Interview mit Andreas Lichtenberger:
Es gibt für jeden eine Geschichte
Geschichten erzählen ist seine Passion und sein Beruf: Andreas Lichtenberger. In der Geschichte der Schatzinsel spielt er als Pirat Long John Silver eine wichtige Rolle. Ob Silver wirklich nur ein übler Schurke ist oder vielleicht auch andere Seiten hat, wieso mit einer Rolle, die er nicht spielen durfte, Andreas Lichtenbergers Musicalkarriere begann und warum es toll ist, auf der Bühne böse zu sein – das und noch einiges mehr haben wir in einem ausführlichen Gespräch von ihm erfahren.
Verwirklicht sich mit der Rolle als Pirat in „Die Schatzinsel“ für Sie ein Kindheitstraum?
Ganz klar, davon träumen doch alle Jungs. Als Kind war ich an Fasching natürlich auch schon Pirat, mit Augenklappe und allem Drum und Dran. Dies als Erwachsener nochmal auf der Bühne ausleben zu dürfen, noch dazu als echter Paradepirat, das ist einfach herrlich.
Was macht Ihrer Meinung nach die Faszination von Piratengeschichten aus?
Das Meer – es steht für Weite und Freiheit. Es heißt ja nicht umsonst FREI-Beutertum. Die Piraten leben in dieser freien Welt ihren eigenen Gesetzen, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Wer hätte nicht schon ab und zu davon geträumt, alles hinter sich zu lassen, vielleicht einfach mal aus dem nervigen Job auszubrechen? Wie oft erleben wir Ungerechtigkeiten? Nichts kann einen so wütend machen, oder? Und dann jemand sein zu dürfen, der die Sache in die Hand nimmt und sich sein eigenes Recht schafft, das hat schon einen besonderen Reiz. Dann natürlich der ganze Piratenalltag – Schiffe entern, Schätze rauben, Abenteuer erleben. Das ist eine faszinierende Vorstellung. Böse zu sein auf der Bühne ist auch deshalb so schön, weil man es dann nicht im Leben sein muss.
Wie schätzen Sie den Einfluss der „Fluch der Karibik“-Kinofilme auf das Interesse an der Thematik ein?
Der Erfolg dieser Filme schadet uns bestimmt nicht. Aber es gab schon immer großartige Piratenfilme, eigentlich war es fällig, dass in der modernen Kinozeit auch mal ein großer Blockbuster kommt. Johnny Depp hat ja das Piratentum nicht erfunden. Jack Sparrow ist seine Kreation, aber wenn man alte Fotos und alte Filme anschaut, dann sieht man, woraus er und sein Produzent Jerry Bruckheimer den Jack Sparrow zusammengesetzt haben. Sie haben andere Piraten als Vorbild genommen. Aber „Fluch der Karibik“ ist einfach der aktuellste Piratenfilm, also liegen Vergleiche zwischen Silver und Sparrow nahe. Erst heute wieder: Draußen vor dem Theater liegt doch gerade ein Störtebeker-Schiff, wir hatten dort eine Fotosession. Ich stehe da also in Maske und Kostüm, als ein paar vorbeilaufende Jugendliche rufen „Hallo Jack Sparrow, hallo Jack Sparrow“. Ich dreh' mich um und rufe mit richtig tiefer, böser Piratenstimme: „Jack Sparrow ist Kindergarten, verpisst euch, ihr Landratten“. Dann sind sie schreiend weggelaufen (lacht).
Ganz offensichtlich wirken Sie ziemlich authentisch...
Offensichtlich (lacht). Hoffen wir, dass die später den Weg ins Theater finden.
Meinen Sie, dass „Die Schatzinsel“ auch Publikum anzieht, das sonst nicht unbedingt musicalaffin ist?
Ja, ich halte das für absolut möglich. Und dann wäre es Peter Scholz und Dennis Martin ja absolut zum Besten zu halten, dieses Thema aufgegriffen zu haben. Ob der Kinoerfolg von „Fluch der Karibik“ eine Rolle spielte, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass den beiden schon als Kinder „Die Schatzinsel“ gefallen hat, daher also auf jeden Fall eine Motivation kam. Für uns als Darsteller ist es ein Geschenk, jetzt das Stück nochmal zu spielen, weil wir alle letztes Jahr in Fulda so eine tolle Zeit hatten. Sich jetzt wieder zu treffen und zwei Wochen lang den Piraten rauszulassen, das ist spitze. Die Stimmung ist super, wir sind alle happy. Man fühlt sich in bisschen wie damals auf dem Kinderspielplatz, als der Sandkasten plötzlich das Segelschiff war. So ist es jetzt auch – nur dass es ein bisschen größer geworden ist. Und dass uns Leute beim Spielen zuschauen.
Was ist das Besondere am Musical „Die Schatzinsel“?
Ursprünglich wollten die Macher einfach nur den Roman als Musical umsetzen, haben aber dann festgestellt, dass nur Piraten nicht ganz abendfüllend sind. Es fehlte ein bisschen die Frauenfigur. Durch die Verknüpfung der eigentlichen Piratengeschichte mit der Biographie des Autors Robert Louis Stevenson ist Dennis Martin und Peter Scholz ein genialer Kunstgriff gelungen, denn dadurch entstanden die Doppelrollen und die zweite Zeitlinie. Das Publikum ist hier auch mehr gefordert. Die Zuschauer mögen es, mitzudenken, die eigene Fantasie anzukurbeln und zusammen mit der Geschichte über die Handlungsebenen zu springen. Anfangs finden noch nicht so viele Wechsel statt, aber dann geht es immer schneller hin und her. Das finde ich gut, denn das Publikum ist ja schlau und kann dann auch immer schneller mithüpfen. Dass auch ich als Silver am Ende noch ganz unerwartet eine zweite Ebene aufmachen darf, gefällt mir auch unheimlich gut. Man glaubt die ganze Zeit, dass Silver nur als Schatzinsel-Figur vorkommt, aber es gibt eine kleine Szene am Schluss, die einen echt schlucken lässt…
… und die zeigt eine andere Seite seines Charakters?
Genau. In erster Linie ist Silver Pirat, das ist sein Beruf, das ist, was er gelernt hat. Rauben, morden, saufen und huren, damit kennt er sich aus. Silver hat nur noch ein Bein, was in einer Zeit, in der allein das Gesetz des Stärkeren galt, eigentlich ein Todesurteil war. Er aber hat sich als Anführer der Piraten behauptet, also muss er ja etwas an sich haben, das ihn von den anderen unterscheidet, die einfach nur plump Pirat sind. Er ist intrigant und skrupellos, aber er hat auch politisches Geschick und mehr Grips als die anderen. Als die Piratenmannschaft Kapitän Smollett und seine Crew am liebsten gleich um die Ecke bringen möchte, hält Silver sie zurück. Denkt doch mal nach, sagt er, wie wollt ihr denn ohne Kapitän zur Insel finden? Blöderweise kann man auf dem Meer ja auch schlecht wie bei einer Schnitzeljagd die Bäume markieren und einfach an der nächsten Eiche links abbiegen. Von der Insel zurückzufinden ist genauso schwer. Sie brauchen Smollett also noch, denn keiner außer ihm beherrscht die Kunst der Navigation. Als der nach der Meuterei gefangengesetzte Kapitän fragt, wie sie denn gedenken, den Rückweg übers Meer zu finden, tönt es großmäulig aus Silver heraus „Das Kommando habe ich – navigieren werdet natürlich ihr.“ Smollett lässt ihn aber ganz schön auflaufen und macht ihm unmissverständlich klar, dass er lieber auf der Insel krepiert, als unter Silvers Kommando das Schiff heimzuführen.
Dann macht Silver etwas, mit dem er echte Führungsqualitäten beweist: Er handelt einen Deal mit Kapitän Smollett aus. Dieser besagt, dass Silvers Männer sich Smolletts Kommando unterstellen und er sie dafür gehen lässt, wenn sie wieder zurück in England sind. Silver sagt, schlimmer als mit dem Verlust des Schatzes könne kein Gericht dieser Welt seine Männer bestrafen. Das ist natürlich Blödsinn, denn sie würden einfach wegen Meuterei zum Tode verurteilt. Aber Silver stellt sich stellvertretend der englischen Gerichtsbarkeit und lässt sich auf der Fahrt sogar in Ketten legen, als Pfand dafür, dass Smollett, Finanzier Trelawney und Schiffsarzt Dr. Livesey nicht eines Morgens plötzlich mit durchschnittenen Kehlen aufwachen. „Die Männer werden mein Leben nicht riskieren“ sagt Silver. Der Deal gilt.
Silver ist also nicht einfach nur ein durch und durch mieser Schurke?
Nein. Er übernimmt Verantwortung auch im Scheitern und beweist Loyalität seinen Männern gegenüber. Er hat ein Gewissen. Und er hat ein Herz.
Das will aber zum wilden Piraten erstmal nicht so richtig passen, oder?
Richtig – deshalb ist ihm das auch gar nicht so angenehm, sondern sogar fast peinlich. Aber als Jim daherkommt, berührt er in emotional in einer Art und Weise, die er vorher vielleicht gar nicht kannte oder zumindest verdrängt hat. Sein Herz schlägt für den Jungen. Allerdings wird das Herz durch die Loyalität des Jungen zu den Guten auf eine Probe gestellt: Junge oder Schatz. Da kommt der Pirat wieder durch, für Silver gibt es letztlich keine wirkliche Wahlmöglichkeit. Er bedauert, dass Jim nicht mitmacht, denn er hätte ihn gerne dabei gehabt. Aber wenn der jetzt so schwierig wird, dann eben ohne ihn.
Hat die Beziehung zwischen Silver und Jim also eine besondere Bedeutung?
Ja, und zwar nicht nur auf der fiktiven Ebene. Das Tolle an dem Stück ist, dass man nie vergisst, dass Louis Stevenson „Die Schatzinsel“ für Fannys Sohn Lloyd schreibt. Er möchte mit Fanny in Kontakt kommen und dies gelingt über den Jungen. Einerseits handelt er instinktiv, andererseits ist das natürlich auch schlau, denn das Herz einer Mutter erobert man über den Sohn. Lloyd fehlt sein Vater, also nimmt Stevenson das in die Geschichte auf und macht aus Lloyd den Jungen Jim Hawkins, der auch keinen Vater hat.
Nur ist dessen Mutter praktischerweise Witwe…
Das ist eben die künstlerische Freiheit des Autors (lacht) – das wäre ihm natürlich lieber gewesen. Trotzdem bleibt er ziemlich dicht an seiner gefühlsmäßigen Realität. Dr. Livesey, den Stevenson für sich selber schreibt, ist gesundheitlich angeschlagen, ein Schwächling, so, wie Stevenson sich selbst auch sieht. Deshalb hat Livesey auch bei dem abenteuerlustigen Jim erstmal keine Chance gegen den einbeinigen Seemann Silver, der Geschichten zu erzählen weiß, nach Abenteuer und vermutlich auch übelst nach Rum riecht. Als das Schiff im Sturm schlingert, singt Silver mit Jim an Deck Seemannslieder, während Dr. Livesey sich in der Kajüte den Magen ausleert. Stevenson macht Jim in der Geschichte total empfänglich für Vaterfiguren und in dem Moment hat sein fiktives Pendant gegen den schillernden Piraten natürlich komplett verloren. Jim darf seine Vatersuche auf Silver übertragen und Silver seine Vatergefühle auf Jim. Umso größer ist der Schritt, als Jim sich gegen Silver entscheidet und sich im Kampfgetümmel der Meuterei mitten auf die Barrikaden stellt – wie bei „Les Misérables“ – und „fahr zur Hölle, Silver“ schreit. In diesem Moment wundert man sich, woher der Kleine diese Entschlossenheit und diese Wut nimmt.
Und wie kommt es zu diesem Sinneswandel?
Es gibt die Szene, als Jim in der Apfeltonne sitzt und die Streitereien der Piraten beobachtet. Kurz zuvor hat Silver ihn als „mein Junge“ bezeichnet, für Jim das absolute Zauberwort. Nun hört er, wie Silver zu einem anderen Piraten sagt, dass ein helles Köpfchen wie er glatt sein Sohn sein könnte. In dem Moment bricht für Jim eine Welt zusammen – der meint das gar nicht ehrlich, der sagt das zu jedem. Auch wenn ich es so spiele, dass Silver diese Worte gegenüber Jim so ernst meint, wie er als abgebrühter Kerl es nur meinen kann und es bei dem anderen natürlich nur ein blöder Witz ist, erlebt Jim eine enttäuschte Vater-Sohn-Liebe. An diesem Punkt endet seine Loyalität und er entscheidet sich im Herzen gegen Silver. Jetzt funktioniert auch das Abenteuer nicht mehr. Jim merkt, dass die anderen die Guten sind und Silver eben doch nur ein Freibeuter ist, der die dunkle Seite verkörpert. Wie jeder Mensch ist Jim für die dunkle Seite verführbar. Aber er hat Herz, Moral und Verstand und entscheidet sich am Ende doch für die helle Seite.
Ihre Rolle bleibt in der fiktiven Schatzinsel-Ebene des Musicals angesiedelt – fast bis zum Ende.
Man denkt, Silver gibt es wirklich nur in dieser Ebene. Dann kommt ganz überraschend die Szene, als Louis sagt, die Geschichte sei noch nicht zu Ende und Lloyd sich an den Gefangenen auf der Hispaniola erinnert. Louis sagt „ich weiß, wie sehr du den alten Silver gemocht hast und ich weiß, was du in ihm gesehen hast“. Nun sei die Zeit, Abschied zu nehmen – man erwartet Silver, aber es erscheint Sam, Lloyds Vater. Die Handlungsebenen verschränken sich ganz unerwartet. Diese Szene hat im Vergleich zu der Zeit, die sie auf der Bühne stattfindet, im Team die meisten Gespräche mit sich gebracht. Es ist eine Szene, die überall und zu jeder Zeit in der Realität stattfindet: Ein Paar trennt sich, die Mutter hat einen neuen Partner. Der Sohn muss das akzeptieren, er braucht aber auch die Chance, sich von seinem Papa zu verabschieden, auch dann, wenn dieser nicht besonders präsent war. Damit die neue Konstellation gesund leben kann und einen Anfang hat, muss die alte ein Ende haben. Sam Osbourne war ja eine tief tragische Figur, der wäre eine eigene Geschichte wert. Er war Soldat, kam traumatisiert aus dem Krieg zurück und ging dann Gold schürfen, weil er es zu Hause einfach nicht ausgehalten hat. Er war nie da, Fanny musste sich alleine um den Sohn kümmern. Sie lernt Louis kennen, hält aber zunächst an ihrer Ehe fest, bis sie sich dann doch für Louis entscheidet. Ich denke, Fanny hat Sam gebeten, sich wenigstens von Lloyd zu verabschieden. Leicht ist ihm das bestimmt nicht gefallen. Er verabschiedet sich ja nicht nur, sondern gibt ganz offen zu, dass er ihm kein guter Vater war. Darauf sei er nicht stolz, auf den Sohn aber sehr wohl.
Ich halte diese Szene für sehr wichtig und hoffe, dass wir den Akzent gefunden haben, der ihr gebührt. Vielleicht ist die Tiefe dieser Begegnung durch den Überraschungseffekt noch größer. Denn es geht ja weiter. Sam kommt mit seiner Vaterrolle nicht klar. Als er Lloyd eigentlich umarmen möchte, schlüpft er zurück in die Figur des Piraten. Auch Silver hat Jim nie umarmt. Er hat ihm auf die Schulter gehauen und ihm eine freundschaftliche Kopfnuss gegeben, aber er hat ihn niemals umarmt. Das bringt auch Sam Osbourne nicht fertig – und das macht ihn wieder zum Piraten.
Liegt hier auch die schauspielerische Herausforderung der Rolle?
Diese Szene ist auf jeden Fall eine besondere Herausforderung für mich als Darsteller und auch für das Publikum. Mir ist aber generell wichtig zu vermitteln, dass in Silver irgend etwas arbeitet, dass es irgend ein Erlebnis gegeben haben muss, das bewirkt hat, dass er sich von den anderen Piraten unterscheidet. Ich finde es schön, herauszukriegen, wie und warum das bei Silver so funktioniert. Was ich mir da überlegt habe, bleibt mein Geheimnis. Aber sollte das Publikum merken, dass mit dem Silver einfach irgendwas anders ist, dann nehme ich das als Erfolg und freue mich darüber. Mein Schauspielprofessor sagte immer, es sei im Endeffekt egal, was der Schauspieler denkt, das Publikum müsse nur sehen, dass er denkt. Das Publikum will ja eine Geschichte. Wenn es jemanden sieht, der daran arbeitet, dann arbeitet es mit. Es gibt für jeden eine Geschichte. Das ist der Zauber, die Macht und das Können von Theater. Wenn fünf Zuschauer über eine Figur diskutieren und sie fünf verschiedene Geschichten in der Figur gesehen haben, dann ziehe ich den Hut vor dem Darsteller, der das in die Leute hineinimpft. Und wenn man hört, dass es Leuten mit einem Charakter so geht, den man selbst gespielt hat, dann ist man total glücklich und bollestolz. Diese Abschiedsszene ist übrigens auch die, bei der sowohl im Publikum als auch im Team regelmäßig Tränen fließen. Die Probe fand in einem großen Raum mit Tageslicht statt, nicht gerade eine Stimmung, die zu großen Emotionen verleitet. Neben mir stand eine neue Kollegin mit Tränen im Gesicht und meinte fast schluchzend „ich hab‘ es noch nicht so oft gesehen“. Es funktioniert also. Ich weiß, wie mir selbst anfangs ganz blümerant wurde. Genau für solche Szenen lieben wir diesen Beruf. Das ist auch das Besondere an der „Schatzinsel“: Auf der einen Seite darf ich den Piraten spielen, Action und Anarchie, keine Regeln, es gibt nur uns und uns gehört die Welt. Und dann bekomme ich einen so tiefen, ernsthaften Moment geschenkt und darf eine Szene interpretieren, die für die Bedeutung der Geschichte und die Glaubwürdigkeit der Figur so wichtig ist. Darum bietet diese Stück für mich als Darsteller alles, was ich mir wünschen kann. Es ist eine große Freude, hier dabei zu sein.
Wenn Sie Ihre bisherigen Rollen Revue passieren lassen, gibt es etwas, dessen Darstellung Sie immer wieder besonders fasziniert?
Ich mag die Brüche. Ich mag es, in eine bestimmte Richtung zu gehen, es ganz groß aufzubauen und dann zu brechen. Das gibt es in jeder Rolle, in mancher mehr, in mancher weniger. Jemand ist total fröhlich, hat die beste Zeit seines Lebens, feiert eine Riesenparty. Dann zerbricht ein Glas und in Sekundenschnelle ist man todtraurig. Im Leben und im Theater ist immer der Bruch - die Veränderung – das Interessante. Keiner will die Schatzinsel sehen, wenn da nur zwei Stunden lang Piraten „Heiahoo“ machen würden. Irgendwann hat man das auch kapiert. Aber wenn die „Heiahoo“ machen und dann plötzlich ein kleiner Junge daherkommt, der den Anführer echt fertig macht, dann wird es interessant. Ich durfte das in jeder Rolle spielen. Das geht auch in „Mamma Mia!“, es funktioniert großartig als Oger in „Shrek“. Der behauptet ja auch, nur ein blöder Oger zu sein und stellt dann zweieinhalb Stunden lang fest, dass das Leben in dem Fall zwar einfacher wäre, es aber gar nicht so ist. Da kommt diese dämliche Esel und kitzelt plötzlich Gefühle wie Freundschaft und Liebe aus ihm heraus.
Die Brüche kann man ebenso gut bei einer klassischen Vorlage wie „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal spielen, wie im Musical „Der Mann von La Mancha“. Hier gibt es auch die zwei Ebenen: Der Dichter Cervantes, der von der spanischen Inquisition eingekerkert wird, seine Habe gegen die Mithäftlinge verteidigen muss und sich deshalb als die von ihm erdachte Figur Don Quijote verkleidet. Dieses Stück erzählt so viel über das Leben und über das Theater. Man kann es ein Leben lang spielen, denn das Spielalter ist nicht festgelegt. Einmal ist man mehr bei Cervantes, einmal mehr bei Don Quijote, aber man kann immer beides bedienen. Mein Beruf ist es, Geschichten zu erzählen, die Leute träumen zu lassen oder zum Nachdenken zu bewegen. Oder auch nur einfach gut zu unterhalten. Gerade in der heutigen Zeit gibt es keinen größeren Auftrag, als die Leute drei Stunden aus ihren Alltagsproblemen zu holen und sie in eine Geschichte mitzunehmen, die ihnen gefällt.
Sie haben Schauspiel studiert und viele Rollen im Sprechtheater gespielt – wie kam der Wechsel ins Musicalfach?
Ich habe immer schon gesungen und Musik gemacht und ging davon aus, dass ich auch im Theater Musik und Wort mischen kann. Wir haben schon auch im Schauspiel immer mal wieder Lieder mit reingenommen, mir war das aber zu wenig. Musik bedient eine weitere Ebene; wenn Dir die Worte fehlen, um etwas auszudrücken, dann sing ein Lied – das ist doch das Prinzip von Musiktheater. Ich war schon sechs volle Spielzeiten am Staatstheater Stuttgart, als „Im weißen Rössl“ auf dem Plan stand. Und ich war nicht besetzt. Das kann jetzt nicht sein, dachte ich. Es gab nicht so viele im Ensemble, die gut singen konnten, aber ich gehörte bestimmt dazu. Und ich war nicht besetzt. Das hat mich maßlos geärgert. Dann hing – Zufall oder Schicksal? – bei uns am Schwarzen Brett die Ausschreibung der Stage für die deutschsprachige Erstaufführung von „42nd Street“ und für den Castwechsel bei „König der Löwen“. Ich war so sauer, dass ich dort angerufen habe und sagte: „Hallo, mein Name ist Andreas Lichtenberger, ich bin Schauspieler, ich singe gern und tanze nie. Soll ich kommen?“Ja, hieß es, wir suchen Quereinsteiger.
Heute gibt es die ganzen Musicalschulen, aber damals war die Situation eine andere. In meinem Alter gibt es wenig deutsche Muttersprachler mit einer Komplettausbildung, wie sie in den englischsprachigen Ländern üblich ist, deshalb konnte man mich brauchen. Ich bin bei beiden Auditions in die Finals gekommen und hätte auch „König der Löwen“ machen dürfen, Pumbaa und Cover Scar, aber ich hatte schon per Handschlag der Vertragsverlängerung am Staatstheater Stuttgart zugestimmt. Ich habe dem damaligen Intendanten Friedrich Schirmer dann offen gesagt, dass ich diese Chance gerne wahrnehmen würde. Er hat mich aus dem neuen Vertrag entlassen und ich habe ihm dafür alle Urlaubstage geschenkt, den ich im Musical bekam, um den laufenden Vertrag noch zu erfüllen. Alles, was vom Staatstheater acht Wochen im Voraus disponiert wurde, habe ich beim Musical als Urlaub bekommen, solange ich noch Tage hatte. Ich habe zehn Monate lang jeden Tag gespielt. Es war stressig, aber es war toll und so auch nur möglich, weil „42nd Street“ eben auch in Stuttgart lief. Für mich war es der richtige Wechsel vom Repertoire- in den en-Suite-Spielbetrieb. Achtmal die Woche das gleiche Stück zu spielen, das kannte ich nicht, davor hatte ich auch Angst, denn ich fürchtete, das könnte wahnsinnig fad sein. Ich war es gewöhnt, bis zu sechs verschiedene Rollen im Monat zu spielen, dafür aber jede vielleicht nur drei Mal. Aber so konnte ich trotzdem viel Verschiedenes spielen und hatte einen fließenden Übergang. Eigentlich war geplant, dass ich nach einem Jahr wieder zurück ans Staatstheater komme, aber dann wurde „Mamma Mia!“ für Stuttgart angekündigt. Irgendjemand meinte, ich wäre genau der Typ für Sam… also ging ich zur Audition und bekam prompt die Rolle. Das hieß nun für mich, wieder mit Friedrich Schirmer zu sprechen, denn ich stand ja im Wort, zurückzukommen. Er riet mir, das Angebot anzunehmen. Er hatte damals schon den Ruf ans Deutsche Schauspielhaus in Hamburg erhalten und konnte nicht alle mitnehmen, insofern war er froh um jeden, der versorgt war. Er kam, wie er versprochen hatte, zur Premiere und wir sind seither immer in Kontakt geblieben.
Es wurde ihnen also nicht übel genommen, dass Sie beim Musical geblieben sind?
Nein, gar nicht. Jeder hat Termine, jeder hat andere Stücke, und es ist immer schlimm, etwas absagen zu müssen. Aber wenn man mit offenen Karten spielt, funktioniert es. Ich hatte das Glück, mit Friedrich Schirmer und auch mit Manfred Langner absolute Ehrenmänner zu finden, die leider immer seltener werden. Mit solchen Leuten zu arbeiten, macht Spaß und da fühle ich mich in meinem Beruf auch sehr wohl. Mit Offenheit löst man jedes Puzzle – das war auch der Fall, als ich den Ruf nach Wien bekam.
Sie spielten dort in „Ich war noch niemals in New York, richtig?“
Genau, das war 2009. Manfred Langner, der damals Intendant am Alten Schauspielhaus in Stuttgart war, bot mir eine Rolle in „Endstation Sehnsucht“ an, ein ganz tolles Stück und für mich die Chance, nach vielen Jahren Musical wieder einmal Schauspiel zu machen. Ich stand schon mit Foto im Programmheft. Parallel war ich in „Der Mann von la Mancha“ am Theater St. Gallen engagiert, als die Vereinigten Bühnen Wien mich für die Rolle des Axel Staudach besetzen wollten. St. Gallen wäre zeitgleich machbar gewesen, nicht aber „Endstation Sehnsucht“, das sechs Wochen am Stück laufen sollte. Ich stand dort im Wort und konnte nicht einfach so absagen, also habe ich in Wien versprochen, dem Intendanten die Situation zu schildern. Nun hatte ich das Glück, dass Manfred Langner ein ganz toller Kerl ist. Ich habe ihm alles erklärt, er runzelte die Stirn und sagte dann, er hätte eine wunderbare Rolle für mich, aber er würde nicht erwarten, dass ich für drei Monate schlecht bezahlter Arbeit einen guten Job über ein Jahr in einer tollen Stadt ausschlage. Er gab mich frei. Er musste damals jemand anderen finden, aber er sagte, dafür sei er Intendant, um solche Probleme zu lösen. Auch mit Manfred Langner bin ich in Verbindung geblieben und wer weiß, ob nicht doch wieder einmal ein gemeinsames Projekt klappt.
Projekte außerhalb der Musicalbühne haben Sie ja so manche, zum Beispiel „Bass und Bässer“.
Oh ja, das ist ein gemeinsames Programm mit einem Kontrabassisten-Sextett. Eine Bekannte hat für dieses Sextett Auftritte organisiert, die von einem ehemaligen Professor moderiert wurden. Das ging dann in etwa so: „Das ist der Soundso, der hat bei mir studiert, jetzt macht er das, vorher hat er dies gemacht.“ Hm. Eher trocken, oder? Meine Bekannte meinte, die Jungs hätten einen frischen Schub verdient. Ob ich mir vorstellen könnte, so ein Programm zu moderieren. Als ich die CD angehört habe, war ich sofort begeistert. Die sind genial, die spielen von Klassik bis zum Schlager alles mit Kontrabässen. Und dann hatte ich eine Idee. Das Einmannstück „Der Kontrabass“ von Patrick Süßkind war schon eine meiner Vorsprechrollen. Eigentlich darf man es keinem Produzenten sagen, dass so etwas möglich ist: Ich habe frei nach diesem Stück Szenen überlegt, bei denen das Sextett Lieder spielt und ich in das Spiel hinein Texte spreche, alles nur anhand der CD getimt. Mit nur einer Verständigungsprobe sind wir damit auf die Bühne gegangen. Die Jungs spielen exakt wie auf der CD und haben live zusätzlich ihre Persönlichkeiten eingebracht, deshalb hat es funktioniert. Sogar so gut, dass wir gleich noch ein zweites Konzert gegeben haben. Wir sind regelmäßig in Kontakt und versuchen, wieder einen Termin zu finden. Außerdem bilde ich zusammen mit dem Pianisten Harald Lierhammer das Duo „HaLALi“. Harald ist Professor für Klavier an der staatlichen Hochschule für Musik in Stuttgart, ich habe mit ihm schon an der Hochschule musiziert. Wir haben ein zweistündiges Programm mit Chansons von Georg Kreisler, das ist alles abrufbar und da wird es auch sicher wieder einmal irgendwo Auftritte geben. Nach der „Schatzinsel“ in Hameln freue ich mich erst einmal auf weitere Vorstellungen von „Ein Käfig voller Narren“ am Theater Magdeburg.
Interview: Sylke Wohlschiess
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