Interview mit Andreas Wolfram:
Das Andersartige innerhalb des Offensichtlichen
Fast eine Doppelrolle ist der Part, den Andreas Wolfram in „Der Medicus“ spielt: Karim, Student an der Madrassa und Neffe des Schah, rückt nach dem Pesttod seines Onkels in der Thronfolge auf und wird selbst zum Herrscher Persiens. Im Interview spricht Andreas Wolfram sehr detailliert und mitreißend über seine Rolleninterpretation, den Wandel, den Karims Persönlichkeit nimmt und über das, was uns „Der Medicus“ für die heutige Zeit mitgibt.
Hatten Sie Noah Gordons Roman gelesen, bevor Sie die Zusage für „Der Medicus“ erhielten?
Ich bin ganz jungfräulich zu dem Stück gekommen und habe weder den Film gesehen noch das Buch gelesen. Das mache ich gerne so, denn es hat den großen Vorteil, dass man ganz unvoreingenommen an eine Rolle herangehen kann. Aus dem Drehbuch und der gemeinsamen Arbeit im Probenprozess kann man dann sehr viel generieren. Manchmal schaue ich mir nach Ablauf der Produktion die Originalvorlage an, um dann immer wieder festzustellen, dass es gut war, es nicht im Vorfeld getan zu haben. Auch wenn es unterbewusst ist, neigt man doch dazu, sich selbst durch eine bestimmte Erwartungshaltung einen Rahmen zu stecken und sich dadurch einzuengen.
Dann war die Veränderung, die gerade Ihre Rolle im Vergleich zum Buch für das Musical erfahren hat, bei Ihrer Vorbereitung gar nicht relevant?
Genau. Ich weiß natürlich, dass der Schah und Karim im Roman zwei Personen sind. Im Musical wie im Buch studiert Karim an der Madrassa bei Ibn Sina Medizin, zusammen mit Mirdin und Rob. Aber bei uns ist er ein Neffe des Schah, der in der Thronfolge aufrückt, da sein Onkel und dessen Söhne an der Pest sterben. Plötzlich ist Karim selbst der Herrscher des persischen Reiches. Von jetzt auf gleich rutscht er nicht nur in seinem gesellschaftlichen Status ganz nach oben, sondern er hat zugleich immense Macht. Und das verändert ihn. Man muss sich genau überlegen, wie man diese Transformation darstellt, die es ja im Buch so gar nicht geben kann, weil es da zwei verschiedene Menschen sind. Durch die Verschmelzung der Buchcharaktere ist die Entwicklung der Figur hier viel breiter angelegt: Wie ist Karim anfangs? Wie verändert ihn die neue Machtposition? Wie endet er?
Gehen wir zuerst zum Anfang: Warum will Karim eigentlich Arzt werden?
Ich glaube gar nicht, dass er überhaupt Arzt werden will. Er ist so ein verwöhnter, blaublütiger Partytyp. So ist er jedenfalls in meiner Vorstellung. Auch Ibn Sina sagt: „Das Lernen fiel ihm schwer“. Karim stammt aus reichem Hause, er hat seinen Platz in der Thronfolge, sein Weg ist vorbestimmt. Egal, was er macht, er wird immer wieder auf die Füße gestellt – und das muss er nicht einmal aus eigener Kraft schaffen. Er ist eigentlich für den Arztberuf gar nicht geeignet, kann dies nicht und jenes nicht. Aber er studiert halt mal Medizin. Dumm ist er nicht, aber er verhält sich einfach nicht wie ein disziplinierter, ambitionierter Student. Er macht sich viel lieber einen schönen Tag, feiert mit seinen Freunden auf dem Maidan, dann raucht er ein bisschen Mohn, alles ist toll und das Leben ein Knallbonbon. Das ist seine Devise.
Er spürt also keine Berufung, so wie Rob oder Mirdin?
So etwas braucht er doch gar nicht. Das kann man schön mit der Maslowschen Bedürfnispyramide verdeutlichen. Ich hoffe, ich krieg‘ das noch richtig hin: Ganz unten sind die Grundbedürfnisse, Essen und Trinken, darüber Sicherheit. Dann kommen soziale Kontakte, dann der Wunsch nach Ansehen, Erfolg und Freiheit. Und ganz oben steht die Selbstverwirklichung. In unserer und in vielen anderen Gesellschaften kommt man ja bei der Selbstverwirklichung vor lauter Abarbeiten der anderen Stufen kaum noch an. Aber bei Karim fallen diese elementaren unteren Stufen weg. Er ist so reich, er muss sich um nichts kümmern. Deshalb hat er hier auch keine Triebfeder. Seine Selbstverwirklichung generiert er aus der Freude am Leben.
Um bei der Bedürfnispyramide zu bleiben: Seine sozialen Kontakte sucht Karim bei Mirdin und Rob. Was liegt ihm ausgerechnet an einer Freundschaft zu diesen beiden?
In meiner Interpretation fasziniert Karim diese ganz andere Lebensart von Rob und Mirdin mehr, als er je zugeben würde. Außerdem bewundert er Rob für seinen Mut und seine Geradlinigkeit. Bis zum Schluss hört er sich an, was Rob zu sagen hat. Das müsste er ja nicht – er könnte auch einfach sagen, Schluss jetzt, Du fügst Dich oder Du wirst geköpft – aber es interessiert ihn. Karim akzeptiert und respektiert Rob als Freund bis zum Schluss. Und Karim ist sehr offen. Ich halte ihn nicht für besonders intellektuell, aber er hat sich eine instinktive Neugierde bewahrt. Er lehnt andere Kulturen nicht kategorisch ab, sondern setzt sich damit auseinander, informiert sich und versucht, die Dinge auch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Das ist für mich das Tolle an der Beziehung zwischen Karim und Rob: Sie halten beide bis zum Schluss an ihrer Meinung und ihrer Mentalität fest, setzen sich aber mit dem Standunkt des anderen auseinander.
Wieso beruft Karim Mirdin als Leibarzt und nimmt ihn mit auf den Feldzug gegen die Seldschuken?
Aus Leichtfertigkeit. Ich glaube, dass er es genau so meint, als er sagt, dass sie zusammen eine großartige Zeit verbringen werden. Keinesfalls will er Mirdin ins offene Messer laufen lassen. Karim macht sich die Gefahr nicht bewusst. Er ist zwar in seiner neuen Position als Schah, aber immer noch der gleiche blauäugige Karim, für den das Leben eine einzige große Party ist. Sein Freund Mirdin kommt jetzt einfach mit, sie gehen zusammen auf den Feldzug und haben Spaß.
Will er diesen Feldzug eigentlich?
Ja, ich glaube, den will er schon. Dass er da offensichtlich eine militärische Fehlentscheidung getroffen hat, wird ja erst klar, als die Seldschuken mit einer übermächtigen Armee vor den Toren Isfahans stehen und sich rächen wollen. Aber durch die Mischung aus Macht und Drogen hat er sich überschätzt. Karim experimentiert mit bewusstseinserweiternden Substanzen herum. Er sagt anfangs, dass er von dem Mohn, der in der Madrassa als Betäubungsmittel verwendet wird, ab und zu mal etwas mitgehen lässt, weil der nicht nur betäubend, sondern auch inspirierend wirkt. Unter Drogen trifft man andere Entscheidungen. Aber der zentrale Punkt ist für mich gar nicht die charakterliche Entwicklung, sondern der Konflikt zwischen Freundschaft und dem Druck aus der Erwartungshaltung, der auf ihm liegt, weil er jetzt der Schah ist. Karim betont ja mehrfach die ewige Freundschaft, die ihn, Rob und Mirdin verbindet. Er ist jetzt zwar der Schah und alle müssen sich ducken, vor ihm kuschen, rennen und tun, was er will. Aber Rob, Mirdin und er selbst sind und bleiben Freunde, zwischen denen es keine Hierarchie gibt.
Ist es ihm deshalb auch egal, dass die beiden Juden sind?
Es ist für ihn nicht wichtig, auch wieder aus einer gewissen Naivität heraus. Aber ich denke er versteht, dass ihn seine Toleranz auch gefährdet. Bei Mirdin ist das Thema gegessen, er ist zu dem Zeitpunkt schon tot. Karim ist klar, dass der große Spielraum, den er Rob gewährt, auch ihm selbst schaden könnte. Deshalb zieht er die Reißleine.
Sie meinen die Szene, als Rob den calaat öffentlich ablehnt?
Genau. Schon als Rob zunächst die Sklavin ablehnt, die Karim ihm schenken will, warnt er ihn: „Ich biete dir einen calaat und einen calaat des Schah darf man nicht ablehnen“. Das ist ein völliges No-Go und ein ganz wichtiges gesellschaftliches Gesetz. In dieser Situation geht soweit noch alles in Ordnung, denn da sind sie unter sich. Aber später lehnt Rob trotz dieser Warnung einen weiteren calaat öffentlich ab. Damit untergräbt er Karims königliche Ehre. Diese kann nur wiederhergestellt werden, indem der Schah Rob hinrichten lässt oder die Ehre seines Weibes opfert. Er kann nicht einfach nichts tun. Karim gewährt Rob immer mehr Freiraum als allen anderen, aber er muss auch seiner Position entsprechend handeln. Das zeigt, dass Karim als Schah eine gewisse Reife erlangt hat. Er hat verstanden, dass das Leben nicht nur Party und Freundschaft und nach mir die Sintflut ist, sondern dass er eine gesellschaftliche Aufgabe hat. Er muss beides unter einen Hut bringen. Er will das Leben seines besten Freundes und gleichzeitig seine königliche Ehre retten. Er vergewaltigt nicht mal eben eine Frau, weil er Lust darauf hat oder böse ist.
Was geht in Karim eigentlich vor, als er Mary schändet?
Darüber haben wir sehr lange gesprochen. Es gibt ganz unterschiedliche Interpretationen, deshalb haben wir eine gewisse Grundneutralität gewahrt und die Szene nicht übermäßig emotionalisiert, damit jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden kann. Indem er Mary schändet, rettet Karim Robs Leben. Das ist eine Tatsache. Aber wie steht Karim der Vergewaltigung als solcher gegenüber? Es gibt da mehrere Möglichkeiten: Es tut im leid. Es ekelt ihn an. Es macht ihm Spaß. Er genießt die eigene Macht. Er hat sadistische Züge. Oder eine Kombination davon. Es kann auch sein, dass er sich in gewisser Weise gut fühlt, denn er ist der Meinung, etwas Gutes zu tun, nämlich das Leben seines besten Freundes zu retten. Aus seiner Sicht handelt er nach bestem Wissen und Gewissen, er entscheidet sich in dieser Situation für das Bestmögliche. Mir ist immer wichtig, bei Figuren, die oberflächlich als böse wahrgenommen werden, das Positive zu suchen und zu spielen. Sonst wird es eindimensional. Es gibt genug Beispiele in der Musicalszene, in denen der Böse halt böse ist, alle zittern vor Angst – das ist so richtig schön klischeehaft. Und langweilig. Viel interessanter ist, das Andersartige innerhalb des Offensichtlichen zu finden. Natürlich muss das, was im Text steht, auch da sein. Eine Vergewaltigung ist nicht richtig. Aber die Szene wird spannender, wenn man auch den anderen Aspekt betrachtet – Karim rettet Rob das Leben. Die Alternative wäre, dass Rob stirbt. Und das wäre für Mary jetzt auch nicht so toll.
Vielleicht kann das auch aufzeigen, dass vieles im Leben zwei Seiten hat?
Natürlich. Alles im Leben. Für mich ist das eine ganz wichtige Botschaft. Ohren auf. Augen auf. Dem anderen zuhören. Empathie. Sich bewusst von Zwängen und antrainierten Meinungsautomatismen distanzieren, um die andere Kultur zu verstehen. Nur wenn ich auf den anderen zugehen kann, nur wenn ich den anderen verstehen kann, lassen sich Konflikte vermeiden. Auseinandersetzungen vermeiden. Kriege vermeiden. Nur über Kommunikation und Empathie. Aktueller als jetzt kann das Thema gar nicht sein. Die Leute hören nicht zu, sind zu schnell mit Meinungen zur Hand. So entstehen Konflikte. Sinnvoller wäre, nicht pauschal zu urteilen, sondern sich erst einmal beide Standpunkte anzuhören, sich zu informieren, kritisch und zugleich offen zu sein und sich dann eine Meinung zu bilden.
Welche Seite der Rolle ist für Sie in der Darstellung spannender?
Spannend ist die ganze Entwicklung. In der einen Seite blitzt die andere schon auf und umgekehrt. Rein technisch spannend ist es auch mit dem Publikum. Das hat irgendwann beschlossen, den Karim nicht so ganz ernst zu nehmen. „Naja, das ist halt der Karim“. Man erkennt es beispielsweise daran, dass die Leute lachen, wenn Ibn Sina sagt, dass Karim nur ein mittelmäßiger Arzt geworden wäre. Warum wird denn da gelacht? Klar, weil die Zuschauer das wissen. Der Karim, der im ersten Akt herumgealbert und gefeiert hat, soll nun das persische Reich führen. Als ich dann als Schah die Bühne betrete, mache ich gar nichts und es wird schon gelacht. Jetzt ist es spannend, darstellerisch so die Kurve zu kriegen, dass den Leuten das Lachen irgendwann im Hals stecken bleibt. Es muss klar werden, dass hier eben nicht mehr „halt der Karim“, sondern ein Mensch steht, der sich verändert hat. Einer, der jetzt Herrscher und gewohnt ist, dass die Leute sich ihm gegenüber unterwürfig verhalten. Diese neue Macht hat ihn verändert. Aber auch die besonderen Umstände, also die Tatsache, dass er die Freundschaft zu Rob aufrecht erhalten möchte, gesellschaftliche und politische Zwänge in aber stark unter Druck setzen.
Karim versucht Rob klarzumachen, dass jeder – auch der Schah – sich den Spielregeln beugen muss. Rob ist überzeugt, dass jeder Mensch die Wahl hat. Wie sehen Sie das?
Für mich ist es eine Frage der Verantwortung. Wenn man grundsätzlich sagt, dass alles Schicksal, vorherbestimmt und Gottes Wille ist, würde das ja bedeuten, dass man eh nichts ändern kann, egal, was man tut. Das ist ganz dünnes und ganz gefährliches Eis, weil man die Verantwortung für sein Tun komplett aus der Hand gibt. Dann könnte ich ja auch soweit gehen, einfach im Supermarkt einen Apfel zu klauen – weil es ja vorherbestimmt ist. Zu Karims Verhalten passt es, er sagt, Gott und Teufel spielen Schach und wir sind nur Figuren in diesem Spiel. Dem Schicksal ist egal, was wir vom Leben wollen – alles ist vorherbestimmt. Ich glaube, dass Robs Einstellung, Verantwortung zu übernehmen, diesem hundertprozentigen Schicksalsdenken vorzuziehen ist.
Als Karim/Schah tragen Sie natürlich auch Ihren Teil der Verantwortung für das Musical. Es fällt auf, dass Sie in vielen Szenen Soli singen und gleichzeitig das Ensemble tänzerisch anführen. Das haben Sie sich aber nicht erst für „Der Medicus“ antrainiert, oder?
Nein (lacht). Dazu gehört sehr viel Erfahrung. Ich tanze seit ich neun Jahre alt bin. Früher habe ich Tanzsport gemacht, Formationstanz. Ich war deutscher Vizemeister, zwei Mal Weltmeister und zwei Mal Europameister. Da lernt man natürlich, Bewegungen ganz sauber und mit guter Dynamik auszuführen. Auf der anderen Seite darf man sich nicht den Atemapparat weghauen und total angespannt sein. Sonst kommen die Töne nicht. Es hängt viel von der richtigen Koordination ab. Das ist es, was ich an dieser Rolle und generell an „Der Medicus“ so mag: Es ist ein richtiges Musical, in dem Theater, Musik und Tanz in einem sehr ausgewogenen Verhältnis stehen. Man muss immer Freude an seinen Aufgaben haben. Karim in „Der Medicus“ zu spielen, ist bei jeder Vorstellung wieder eine große Freude. Es ist einfach ein ganz tolles Stück.
Interview: Sylke Wohlschiess
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