türen zu" aus "Shylock!", aber auch immer wieder gern Gehörtes von "Totale Finsternis" bis "Gethsemane" fehlt nicht. Popsongs, zum Beispiel "Celebration" von Kool & The Gang, runden das Programm ab. Die Mischung aus Solostücken und Duetten ist ausgewogen, alle fünf Künstler kommen gleichermaßen zum Zug, wenngleich man sich auch ein, zwei Duette mit Beteiligung von Jon Geoffrey Goldsworthy gewünscht hätte.
Kraftvoll und zugleich samtweich intoniert Goldsworthy "Luck be a Lady" aus "Guys and Dolls" und "Being alive" aus Sondheims "Company" und überzeugt mit seiner wunderbar warmen Baritonstimme. Zum erfrischend entstaubten Klang tragen auch die Arrangements von Guido Löflad bei, bei denen häufig sehr pointiert einzelne Instrumente eingesetzt werden, die den Liedern die richtige Klangbreite verleihen. Löflad als Musikalischer Leiter bietet zusammen mit seiner Musical-Allstars-Band den durchweg grandiosen Sängerinnen und Sängern eine ebenso hervorragende musikalische Begleitung, egal, ob Melodram oder Lustspiel.
"Ich fang' gleich mit dem dramatischen Teil an" erklärt Femke Soetenga. Und von einem Augenblick zum nächsten wird aus der lustig-frechen Entertainerin, die ihr Publikum mit unverwechselbarem Charme um den Finger wickelt, die alte Katze Grizabella, die ihren Erinnerungen nachhängt. "Memory", vielleicht in zu vielen Galas schon etwas zu oft gesungen, bekommt durch Soetengas makellosen Sopran und ihre Mimik und Gestik eine sehr authentische, anrührende Note. Stimmlich brillant und mit perfekter schauspielerischer Untermalung zeigen Femke Soetenga und Duettpartner Chris Murray sich auch bei "Sind die Sterne gegen uns". In einem durchweg beeindruckenden Konzert wird dieses Liebeslied aus "Aida" zu einem der ganz großen Momente.
Einen weiteren Glanzpunkt setzt Chris Murray mit seiner Interpretation von "Gethsemane". "In der Bibel braucht es nur einen Satz, um die Situation zu beschreiben", erklärt Murray. Und fügt mit Augenzwinkern hinzu, dass einmal, nach einer Aufführung von „"esus Christ Superstar", einige kirchentreue Damen "zehn Lieder brauchten, um wieder Liebe in Jesus zu kriegen". Die Darstellung der Seelenqualen, der Todesangst, des Nicht-Verstehens und auch der Wut, die Jesus durchlebt, ist Murray wichtig und gelingt fast beängstigend real. Er lässt das Publikum atemlose Spannung erleben, und durch die Kombination seines klassisch geschulten Tenors mit Rock-Falsett von unglaublicher Höhe ist auch die stimmliche Interpretation absolut faszinierend. Zu Recht erhält Murray spontan stehende Ovationen. Da verzeiht man auch gerne die Textpatzer beim Vampirblock.
Bei "Totale Finsternis" lässt sich Yvonne Luithlen als text- und stimmsichere Sarah von Krolock-Murray verführen. Besonders schön zur Geltung kommt Luithlens Sopran bei "Die Wahrheit" aus „Aida". Die zarten Töne wachsen mit wunderbarer Klangfarbe zu einem voluminösen Crescendo an und ihre Blicke vermitteln eindringlich die Verzweiflung der Pharaonentochter Amneris, als diese erkennt, dass Radames in Wahrheit eine andere liebt. Eine gelungene, sehr emotionale Vorstellung, ebenso wie ihr nicht minder bewegendes "Nur für mich" aus "Les Misérables". Dass Yvonne Luithlen auch in rockigen Nummern eine gute Figur macht, zeigt sie im Duett mit Thomas Christ bei "I want it all" aus "We will Rock you".
Thomas Christ hat es an diesem Abend wahrlich nicht leicht, muss er doch immer wieder kleine Kollegen-Späße auf seine Kosten ertragen. Christ nimmt's mit Humor und bietet Soetenga kräftig Paroli bei "Alles, was du kannst, kann ich viel besser" aus "Annie get your Gun". Im Publikum hat er die Lacher auf seiner Seite, als er in launigen Worten erzählt, wie er sich beim Vorsingen für "Jekyll & Hyde" um einen Monat im Termin vertan hat. Aber auch er weiß sich dann in wenigen Augenblicken ganz in ein Lied fallen zu lassen und gibt "This is the Moment" voller Hingabe und mit nuancierter Stimme, die sowohl in den leisen als auch in den voluminösen Passagen absolut überzeugt.
Femke Soetenga, Yvonne Luithlen, Thomas Christ, Jon Geoffrey Goldsworthy und Chris Murray präsentieren sich in stimmlicher Höchstform. Die Moderationen nutzen die Künstler nicht nur für einige willkommene Erklärungen zum Kontext der ausgewählten Lieder, sondern bringen dabei auch auf sehr angenehme, natürliche Art und Weise ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten ein. Die fast familiäre Atmosphäre verbindet Akteure und Publikum und macht den Abend "spürbar" zu einem ganz besonderen Erlebnis.
Text: Sylke Wohlschiess
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