Interview mit Wolf Widder:
Wanderer zwischen den Welten
Seine Inszenierung von Frank Wildhorns Musical „Dracula" zieht seit Anfang 2013 die Musicalbegeisterten aus ganz Deutschland an das kleine Pforzheimer Stadttheater. Im Interview spricht Operndirektor Wolf Widder über die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von Stadttheater, über Buslinien und Kugelblitze.
Jede „Dracula"-Vorstellung ist ausverkauft, eine Zusatzshow nach der anderen wird angesetzt. Ist dies einer der größten Erfolge am Theater Pforzheim?
Dass wir ein Stück in die dritte Spielzeit nehmen müssen, ist für unser Haus absolut ungewöhnlich. Ich weiß von keiner anderen Produktion, bei der dies so war. „Dracula" ist sicher der größte Erfolg meiner Ära und einer der größten Erfolge, seit das Theater überhaupt besteht.
Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?
Nö! Ich glaube an das Stück, wenn ich es mache. Dann muss es ohne mich leben. Nichts ist so unberechenbar wie ein Publikum. Ich kann nicht einfach die „Zutat Femke" und die „Zutat Chris" nehmen, drei Mal umrühren und einen sicheren Erfolg erwarten. Das würde wahrscheinlich schief gehen. Unser Erfolg hat wohl auch damit zu tun, dass in den großen Stuttgarter Musicaltheatern momentan keine dramatischen Stücke laufen und in den Stadttheatern nur musikalische Komödien. Wir sind fast das einzige Stadttheater weit und breit, das überhaupt Musicals macht. Es gibt noch einen Grenzbereich, in den ich beispielsweise auch „Into the Woods" ansiedle, also eher Theater mit Musik. Solche Schauspiel-Musicals macht das Badische Staatstheater in Karlsruhe gern.
Nach welchen Kriterien haben Sie „Dracula" ausgewählt?
Erstens mag ich Frank Wildhorn. Seine Musik ist für mich große Oper, die Kompositionen sind sehr groß angelegt. Zweitens ich mochte den Bram Stoker Roman schon immer. Und drittens finde ich, dass Christopher Hampton eine gute Adaption des Stoffes mit einem sehr schönen Ende gelungen ist. Im Roman bleibt Dracula ja der Böse, im Musical dagegen macht er eine Entwicklung durch. Dieser Untote besinnt sich plötzlich auf etwas, das er in den Ewigkeiten, die er schon durch die Welt geistert, immer vermisst hat. Das gefällt mir sehr. Hampton ist ein großartiger West-End-Theaterautor, ich kenne andere, supergute Stücke von ihm aus den 1970er-Jahren. Das machte mich sowieso schon neugierig. So kam eines zum anderen. Und dann gibt es in „Dracula" natürlich Bombenrollen für Leute, die ich aus meiner Zeit an der Staatsoperette Dresden kenne und schätze, wie Chris Murray und Femke Soetenga. Die wieder zusammenzutrommeln, war toll.
Wer entscheidet über die Besetzung der Rollen?
Das letzte Wort habe ich als Operndirektor, aber natürlich reift die Entscheidung im Team. Bei den Auditions sind immer der Generalmusikdirektor mit seinen Musikern und der Kapellmeister dabei. Mir ist der Familiengedanke wichtig, das heißt, ich arbeite immer wieder gerne mit Leuten, die ich schon kenne. Das ist vor allem dann von Vorteil, wenn man von der ersten Stellprobe bis zur Premiere nur sechs Wochen Zeit hat. Ich muss acht Premieren im Musiktheater pro Spielzeit auf die Bühne bringen. Deshalb können wir nicht einfach mal drei Monate proben, sondern der Produktionszyklus muss eingehalten werden, sonst bricht hier alles zusammen. Wir sagen immer schon scherzhaft, dass bei uns eine Premiere eine Störung des Betriebsablaufs mit Besäufnis ist (lacht). Ja, das kann man ruhig so schreiben.
Je bekannter die Darstellerinnen und Darsteller sind, desto schwieriger wird es natürlich, überhaupt Termine zu finden. Bei „Dracula" hat der Chefdisponent echt graue Haare bekommen, bis wir die Termine gefunden hatten, die wir jetzt anbieten können. Unsere Künstler sind gut im Geschäft. Und so soll das ja auch sein.
Sie „mischen" Darsteller, die fest am Haus engagiert sind, mit Gästen aus dem Musicalbereich.
Meiner Meinung nach sollte ein Ensemble so breit wie möglich aufgestellt sein, deshalb handhabe ich das in der Tat gerne so. Als Chef muss man sehr integrativ sein, man muss die Leute zusammenführen. Das Team muss sich beschnuppern, muss gegenseitigen Respekt entwickeln und die Arbeit des anderen schätzen. Das sind für mich Grundvoraussetzungen der Theaterarbeit. Meistens klappt das und dieser Aspekt meiner Arbeit macht mir unglaublich viel Freude. Außerdem glaube ich, dass es auch den klassischen Sängern oft gut zu Gesicht steht, in einem Musical dabei zu sein. Viele haben Spaß daran. Früher mussten zuerst alle Leute vom eigenen Haus im Musical mitmachen, erst dann hat man sich nach Gästen umgesehen. Das funktioniert so heute nicht mehr. Der Markt hat sich sehr spezialisiert. Die professionellen Anforderungen sind höher geworden, was ich auch richtig finde. Früher gab es Operettenensembles, die auch in der großen Oper sangen, aber hauptsächlich für die Operetten engagiert wurden. Ich kann mir gut vorstellen, dass eines Tages die Stadttheater eben ein Musicalensemble haben, wie es beispielsweise an der Landesbühne Hannover schon der Fall ist. Das könnte eine Pflanzschule für junge Talente sein, die sich durch eine stetige Arbeit ein Repertoire erarbeiten, dann die nächsten Schritte machen und sich auf dem Markt behaupten könnten.
Wie geht man eigentlich vor, wenn man als Stadttheater ein bestimmtes Stück aufführen möchte?
Zuerst muss man sich um die Rechte bemühen. Das läuft immer über darauf spezialisierte Verlage. Mr. Wildhorn hätte sicher keinen Bock, mit jedem Theater über Tantiemen zu verhandeln. Die Verlage müssen in das Stück investieren, sie sind beispielsweise verpflichtet, aufführungsfertiges Notenmaterial zur Verfügung zu stellen, was sehr teuer ist. Dafür haben sie das Recht, uns das Material zu leihen. Käuflich erwerben kann man es nicht. Wir als Theater bekommen dann das Recht, das Musical aufzuführen, der Verlag kassiert die Tantiemen und leitet diese an die Rechteinhaber weiter. Bei manchen Stücken ist der Ablauf problemlos, bei anderen ist es schwierig. Bei „Les Misérables" zum Beispiel achten die Rechteinhaber sehr genau darauf, dass mit ihrem Stück nichts passiert, von dem sie nicht glauben, dass es richtig ist. Hier muss man vorher das Inszenierungskonzept einreichen, dann erst entscheidet der Verlag, ob man die Rechte bekommt oder nicht. Es kann auch passieren, dass man schon mitten in der Arbeit ist, haufenweise Verträge geschlossen hat und dass dann der Verlag sagt „nee, gefällt uns nicht". Bei meiner Inszenierung in Lübeck fanden sie die Lampen in der Fabrikszene „not appropriate", also nicht angemessen. Nicht angemessen heißt aber nicht, dass sie es mir verbieten, also haben wir die Lampen benutzt. Aber mit solchen Schwierigkeiten muss man rechnen. Das Urheberrecht ist ein interessantes Recht mit vielen Loopings und Fallen. Es gibt die sogenannte festgelegte Titelei, die genau regelt, in welchem Größenverhältnis zueinander der Name des Musicals und die Namen der Komponisten, Texter und anderer Verantwortlicher abgedruckt werden müssen. Bei vielen Musicals wird zudem noch genau geprüft, ob irgendwo eine kommerzielle Tournee läuft. Während dieser Zeit und in dieser Region wird man die Rechte für bestimmte Stücke dann eher nicht bekommen. In der Regel frage ich als erstes die Verlagsleiter, ob das Stück, das ich auf die Bühne bringen will, überhaupt frei ist. Und falls nicht, muss ich eben anders planen. Wenn man die Rechte bekommen hat, stellt man das Team zusammen, Ausstattung, Kapellmeister und so weiter, dann erarbeitet man das Konzept.
Wie sind Sie konkret an „Dracula" herangegangen?
Dieses Stück muss man sehr strukturiert angehen, denn es hat viele aufeinander folgende Bilder. Man kann nicht einfach wild im Nebulösen umher schießen. Wir wollten, dass alle Szenen traumähnlich ineinander übergehen, deshalb war eine Bühne nötig, die permanent verwandelt werden kann. Über die Gedanken zum Bühnenbild kamen wir dann zu ästhetischen Überlegungen. Mir war wichtig, die Geschichte im 19. Jahrhundert zu belassen, weil ich finde, dass das einen unglaublichen Charme hat. Diese tolle Männergarderobe würde ich am liebsten auch privat tragen. Wenn man also diese Rahmenbedingungen festgelegt hat, arbeitet man an der Strichfassung. Man kann selten ein Stück in voller Länge spielen, das würde drei, vier Stunden dauern. Das heißt, man prüft die Dialoge: wo sind sie flüssig, wo rein deskriptiv. Wenn einfach nur erzählt wird, die Dialoge dem Fortgang der Handlung aber nicht helfen, kürzt man. Schnipp-schnipp, raus damit.
War das der Grund dafür, „Roseanne" zu streichen?
Dieses Lied wurde nachträglich hineinkomponiert, um noch eine Motivationsschiene aufzumachen - für eine Figur, die das gar nicht braucht. Im Roman hat Van Helsing keine Roseanne, sondern ist einfach besessen von der Aufgabe, die Welt von Vampiren zu befreien. Das ist viel spannender. Außerdem wollten wir schneller zum Ende hinführen. Das Stück hat zudem sehr viele underscores und Übergangsmusiken, da könnte man sich fast ein bisschen zugedröhnt fühlen. Unser Musikalischer Leiter Tobias Leppert und ich haben sehr gut Hand in Hand gearbeitet, gekürzt, geschnitten, statt neuer Motive lieber einen sich wiederholenden Takt – einen sogenannten Vamp – verwendet. Der Film hat uns ein anderes Sehtempo beschert. Dem müssen wir Rechnung tragen. Wir können mit dem Theater ruhig ein bisschen schneller werden. Es war für mich auch Thema bei „Dracula", dass diese Lawine anfängt zu rollen und weiterrollt.
Der Vampirgraf wird üblicherweise als Fledermaus dargestellt. Sie haben ein anderes Tier gewählt.
Die Ausgangsidee war, dass wir ein gotisches Fenster wollten. Früher konnte man keine großen Glasscheiben herstellen, man setzte größere Glasflächen aus vielen kleinen bleigefassten Scheibchen zusammen. Das wollten wir haben. Dann haben wir einfach ein bisschen assoziiert und über die Rezeptionsgeschichte nachgelesen. Was sind eigentlich Vampire? Woher kommen die? So haben wir festgestellt, dass dieses „Gewürm", wie man früher sagte, also Spinnen, Kröten und so weiter, auch zur Vampirwelt gehören. Nicht umsonst ist Renfield die ganze Zeit mit seinen Insekten zugange. Das gehört einfach zu dieser Welt. Dracula hat eine Affinität zu Spinnen. Aber wir haben ihn auch als Fledermaus, es gibt ja beispielsweise die Szene mit der Vision, in der ein paar Leute kopfüber hängen. Auch mit seinem roten Mantel assoziieren wir „Fledermaus". Wenn ich mich mit einem Stück beschäftige, muss ich mich in die Welt des Stücks begeben, sonst bekomme ich keine Inszenierungsidee. Ich hatte zwar eine Ahnung von Vampiren, aber ich habe ganz von vorne angefangen und völlig neu ausrecherchiert. Nur so kann ich meinen Ideen festen Untergrund geben – nur dann springen sie. Ich bin ein lebenslanger Student. Das ist für mich Regie. Und das ist für mich das Schöne an meinem Beruf.
Sie belassen die Handlung in der viktorianischen Zeit, in der auch Bram Stokers Roman spielt. Dann gibt es plötzlich eine moderne Tanzeinlage.
Ja, sowas kann Stadttheater. Wir haben eine exzellente Truppe, die auf modernes Ballett spezialisiert ist. So eine Truppe kann man an keinem longrun-Theater für Musical casten, aber hier sind diese Tanzprofis verfügbar. Ich liebe die Zusammenarbeit mit unserem Ballettchef James Sutherland. Ihm gelingt es immer, in seiner Sprache einen eigenständigen Kommentar zu den Ereignissen im Stück zu erschaffen. Bei „Dracula" bereichert das meine Inszenierung, in der nächsten Spielzeit werden wir bei „Chess" das Ballett sogar noch mehr mit der Handlung verzahnen. Die drei Schachpartien werden tänzerisch dargestellt. Und da keiner weiß, wie sich Schachfiguren bewegen, gibt es keine Erwartungshaltung. Na gut, der Turm geht gerade und der Springer hopst nach rechts oder links. Aber sonst ist man völlig frei. Das wird spannend.
Inwieweit darf man eigentlich solche Elemente einfügen oder Änderungen vornehmen?
Man muss eine Strichfassung machen können, wenn das nicht mehr geht, muss man das Stück sein lassen. Ich brauche schon die Freiheit zu entscheiden, was für die Gegebenheiten an meinem Theater passt und was nicht. Wenn ich mich von vornherein auf die Originalfassung festlegen soll, würde mich das als Regisseur überhaupt nicht reizen. Da ginge ja auch jegliche Kreativität verloren. Solange man das Stück erzählt, werden auch die Rechteinhaber damit keine Probleme haben. Ich vermute mal, dass die ganze Misere um „Les Misérables" mit einer bestimmten, schon lange zurückliegenden Inszenierung zusammenhängt, die das Stück verscheißert hat. Da sind die Leute einfach misstrauisch geworden, gerade bei den deutschen Stadttheatern, die sich sehr viel künstlerische Freiheiten nehmen. Die Frage, was man darf und was nicht, ist ein weites Feld und muss jedes Mal neu ausgelotet werden.
Dürften Sie eine CD oder DVD von „Dracula" aufnehmen?
Nein. Dafür müsste man die Rechte einholen. Wir haben nur die Aufführungsrechte für eine bestimmte Anzahl an Vorstellungen für einen bestimmten Zeitraum an unserem Haus. Für jede Zusatzshow muss ich die Aufführungsrechte erneut einholen. Der Verlag verlängert natürlich gerne, er verdient ja auch wieder. Aber die Rechte, eine CD oder DVD aufzunehmen, die werde ich als Pforzheim nie bekommen. Wir sind kein Markenname, wie Wien oder St. Gallen oder auch Graz. Über den Wirkungskreis meines Publikums hinaus könnte ich keine Abnehmer finden. Und wir würden unser sowieso chronisch unterfinanziertes Haus mit Kosten belasten. Es ist ja nicht damit getan, im Saal drei oder vier Kameras zu platzieren, sondern es hängt ein Riesenschwanz an Postproduktion daran. Wir haben weder die Möglichkeiten noch die Mittel, ein Produkt herzustellen, das man auch verkaufen kann. Es gibt bei „Dracula" einen sehr treuen Fanblock, Leute, die immer wieder kommen. Sonst hätte ich diese „Spürbar"-Nummer übrigens gar nicht gemacht. Aber auch wenn die alle ein oder zwei Exemplare kaufen, mit 520 Sitzplätzen könnte man eine solche Produktion nicht kostendeckend oder gar gewinnbringend realisieren. Es gab eine Online-Petition und es geisterte auch ein Betrag von Euro 3.000,- durchs Netz. Ich kann nur sagen: Nein, das reicht bei weitem nicht. Damit sind nicht einmal die Rechte der Künstler abgegolten. Die Kosten wären weitaus höher. Außerdem würde uns so ein Projekt auch terminlich lahmlegen. Ich habe heute bis 13.30 Uhr eine Operncollage geprobt. Um 13.30 Uhr wird die Probendekoration ab- und die Abenddekoration aufgebaut und eingeleuchtet. Das ist nicht so wie beim longrun, wo das Ding stehen bleibt und nur ein Linecheck gemacht wird. Bei uns müssen Kulissen und Requisiten für jede Aufführung aus dem Magazin geholt und neu aufgebaut werden, wir fangen jedes Mal von vorne an. Das Haus müsste für eine CD-Produktion mindestens eine Woche lang geschlossen werden, was schon wegen des Abokalenders nicht geht. So leid mir das tut. Mir liegt so viel an dem Stück, aber es ist schlicht und ergreifend unmöglich. Auch ein Wochenende, an dem wir nur unsere aktuell laufenden Musicals spielen, ist an unserem sehr kleinen Theater einfach nicht machbar. Unsere zweieinhalb Soundleute müssten drei Tage und Nächte durchschuften, um alle Acts zu bedienen – was schon allein rechtlich gar nicht erlaubt ist. Mehr Personal haben wir nicht, und Aushilfen kann man bei dieser echt komplizierten Arbeit nicht einsetzen, weil die das Haus, unsere technischen Gegebenheiten und Abläufe gar nicht kennen und deshalb nur Mehrarbeit verursachen würden. Dann ist da wieder das Problem mit unserem Abokalender: Ein verlängertes Wochenende für irgendeine Art von Festival zu sperren, ist nicht drin. Die Baden-Württembergischen Theatertage haben wir nur geschafft, weil wir einfach alle Gastspiele im Schauspielabo angeboten haben. Diese Flexibilität habe ich mit den Musiktheaterabos leider nicht, einige würden dann gar keine Musicals bekommen und andere wahrscheinlich das gleiche Stück zweimal. Das ganze Team – und ich persönlich ganz besonders – freut sich doch über den großen Erfolg, logisch, dass wir selbst unseren „Dracula" und die anderen Musicals so oft wie möglich zeigen und ein volles Haus haben wollen. Wann immer die Terminpläne der Darsteller und Musiker es zulassen, wird jeder „freie" Freitag, Samstag, Sonntag und sogar mancher Wochentag mit Musicals belegt. Glauben Sie einem geplagten Direktor: mehr ist nicht drin!
Sie erwähnten die ständigen Umbauten – wie kann man diese Arbeit überhaupt leisten?
Die Digitalisierung des ganzen Tonequipments macht es Häusern wie Pforzheim erst möglich, Musicals zu spielen. Da gab es in den letzten 20 Jahren eine tolle Entwicklung und hier am Theater wird auch viel investiert. Man braucht mittlerweile kein drei Kilometer langes Mischpult in der letzten Reihe mehr, sondern kann mit relativ geringem Aufwand plötzlich 30 Kanäle fahren. Nur so können wir dieses ständige Auf- und Abbauen überhaupt leisten. Wenn ich daran zurückdenke, wie wir früher rumgeeiert haben – ich weiß noch, als ich „Little Shop of Horrors" inszeniert habe, gab es am Theater noch keine Funkstrecken. Die Choreographie der drei Background-Mädels musste also erst in die eine Richtung gehen, dann in die andere, damit sie mit den Kabeln der Handmikrofone wieder auseinander kamen. Man kann sich kaum noch vorstellen, wie wir damals angefangen haben, Musical zu machen. Mittlerweile ist das so easy geworden, das ist großartig. Allerdings wurde unser Theater nicht für moderne PA-Anlagen gebaut. Ein Schauspieler muss, auch wenn er leise spricht, noch in der letzten Reihe verständlich sein, der Raum ist deshalb überakustisch angelegt. So ist aber das Orchester per se schon zu laut. Die grauen Segel über dem Orchestergraben sollen zwar absorbieren, das tun sie aber so gut wie gar nicht. So ist es natürlich sehr schwer, einen einheitlichen Sound zu produzieren. Chris Murray singt ja auch Wagner-Opern, wenn der loslegt, dann passiert da richtig was. Dazu das Orchester – jetzt versuch' mal, das so in diesen überakustischen Raum zu kriegen, dass der Ton sich richtig mischt. Das ist ungemein schwierig. Wenn man ein neues longrun-Theater baut, können die einen neutralen Kasten hochziehen und ein Sounddesign reinsetzen, das genau in diesen Kasten passt. Das können wir nicht. Deswegen wird es immer Kompromisse geben. Wir sind sehr weit, aber viel besser können wir einfach nicht.
Die Musicalproduktionen ziehen mehr Besucher ins Theater als die Schauspielstücke. Wäre nicht mehr Musical die logische Konsequenz?
Für mich könnte das Jahr weit mehr Wochenenden haben als die üblichen 56. Dann könnte ich „Dracula" spielen, bis Chris' Stimmbänder in Fetzen aus seinem Hals hängen. Das ist nicht das Problem. Aber ich habe einen Kulturauftrag, das heißt, ich muss ein breit gefächertes Angebot vorhalten und bin an eine bestimmte Abfolge von Premieren gebunden. Ich muss im Musiktheater vier Opern anbieten, vier sogenannte OTs – das bedeutet Operetten und Musicals – und außerdem einen großen und einen kleinen Ballettabend. Dazu kommen ja noch die ganzen Schauspielstücke.
Aber in der nächsten Spielzeit gibt es doch fünf Musicals?
Das muss man etwas differenzierter betrachten. Alle Stücke haben im Spielplan feste Positionen. „My Fair Lady" steht auf einer Operettenposition, ich sag immer, das ist eine Operette mit Schlagzeug. „Tommy" wurde im Sommer produziert aber nur drei Mal gespielt, damit wir im Herbst noch ein Musical haben, bevor die große Musicalproduktion „Chess" an Silvester Premiere feiert. Das dritte Stück ist bei uns immer entweder eine Operette oder ein Musical, in der kommenden Spielzeit ist mit „Sweeney Todd" wieder Musical an der Reihe. Und „Dracula" können wir nur weiterspielen, weil wir statt dessen den Beatles-Abend „With a little help..." abgesetzt haben, obwohl der fast genauso gut läuft. Zudem haben wir zu Lasten anderer Stücke noch Freiverkäufe für „Dracula" frei gemacht.
Sie müssen sich an diese Einteilung des Spielplans halten?
Ja. Als Stadt- und Regionaltheater ist es unsere Aufgabe, die Stadt und die Region mit Theater zu versorgen. Musical ist ein Teil dieser Aufgabe. Fast 70% unseres Publikums kommt aus dem Umland. Wir unterhalten von uns aus über 30 Buslinien mit festen Abfahrtszeiten, die wir organisieren wie ein Verkehrsbetrieb, um die Abonnenten ins Theater zu bringen. Wir bieten alleine 21 verschiedene Aboreihen mit bis zu elf Vorstellungen an. Das ist alles ein Mordsaufwand. Würde ich eine Opernpremiere streichen, und in die 16 freien Vorstellungstermine ordentlich „Dracula" reinknallen, könnte ich den Vertrag gegenüber den Abonnenten nicht erfüllen. Ich habe immer Angst, dass die Leute mich für arrogant halten, weil ich nicht mehr „Dracula"-Shows ansetze, aber es geht einfach nicht. Es gibt ja noch ganz andere Beschränkungen, so darf man beispielsweise das Orchester nur durchschnittlich 7,5 Mal pro Woche einsetzen. Das ist tarifvertraglich geregelt. Selbst wenn es im Spielplan also noch eine Lücke gäbe, wäre gar nicht garantiert, dass wir „Dracula" spielen könnten. Es ist eine hochkomplizierte Sache, Direktor von so einem Laden zu sein.
Was genau macht eigentlich ein Operndirektor?
Interviews geben (lacht). Normalerweise arbeitet ein Operndirektor ja unter einem Intendanten, das wird in Pforzheim ab Spielzeit 2015/2016 auch wieder so sein. Aber derzeit leiten Schauspieldirektor Murat Yeginer, Verwaltungsdirektor Uwe Dürigen und ich als gleichberechtigte Dreierspitze das Theater. Nach der Spielzeit 2014/2015 läuft mein Vertrag nach sieben Jahren aus. Für mich ist das eine sehr lange Theaterzeit. Ich denke, Theater bedeutet auch Wechsel. Ich werde nervös, wenn ich im Schlafzimmer meine Koffer nicht sehe. Die konkreten Aufgaben sind sehr vielseitig: Ich bin der Chef von Orchester, Chor, Ballett und den Solisten, d.h. die Personalkompetenz liegt bei mir. Zusammen mit dem Verwaltungsleiter verteile ich den Etat auf die einzelnen Produktionen, zusammen mit dem Team arbeite ich den Spielplan aus. Daraus macht der Betriebsdirektor eine Jahresdispo in der exakt festgelegt wird, wer wann wo probt und was an Vorstellungen wann gespielt wird.
Richtig kompliziert kann es werden, die Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst, für die Kulturorchester und die Künstler unter einen Hut zu bringen. Teilweise haben die total unterschiedliche Arbeitszeiten. Alles ist minutiös geregelt und es gibt die verrücktesten Sachen: Das Orchester darf nur zum Beispiel nur eine fünfminütige Anspielprobe machen, für einen richtigen Soundcheck ist das viel zu wenig. Deswegen ist für uns ein Musical immer eine Herausforderung. Unsere Musiker sind Künstler, die wollen gute Qualität abliefern, egal, ob sie Verdi oder Wildhorn spielen. Das ist nicht überall so. Da kriegt Pforzheim von mir ein ganz großes Herzchen. Unsere Musiker machen alles, egal wie unterschiedlich, mit der gleichen Liebe zur Musik und hohem professionellen Anspruch.
Sie selbst inszenieren auch Stücke ganz unterschiedlicher Stilrichtungen, waren zuerst Schauspielregisseur und wechselten dann zum Musiktheater. Ist das ungewöhnlich?
Schon ein bisschen, ja. Mein künstlerischer Werdegang hat viele verschiedene Stationen. Ich wollte immer ins Regiefach, das, was man sich als kleiner Steppke so darunter vorstellt. Ob das nun Film oder Theater wird, war nicht klar. Aber ich wollte immer selber machen, machen, machen. Nach dem Abitur habe ich angefangen, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte zu studieren. Parallel habe ich Pantomime Blanche gemacht, Steppen und Jazztanz gelernt. Ich hatte sogar mal einen Solovertrag als Tänzer. Das war wie bei „Fame": Ich habe eine Freundin zum Vortanzen beim damaligen ZDF-Fernsehchoreographen Herbert F. Schubert begleitet, der eine Tanzrevue auf die Beine stellen wollte. Ich dachte mir, vielleicht brauchen die jemanden, der ein bisschen aufbaut oder so, ich spreche drei Sprachen, vielleicht haben die ja einen Job für mich. Die Choreos waren recht simpel, ich hab' meine Schlaghosen aufgekrempelt, mich in die letzte Reihe gestellt und den Hippy Shake mitgemacht. Um mich herum wurden es immer weniger Leute. Dann durfte ich noch eine kleine Routine steppen und – puff – hatte ich einen Solovertrag. Ich war der reichste Student Hamburgs, nur bin ich selten bezahlt worden, weil die Produktion natürlich pleite ging. Das hat mich aber nicht abgeschreckt. Im Gegenteil, es war toll, die Theaterwelt, die Faszination zu erleben, dabei zu sein. Ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr ich gespürt habe, dass das alles einfach „meins" ist. Ich war morgens um neun an der Uni, nachmittags um 15 Uhr hab ich trainiert und dann von halb acht bis drei Uhr nachts drei Shows getanzt. Damals war ich natürlich nicht so rundlich, obwohl – man nannte mich „Wolf, der Kugelblitz". Naja, auf jeden Fall war ich ein bisschen durchtrainierter. Mit dem Massenbetrieb an der Uni war ich aber nicht unbedingt glücklich. Als ich dann von einem Regisseur, der als Oberspielleiter nach Lübeck wechselte, gefragt wurde, ob ich mitgehen möchte, musste ich nicht lange überlegen, vor allem, als er zugestimmt hat, dass ich auch Regieassistent sein darf. Vermutlich dachte er, ich würde schnell merken, dass das nicht mein Ding ist. Pustekuchen. So bekam ich 1976 mein erstes Engagement an einem Stadttheater. Ich hatte Schauspielrollen, machte Regieassistenz und war auch bei den kleinen Musicals dabei, die es damals gab. Als beim Opernspielleiter eine Stelle frei wurde, habe ich gewechselt. Da ich schon von Kindheit an eine gute musikalische Ausbildung hatte, war das kein Problem. Als Junge habe ich im Kirchenchor gesungen, erst als Sopran, dann als quietschender Tenor. Unser Chorleiter hat auch ganz moderne Musik mit uns einstudiert, irgendwann kennt man sich dann damit auch aus. Operetten und Opern habe ich schon immer geliebt. Ich bin ein alter Soulman, spiele selbst Schlagzeug. Musik gehört immer schon zu meinem Leben und so bin ich dann zum Musiktheater gekommen. Es gab schon Momente, in denen ich bedauert habe, dass ich mich zu früh vor den Karren spannen lassen habe. Als junger Regieassistent musste ich sehr um die innere Freiheit kämpfen, die Dinge neu zu denken, nicht in Konventionen stecken zu bleiben und nicht zu viel Stallgeruch zu haben. Früher hatte man an den Universitäten viel mehr Freiheit als heute, ich hätte das ruhig weitermachen können. So musste ich mir später mit mehr Anstrengung das Wissen aneignen, das ich auf der Universität quasi umsonst bekommen hätte. Nichts ist schlimmer als dumme Regisseure. Aber wenn man nicht glaubt, dass man, nur weil man studiert hat erstens begabt ist und zweitens sofort anfangen kann, Regie zu führen, sondern wenn man das Studium als das nimmt was es bringen kann, nämlich Background, dann hat man das Rüstzeug dazu, ein Regisseur zu sein. Aber das Theaterhandwerk zu erlernen, gehört genauso dazu. Man sollte einfach so viel an Bildung mitnehmen wie möglich. Dann kann man ein Thema wirklich ausrecherchieren und muss nicht von Klischee zu Klischee springen. Worum geht es in „Dracula" denn wirklich? Um eine Liebesgeschichte, ja. Aber was ist denn so faszinierend an einem Vampir? An einem Vampir ist faszinierend, dass er die Grenzen der bürgerlichen Moral überschreitet. Um auf diesen philosophischen Gedanken zu kommen, sollte man ein bisschen Background haben. Das macht die Inszenierung besser.
Das Vampirthema hat's Ihnen angetan, oder?
Irgendwie schon. Aber dass ich im Juli 2014 in Halle/Saale eine Open-Air Inszenierung von „Der Vampyr" auf die Bühne bringen werde, ist eher Zufall. Obwohl mein erster Gedanke war: Das ist nicht euer Ernst. Das Stück ist eine selten gespielte Oper von Heinrich Marschner, die auf dem Ur-Dracula von John Polidori beruht. Durch seine Kurzgeschichte, die schon 1816 erschien und fälschlicherweise zuerst Lord Byron zugeschrieben wurde, hielten Vampire Einzug in die Literatur. Es geht zwar nicht um Vlad III, der später Bram Stoker zu seinem Roman inspirierte, aber auch Lord Ruthven, der Vampir in Polidoris Geschichte, trägt aristokratische Züge. Die Musik ist irgendwo zwischen dem „Freischütz" und dem „Fliegenden Holländer" angesiedelt, hat aber auch biedermeierliche Elemente. Diese ganze Thematik aus dem Blickwinkel der Schwarzen Romantik nochmal aufzudröseln, macht sehr viel Spaß. Vampire sind in. Das hat sicher auch mit dem Traum nach Enthemmung zu tun, mit Grenzüberschreitung.
Was ist der wichtigste Unterschied zwischen Regie im Sprechtheater und Regie im Musiktheater?
Im Musiktheater muss ich mich an einen festen Rhythmus halten. Die Musik ist die Hauptkomponente, durch sie wird das Timing der Dialogführung bestimmt. Musik ist organisierte Zeit. Das Tempo einer Arie ist vorgegeben. Diese Zeitstruktur muss man mit dem Regiekonzept in Einklang bringen, damit beides zusammen das ausdrückt, was der Situation auf der Bühne gerecht wird. Das ist Musiktheaterregie. Im Schauspiel kann man mehr erfinden. Ich kann einen Satz sehr schnell oder sehr langsam sprechen lassen, kann damit experimentieren.
Stehen Sie heute noch selbst auf der Bühne?
Um Gottes Willen. Wobei ich oft in der Gasse stehe, meine Künstler beneide und mir wünsche, selbst da draußen zu sein. Aber nein, ich spiele selbst nicht mehr. Sehr stolz bin ich aber darauf, dass ich mittlerweile an einer Musikhochschule einen Lehrauftrag habe. Und ich feiere dieses Jahr mein 40-jähriges Bühnenjubiläum. Es gibt viele Erinnerungen. Ich habe viele Erfahrungen gemacht, einige davon weniger schön, fast beklemmend, wenn man zum Beispiel als Gastregisseur an ein Theater kommt, das sich einem wie eine Auster verschließt. Aber es gab und gibt viele, viele sehr, sehr schöne Momente. Immer wieder. Sehr emotionale Momente. Und zwar völlig unabhängig vom Genre. Ich bin ein Wanderer zwischen den Welten. Für mich gibt es nur gutes Theater oder schlechtes Theater. Der Rest ist mir sowas von schnurzpiepegal. Alles was ich mache, kann ich nur mit Volldampf machen. Sonst lohnt es den Aufwand nicht.
Interview: Sylke Wohlschiess
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