Rasante Inszenierung:
Rezension „Tommy" in Pforzheim
„See me, feel me, touch me, heal me" sind Worte, die vermutlich so ziemlich jeder Rockfan kennt. Erdacht und musikalisch umgesetzt hat sie Pete Townshend, Gründungsmitglied und bis heute kreativer Kopf der britischen Rockband The Who, für das bereits 1969 erschienene Konzeptalbum „Tommy". Auch die 1978 bzw. 2002 verstorbenen Bandmitglieder Keith Moon und John Entwistle steuerten einige Songs bei. 1975 folgte der gleichnamige Film, aber bis ins Jahr 1993 sollte es dauern, bis das Stück mit Des McAnuff als weiterem Librettisten als Musical umgesetzt und am Broadway uraufgeführt wurde. Derzeit heißt es am Stadttheater Pforzheim „Come on the amazing Journey".
Friedrich Rau in der Titelrolle
Und fantastisch von der ersten bis zur letzten Minute ist Kai Hüsgens rasante Inszenierung der zugleich schrillen und beklemmenden Geschichte um einen schwer traumatisierten Jungen. „Du hast nichts gesehen" beschwört Mrs. Walker ihren 10-jährigen Sohn Tommy, als der völlig unerwartet aus dem Krieg heimgekehrte Captain Walker ihren Liebhaber umbringt.
Tommy fällt in völlige Apathie, lässt willenlos unzählige Arztbesuche und die abwegigsten Therapieversuche über sich ergehen. Blind, taub und stumm, wird er zum wehrlosen Opfer familiärer Gewalt. Erst als sein geradezu unheimliches Talent am Flipperautomaten zum Vorschein kommt, kann er sich aus seinem Gedankengefängnis befreien. Doch die Probleme sind damit noch lange nicht gelöst.
Der Einstieg in das schillernd-schockierende Geschehen wirkt durch die unfassbar schnellen Szenenwechsel wie eine Diashow mit Überblendtechnik: Eben noch dreht sich alles auf der Hochzeit der Walkers tanzend im Kreis, dann flirren Suchscheinwerfer auf und Captain Walker entschwindet vom Hochzeitsbett direkt in die Kriegswirren. Die Tragfläche eines Kampfflugzeugs, eine blau angestrahlte Wand, darauf projiziert die Schattenumrisse der Fallschirmjäger, die von einem Podest am hinteren Bühnenrand in scheinbar endlose Tiefe springen – die meisterhafte Verbindung von Lichteffekten (Andreas Rinkes) und Videoprojektionen (Tai Zheng) lässt ein ungewöhnlich intensives Bilderlebnis entstehen, das bis zu „It's a Boy", Tommys Geburt, nur mit tonaler Untermalung auskommt, ohne jegliche gesprochenen oder gesungenen Texte. Immer wieder erzeugen Licht- und Videoregie einen Perspektivenwechsel, der die Dynamik noch verstärkt. Mal sieht sich der Zuschauer als Teil der Menge, die dem flippernden Tommy zujubelt, mal schreitet er gleichsam als Teil des „Pinball Wizard" in eine überdimensionale Projektion eines Flipperautomaten.

von links: Andrea Matthias Pagani (Captain Walker), Claudia Dilay Hauf (Mrs. Walker), Patrick Nitschke (Assistant), Lilian Huynen (Doctor), Friedrich Rau (Tommy), Johan Vandamme (Reporter)
Die Thematik von seelischem Schock über Kindesmisshandlung bis hin zu Kindesmissbrauch ist alles andere als leichte Kost, umso mehr Anerkennung verdient der 12-jährige Laurin Gallenbach, der den anspruchsvollen Part des kleinen Tommy wie ein erfahrener Profi meistert. Als er den Mord im Spiegel mitansieht, bleibt er stocksteif stehen, verkrampft die Finger und blickt fortan ins Leere. Egal, was die Erwachsenen mit ihm anstellen, ob in bester Absicht wie seine Eltern oder mit widerwärtigen Vorhaben wie Cousin Kevin und Uncle Ernie - keinerlei Mimik schleicht sich in seine Züge, keinen Schritt tut er aus eigenem Antrieb. Umso eindringlicher ist deshalb, wie er mit einem vorsichtigen Lächeln zaghaft die Hände zu seinem im Spiegel erscheinenden älteren Ich ausstreckt und sich von ihm führen lässt. Auch sein stimmlicher Einsatz gelingt einwandfrei und wenn es gegen Ende das Kind Tommy ist, das den Erwachsenen an die Hand nimmt, zeigt sich, dass der junge Darsteller schauspielerisch mit dem hohen Niveau seiner Kolleginnen und Kollegen sehr gut mithalten kann.

Lilian Huynen brilliert als Acid Queen
Friedrich Rau in der Titelrolle agiert im ersten Akt eher verhalten. Dies ist durchaus stimmig, denn er erscheint noch nicht in persona, sondern dient nur seinem kindlichen Ich als gedankliche Zuflucht vor psychischen und physischen Qualen. Erst wenn der zerschmetterte Spiegel den Bann bricht, dreht Rau richtig auf: Mit energiegeladenem Tenor, irgendwo zwischen Pop und Rock, singt er ein mitreißendes „I'm free". Er springt von der Bühne, turnt quer durchs Publikum und macht zweifelsfrei klar, dass der „Pinball Wizard" endlich wieder so lebendig ist, wie alle anderen. Die Fanmeute allerdings versteht nicht, dass der angebetete Star einfach nur normal sein möchte und lässt ihn fallen. Mit der großartigen Ensemblenummer „We're not gonna take it" beweisen alle Solisten, Ensemblemitglieder und der Extrachor des Theaters Pforzheim Ausdrucksstärke und Stimmpower.

Friedrich Rau (Tommy) mit dem Ensemble
„Tommy" verbindet zeitlos gute Rockmusik mit inhaltlichem Anspruch und prangert Missstände an, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. Die hervorragende Leistung des Kreativteams und die überzeugende Cast machen die Pforzheimer Inszenierung zu einem must-see. Oder in Tommys Worten: „See me, feel me, touch me, heal me". Denn immer noch ist Gewalt gegen Kinder ein Thema, das lebenslange leidvolle Konsequenzen für die Opfer bedeutet. Lobenswert deshalb, dass im Programmheft auch die Adresse einer entsprechenden Beratungsstelle abgedruckt ist.
Text: Sylke Wohlschiess
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