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Interview mit Gian Marco Schiaretti:
Ich folge immer meiner Emotion

schiaretti01Im März 2013 kam Gian Marco Schiaretti aus seiner italienischen Heimat nach Hamburg, um die Titelrolle in Disneys „Tarzan" zu übernehmen – ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Inzwischen ist er mit dem Musical nach Stuttgart umgezogen und erzählt im Interview von Sprachkursen, von Affen und Menschen, Fitnesstraining und Fliegen. Und zwar problemlos in deutscher Sprache.

War es so etwas wie ein Kindheitstraum von Ihnen, den Tarzan zu spielen?
Jeder kennt den Disney-Zeichentrickfilm, auch ich habe den als kleiner Junge gesehen und natürlich ganz toll gefunden. Als Kind hat Tarzan mich schwer beeindruckt. Irgendwie ist es total merkwürdig, jetzt in dieser Rolle auf der Bühne zu stehen. Ja, die Rolle ist wirklich etwas Besonderes.

Bevor man den Traum realisieren kann, steht die Ausbildung.
Genau. Seit ich klein war, war es mein Traum, Schauspieler zu werden. Aber trotzdem hatte ich zuerst einen „ganz normalen" Beruf angestrebt:

Die Medizin hat mich auch schon immer interessiert, ich stand kurz davor, ein Medizinstudium zu beginnen. Letztlich habe ich mich dann aber doch für die Bühne entschieden. In meiner Heimatstadt Parma studierte ich bei verschiedenen Gesangslehrern sowohl klassischen Gesang als auch Musical. Mir war wichtig, beides kennenzulernen, in beidem gut zu sein und meine Möglichkeiten optimal zu nutzen. Natürlich habe ich auch eine Schauspielschule absolviert. Ich konnte glücklicherweise schon früh Bühnenerfahrungen sammeln, weil ich bereits während der Ausbildung Rollen übernommen habe. Ausbildung und Arbeit gingen Hand in Hand, das hat mir sehr gut gefallen.

Hatten Sie schon Deutschkenntnisse, als Sie zur Audition für „Tarzan" gegangen sind?
Nein. Ich hatte in der Schule nur Englisch und Französisch, ich konnte kein Wort Deutsch. Nur bei der allerersten Audition durfte ich in englischer Sprache singen, aber schon in der nächsten Runde war Deutsch Pflicht. Das war am Anfang sehr schwer für mich, weil die Sprache mir ja total unbekannt war. Aber wenn es etwas gibt, das bezeichnend für mich ist, dann auf jeden Fall, dass ich gerade die größten Herausforderungen am meisten liebe. Die schwierigsten Auditions habe ich immer am liebsten gemacht. Um eine Chance auf diese Rolle zu haben, habe ich schon in Italien ganz intensiv begonnen, deutsch zu lernen. Freunde, die die Sprache beherrschen, haben mit mir geholfen, ich habe sehr, sehr viel geübt. Natürlich war den Verantwortlichen bekannt, dass ich die Sprache überhaupt nicht kenne, anfangs waren sie in dieser Hinsicht nicht so streng, da waren andere Parameter viel wichtiger. Das Deutsch kam später. Aber es war ja mein Wunsch und mein Ziel, in Deutschland zu leben und zu arbeiten, also war es auch meine Aufgabe, für das Sprachproblem eine Lösung zu finden. Als ich im März 2013 nach Deutschland kam, hatte ich noch vier Monate Vorbereitungszeit. In Verbindung mit der Show war das Phonetiktraining zunächst am wichtigsten, aber gleich anschließend kamen Grammatikstunden und alles andere. Das war echt ein Fulltime-Job. Mir ist sehr wichtig, mein Deutsch immer weiter zu verbessern, jeden Tag zu sprechen und zu lernen. Anfangs musste ich mich noch sehr auf die richtige Aussprache der einzelnen Worte konzentrieren, aber nach dieser Phase war ich gut für die Show vorbereitet und konnte in meine Darstellung alle Gefühle einbringen.

Was gefällt Ihnen an der Tarzan-Geschichte besonders gut?
Ich mag den Film und den Zeichentrickfilm ebenso gerne wie das Musical. Meiner Meinung nach wurde der Stoff für das Musical mit viel Feingefühl umgesetzt. Beim Zeichentrickfilm fand ich die Bewegungen echt super, das anzuschauen hat mich ziemlich fasziniert. Und im Musical ist natürlich die „Verwandlungsszene" ganz wichtig, als Tarzan erkennt, dass er kein Affe, sondern ein Mensch ist. Ebenso emotional ist direkt danach die Abschiedsszene mit Kala. Tarzan und seine „Affenmutter" treffen sich ein letztes Mal. Kala ist klar, dass Tarzan nun die Wahrheit über sein Dasein erkannt hat und beide wissen, dass dies der letzte Moment ist, in dem sie zusammen sein können, wie sie es gewohnt sind. Diese zehn Minuten der Show sind großartig und einfach herrlich zu spielen. Und auch für die Zuschauer sind das grandiose Momente. Am Anfang saß ich ja auch im Publikum und war total begeistert. Ich konnte fast nicht mehr atmen. Es war wunderbar.

schiaretti03Was ist Ihnen bei Ihrer Darstellung besonders wichtig?
Ich folge immer meiner Emotion. Gerade diese Szene ist für mich jeden Tag wieder neu. Einmal überwiegt die Traurigkeit, einmal mehr das Gefühl einer Offenbarung. Das ist abhängig davon, wie ich mich an diesem Tag fühle, was ich erlebt habe – und das fließt in meine Darstellung ein. Währen der Probenphase war die Zusammenarbeit mit unserem Regisseur Jeff Lee sehr wichtig für mich. Wenn es um technische Abläufe, um die Position auf der Bühne und Ähnliches geht, muss man sich natürlich exakt an die Vorgaben halten. Aber speziell die Vorbereitung auf diese „Verwandlungsszene" war etwas ganz Besonderes, weil ich hier frei agieren durfte. Jeff sagte, ich solle einfach spielen, was ich fühle. Er wollte nicht zu viel Drama, denn die Szene ist per se dramatisch genug. Tarzan ist mit einer völlig neuen Situation konfrontiert, die aber zugleich tief in seinem Unterbewusstsein wurzelt. Er hat diese Gefühle, diese Erinnerungen, er ist ja ein Mensch. Das war das vorgegebene Konzept, das ich völlig frei ausgestalten konnte. Mir ist es ganz wichtig, immer ich selbst zu sein. Das ist für jede Rolle wichtig, erst recht, wenn es um solche überwältigenden Emotionen geht. Ein Gefühl ist immer etwas Ursprüngliches, etwas Natürliches, das darf nicht künstlich und aufgesetzt rüberkommen. Ich bringe immer meine Gefühle ein und erlebe so die Rolle immer wieder neu. Ich liebe das.

Was ist Tarzan – ein Mensch? Ein Affe? Irgendetwas dazwischen?
Tarzans Gefühle sind menschlich. Aber gleichzeitig ist er auf eine unschuldige Art neugierig, wie ein Tier. Wir waren oft im Zoo, um das Verhalten und die Bewegungen der Gorillas zu studieren. Es ist ganz toll, zu erleben, wie neugierig diese wunderbaren Tiere sind, wenn man mit ihnen in Kontakt kommt. So ist das auch bei Tarzan. Ich finde das unglaublich faszinierend: Er steht wirklich irgendwo zwischen seinen leidenschaftlichen, menschlichen Gefühlen und den Verhaltensweisen eines Tieres. Tarzan ist so etwas wie ein natürlicher Held, körperlich total fit, ganz unverfälscht, mit spontanen Wünschen, völlig authentisch. Ich meine, jetzt mal ehrlich: jeder Mann liebt diese Rolle.

Wie sieht Tarzan sich selbst?
Er weiß nicht, dass er ein Mensch ist. Er spürt aber, dass er anders ist. Genau das ist das Drama, das man auf der Bühne sieht. Er hat immer Zweifel, schon als Kind. Während der ganzen Show steht immer die Frage „Wer ich wirklich bin" im Raum. Tarzan versucht immer, alles genau wie die Gorillas zu machen, wie sie zu leben, sich genau wie sie zu bewegen. Aber es gelingt ihm nicht, er kann es gar nicht schaffen. Die Gorillas sind viel stärker, viel gewandter. Tarzan kann nicht auf die hohen Bäume klettern. Er ist aber klüger. Bei ihm wirkt alles ein bisschen menschlicher. Tarzan ist ein Mann, der versucht, ein Gorilla zu sein. Diesen Unterschied muss ich auf der Bühne sichtbar machen.

Wie stehen seine „Affeneltern" zu ihm?
Kala fühlt sich als seine Mutter. Sie versucht immer, seine Zweifel zu zerstreuen und betont die Gemeinsamkeiten: Wir haben zwei gleiche Hände, jeder hat zwei Augen, jeder hat eine Nase. Am Ende ist es nicht wichtig, was du bist, denn wir sind gleich und werden das für alle Ewigkeit sein. Diese berührende Szene mit Tarzan als Kind ist für mich immer wieder schön zu sehen. Auf der anderen Seite ist da Kerchak, er steht für die Realität. Er ist immer streng mit Tarzan, er sagt ihm nie, dass er ein Affe wie alle anderen ist. Für Kerchak bleibt Tarzan immer ein Außenseiter und eine latente Gefahr. Aber Kerchak ist eine tolle Rolle, ein herzensguter Charakter. Er respektiert und liebt Kala, deshalb konfrontiert er Tarzan nicht mit der Wahrheit. Erst ganz am Schluss sieht Kerchak Tarzan dann doch als Teil der Sippe.

Beeinflussen Ihre Bühnenpartner Ihr Spiel?
Ja, die Interaktion mit den Kollegen hat schon einen gewissen Einfluss. In der Theaterwelt steht man immer wieder mit anderen Schauspielern auf der Bühne. Jeder hat etwas Besonderes zu geben, zu erklären, zu singen. Ich finde das total toll. Merle Hoch, die die Jane spielt, und ich hatten sofort einen super Draht zueinander. Wir haben gemeinsam unsere Erfahrungen gemacht, unsere Rollen miteinander entwickelt – echt klasse. Jeder Darsteller bringt wieder neue Nuancen ein, es gibt immer neue Facetten, was gut für die Show ist.

schiaretti02Für diese Rolle muss man körperlich extrem fit sein. Haben Sie speziell dafür trainiert?
Mein Prozess war eigentlich eher das Gegenteil. Ich hatte ein bisschen viel Bodybuilding gemacht und musste für Tarzans Bewegungen mehr Flexibilität bekommen. Also war anfangs weniger Fitnesstraining angesagt, dafür aber viel Yoga, Stretching und Schwimmen. Inzwischen habe ich eine sehr gute Balance gefunden. Ich treibe leidenschaftlich gern Sport, da kann ich mich auch gar nicht stoppen, ich bin das so gewohnt. Aber ich trainiere jetzt sehr ausgewogen, mache beispielsweise auch viel Crossfit-Training. Das ist eine sehr effiziente Trainingsmethode mit besonderen funktionellen Bewegungen von hoher Intensität. Teils arbeitet man mit Gewichten, teils sind es Turn- und Sprintübungen. Es ist gut für den Fettabbau, Muskelaufbau und für das Herz. Für Tarzan finde ich das perfekt. Ich mache das immer – außer Montags. Ich folge der Theaterwoche: Montags ist mein freier Tag. Da gibt's dann auch Pizza.

Sind die Flugszenen nicht gefährlich? Haben Sie nie Angst, es könnte mal irgend eine Panne geben?
Nein, ich habe keine Angst. Es ist nicht gefährlich, weil die beste Technik verwendet wird und die besten Techniker daran arbeiten, dass alles immer perfekt funktioniert und hundertprozentig in Ordnung ist. Es gibt viele Sicherheitsvorkehrungen: Die Wände und der Bühnenboden sind gepolstert, die Bungeeseile sind außerhalb der Showzeiten immer unter Verschluss, da kommt keiner dran. Spezielle Flugsicherheitsmanager achten bei jeder Show auf unsere Sicherheit. Wir sind natürlich auch alle sehr gut vorbereitet und trainiert. Was man aber trotzdem immer braucht, ist besondere Aufmerksamkeit und absolute Disziplin. Du kannst nicht alles kontrollieren, beispielsweise ist die Position während des Flugs jeden Tag anders. Du musst jeden Tag mit diesem Unterschied spielen und immer bereit für das Unerwartete sein, damit Du sofort reagieren kannst.

Die Rolle hat eine große schauspielerische Bandbreite. Was mögen Sie mehr: die ernsten Szenen oder die lustigen Momente?
Eine gute Show braucht immer beide Seiten. Sowohl die komischen als auch die dramatischen Momente müssen eine stimmige Verbindung mit der Geschichte haben. Ich mag es nicht, wenn man die Pointe erst erklären muss; das muss spontan lustig sein. Und irgendetwas nur zu tun, um den Zuschauern zu gefallen, das ist auch nicht so meins. Komik und Drama müssen immer zum Stück passen. Aber mir ganz persönlich hat es die Opernwelt besonders angetan: Ich liebe Drama. Ich habe ja bis 2010 den Mercutio in „Giulietta e Romeo" gespielt, einer modernen italienischen Oper von Riccardo Cocciante, mit der wir fünf Jahre auf Tournee waren. Das war Drama pur, also, kein bisschen komisch.

Waren Sie danach nicht auch mit Riccardo Cocciante auf Tournee?
Ja, genau. Die Tour hieß „Cocciante sings Cocciante". Ich habe Lieder aus „Giulietta e Romeo" und „Notre Dame de Paris" gesungen, die ja beide von Riccardo komponiert wurden. Diese Konzerte waren großartig und es war eine Ehre für mich, dabei sein zu dürfen. Ich war anfangs echt besonders nervös, denn immerhin stand ich ja mit dem Komponisten gemeinsam auf der Bühne und habe auch mit ihm zusammen gesungen. Das ist eine große Verantwortung. Aber es war herrlich. Vor allem die 13 Auftritte in der Arena von Verona waren einzigartig. Es war jedes Mal etwas Besonderes und jedes Mal wurde es zu einer größeren Herausforderung. Anfangs ist alles so neu, man ist förmlich überwältigt. Dann wird man sich immer mehr bewusst, was für ein besonderes Theater das ist, mit diesem riesigen Zuschauerraum, in dem 13.000 Leute Platz haben. Und alle sind wegen dir gekommen. Das ist ein grandioses Gefühl, es verursacht auch ziemliches Lampenfieber. Aber für mich gehört das dazu: Lampenfieber vor dem Auftritt ist Teil des Theaterlebens.


Interview: Sylke Wohlschiess

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