Sensationeller Blutrausch:
Rezension „Dracula“ in Pforzheim
02.01.2013 - Musical „Dracula“ - Frank Wildhorn - Stadttheater Pforzheim - Chris Murray in der Titelrolle
Transsylvanien ist nicht England – aber Pforzheim kommt dem geheimnisumwitterten Landstrich, in dem der mysteriöse Graf Dracula sein Unwesen treibt, schon sehr nahe. Im ausverkauften Theater Pforzheim erlebten rund 500 Besucher die Silvesterpremiere von Frank Wildhorns Musical „Dracula" und feierten die grandiosen Akteure mit minutenlangen stehenden Ovationen.
Inspiriert von der historischen Gestalt des despotischen Herrschers Vlad III Drăculea schuf der irische Schriftsteller Bram Stoker 1897 mit Dracula einen Briefroman, der inzwischen als Klassiker der Weltliteratur für unzählige Filme und Bühnenstücke als Basis diente. Auch Frank Wildhorn (Musik) sowie Don Black und Christopher Hampton (Buch/Songtexte) nahmen sich des Stoffes an.
Bombastische Melodien und romantische Balladen verbinden sich mit der Geschichte zu einem mystisch-erotischen Psychogramm des gefährlichen und dabei so unwiderstehlichen Untoten. Graf Dracula begehrt Mina Murray, die Verlobte des jungen Anwalts Jonathan Harker und auch sie fühlt sich entgegen aller Vernunft von ihm magisch angezogen. Letztlich wird sie es sein, die ihn von der Qual seines blutrünstigen Daseins befreit.
Wildhorns Kompositionen und der Stoff selbst sind atmosphärisch so dicht, dass es kein gekünsteltes Regietheater braucht. Dem trägt Regisseur Wolf Widder Rechnung, indem er sich mit Ausnahme des Endes stark an der Romanvorlage orientiert und die kreativen Einfälle der Handlung und der Musik unterordnet. Zudem belässt er dankenswerterweise die Handlung im viktorianischen Zeitalter. So zieht es das Publikum sofort mitten hinein in die ganz eigene Stimmung zwischen wohligem Schaudern und gespanntem Entsetzen, die durch ein gelungenes Bühnenbild und epochengerechte Kostüme visualisiert wird.
Mit simplen Mitten wird eine beeindruckende Wirkung erzielt: Viele der großen Soli werden vor dem bühnenbreiten schwarzen Vorhang gesungen, was sowohl den grandiosen Kompositionen als auch den gesanglichen Glanzleistungen die optimale Aufmerksamkeit sichert. Bei den Spielszenen entsteht optische Tiefe, indem der Vorhang zunächst oft nur ein Stück zur Seite gezogen wird und dahinter wechselnde Szenerien wie das Schloss des Grafen, das knoblauchumkränzte Bett Lucys oder ein Zugabteil erscheinen. Besonders beklemmend die Irrenhaus-Zelle Renfields: Von links und rechts erdrücken schwere Vorhänge fast den kleinen Spalt, der in grelles Licht getaucht ist und von einer auffallend hoch angebrachten einfachen Leuchte erhellt wird, die wie bei einem Kurzschluss ständig an- und ausgeht. Bei Renfields „Lied vom Meister" wird zusätzlich Draculas Schatten über die Szenerie projiziert – ein echter Gänsehauteffekt.
Ebenfalls äußerst gelungen sind die Doppelbilder, die durch verschiedene Ebenen und entsprechende Lichtregie entstehen. Bei „Whitby Bay" schreiben sich Mina und Jonathan zeitgleich an verschiedenen Orten Briefe, später bei der Reprise sieht man die schlichte Hochzeitszeremonie der beiden am unteren Bühnenteil, die weit pompösere von Lucy und Arthur läuft parallel auf der darüber liegenden Ebene ab. Ein visueller Effekt, der den Vergleich mit großen En-suite-Produktionen nicht zu scheuen braucht.
Über die Assoziation zur Tierwelt – ein überdimensionales Spinnennetz ist bei vielen Szenen ins Bühnenbild integriert – können die Zuschauer geteilter Meinung sein, als Grusefaktor ist es passend. Und wenn Dracula kopfüber spinnengleich daran heruntergleitet, wirkt dies gleichzeitig abstoßend und faszinierend. Der Idee verliert allerdings durch zu häufigen Einsatz an Wirkung, was auch für die Flugszenen gilt, die zudem nicht besonders flüssig ablaufen. Ob man unbedingt in jeder Inszenierung auf Biegen und Brechen ein modernes Element benötigt, das zudem die Handlung in keiner Weise voranbringt, sei auch dahingestellt. Die Ballettgruppe in schwarzen Outfits mit freiem Oberkörper jedenfalls erinnert unwillkürlich an die „Twilight"-Verfilmungen und wirkt hier mehr als unpassend.
Ein weiterer Kritikpunkt sind die verwendeten Texte. In Pforzheim greift man auf die Version der deutschsprachigen Erstaufführung aus St. Gallen zurück - zwangsläufig, denn die weit stimmigeren Grazer Texte sind für den deutschen Markt nicht freigegeben. Man vermisst die Poesie, die bei der Grazer Variante die Handlung stringenter voranbringt, die Charaktere klarer entwickelt und den Zuschauer dadurch besser verstehen lässt, dass Dracula bei seiner Begierde für Mina entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten nicht nur von Lust, sondern tatsächlich auch von Liebe getrieben wird. Auch fehlt an vielen Stellen die Harmonie zwischen Text und Musik. Die sehr sperrige Übersetzung von Roman Hinze mag auch der Grund sein, dass die Textverständlichkeit oft zu wünschen übrig lässt. In den Sprechszenen dagegen versteht man jedes Wort. Auch das Orchester klingt in jeder Phase gut abgemischt – egal, ob bei der gelungenen musikalischen Untermalung besonderer Szenen durch einzelne Instrumente oder bei vollem Einsatz aller Musiker.
Was aber alles übrige fast zur Nebensache verblassen lässt, ist die Besetzung der tragenden Rollen, die man nur als hundertprozentigen Glücksgriff bezeichnen kann. Benjamin-Edouard Savoie verkörpert mit hellem, eher metallisch klingendem Tenor die Rolle des verrückten Renfield absolut authentisch. Auch sein nur ansatzweise hörbarer Akzent passt hervorragend zum dargestellten Charakter. Sowohl die irren Momente, in denen er bei „Das Lied vom Meister" Dracula anbetet, als auch die wenigen lichten Augenblicke, in denen er verzweifelt um seine Freilassung fleht, gehen unter die Haut. Aus dieser zwar eher kleineren, nichtsdestotrotz für die Handlung wichtigen Rolle holt Savoie alles heraus. Mit ebenfalls sehr heller Stimme meistert Yvonne Luithlen den Gesangspart der Lucy Westenra, perfekt intoniert ihr „Nebel und Nacht", harmonisch das Duett „Wie wählt man aus" mit Femke Soetenga. Luithlen überzeugt als Minas naiv-nette Freundin, die Draculas Opfer wird. Bei ihren Vampirparts dagegen könnte sie schauspielerisch noch etwas mehr aus sich heraus gehen und ihrer Vampir-Lucy mehr Biss geben.
Van Helsing von Kopf bis Fuß ist Jon Geoffrey Goldsworthy. Sein schmeichelnder Bariton, der er sowohl sanft als auch äußerst druckvoll einzusetzen weiß, hat eine Stimmfarbe mit hohem Wiedererkennungswert. „Nosferatu" und das für Graz zusätzlich komponierte Duett „Zu Ende" sind stimmlich auf Höchstniveau. Das Solo „Roseanne" wurde gestrichen, was besonders bedauerlich ist, weil sich daraus für die Handlung die Vehemenz erschließt, mit der Van Helsing Dracula verfolgt. Aber Goldsworthy schafft es auch so, den Vampirjäger als ebenso edlen wie energischen Kämpfer gegen das Böse darzustellen. Ebenso klangschön auch der lyrische Tenor von Thomas Christ als Jonathan Harker. Die vielleicht ergreifendste Ballade „Frost an einem Sommertag" interpretiert er mit viel Gefühl und Hingabe. Auch die darstellerische Umsetzung – vom jungen, unbeschwerten Anwalt bis zum leidgeprüften Opfer Draculas, der zudem in Todesangst um seine Verlobte Mina lebt – gelingt hervorragend.
Femke Soetenga liefert eine ebenso grandiose Leistung ab und zeichnet in jeder Phase überzeugend Minas Entwicklung. Als wohlerzogene junge Lady, deren Leben in ruhigen, vorgezeichneten Bahnen verläuft, intoniert sie auch stimmlich sehr weich; angenehm fließend klingt in diesen Szenen ihr makelloser Sopran. Wenn sie dann bei „Lass mich dich nicht lieben" verzweifelt versucht, mit ihrem ungewollten Verlangen nach dem unheilvollen Grafen fertig zu werden und es in der Finalszene zum großen Countdown kommt, setzt sie verstärkt Belting ein. Schauspielerische und stimmliche Interpretation gehen Hand in Hand.
Chris Murray als Graf Dracula zeigt eine unglaubliche Bandbreite. Von Hunger geschwächt schreitet er anfangs mit unheilvoll-schleppenden Schritten langsam über die Bühne und verbreitet nur durch Mimik und Gestik fast greifbares Grauen. Ein Eindruck, der durch die hier brüchig und spröde klingende Stimme noch verstärkt wird. Mit dem Biss in Jonathan Harkers Hals beginnt der allmähliche Verjüngungsprozess. In gleichem Maße, wie Jonathan altert, wird Dracula jünger. Maske und Kostüme werden zielgerichtet eingesetzt – bei der Verführungsszene zeigt sich der vorher eher zugeknöpfte Vampir dann sogar oben ohne. Ob man allerdings das Abziehen der Gesichtsmaske für das Publikum sichtbar gestalten muss, ist zu bezweifeln. Denn Murray braucht keine Hilfsmittel, jegliche Veränderung des Grafen vermittelt er mit perfektem Schauspiel und virtuoser Stimmführung. Er beherrscht alle Nuancen, den gefährlichen Verführer, die todbringende Bestie und den unglücklich auf ewig Verdammten. Murrays einzigartiger Tenor klingt abwechselnd samtweich und martialisch, sein schier unfassbares Stimmvolumen erfüllt den Saal bis in den allerletzten Winkel.
Allein die Besetzung der Titelrolle sollte dem Theater Pforzheim volles Haus für alle Vorstellungen garantieren. Die atmosphärische Inszenierung, große musikalische Dynamik und vor allem die sensationelle Cast machen „Dracula" in Pforzheim zu einem absoluten Muss.
Text: Sylke Wohlschiess
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