Interview mit Merle Hoch:
Ich möchte, dass die Zuschauer mir glauben

Dass sie ihr Studium an der Folkwang Universität Essen als Jahrgangsbeste abgeschlossen hat, macht Merle Hoch fast ein wenig verlegen. Viel wichtiger als Schulnoten sind für die symphatische Künstlerin Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit auf der Bühne. Nachdem Merle Hoch am Theater für Niedersachsen, bei den Vereinigten Bühnen Bozen, am Nationaltheater Mannheim und auch schon in London spielte, schwingt sie seit der Stuttgarter Premiere als Erstbesetzung in Tarzans Armen durch den Dschungel. Ein bisschen neidisch auf die „Affen" ist sie aber trotzdem.

Jane im Musical „Tarzan" ist Ihre erste Hauptrolle in einer großen Produktion. War es auch Ihre Traumrolle?

Nein, ehrlich gesagt nicht. Traumrollen hatte ich schon, aber die wurden im Grunde alle nicht realisiert. Rollen dagegen, an die ich gar nicht dachte, die habe ich bekommen. Ich glaube, bisher habe ich noch nie eine Rolle gespielt, die ich mir vorher erträumt habe, und ich habe es noch nie umgekehrt erlebt. Es kommt halt immer anders, als man denkt. Außer mit dem „Dschungelbuch" war ich mit Disney nicht sehr vertraut, ich bin auch in meiner Kindheit damit kaum in Berührung gekommen. Aber dann hörte man immer öfter, dass „Tarzan" bald ausgeschrieben wird. Ich habe mich dann mit dem Stück befasst und dachte, dass Jane eigentlich eine total coole Rolle ist – eben nicht die typische Disney-Prinzessin, sondern sozusagen das Disney-Dschungelmädchen. Sie hat irgendwie Kern und sie macht eine Entwicklung durch. Je mehr ich mich auf die Thematik eingelassen habe, desto spannender fand ich es. Und inzwischen ist die Jane wirklich zu einer Traumrolle für mich geworden.

Jane ist doch eigentlich ziemlich oberflächlich, oder? Kaum sieht sie den gut aussehenden „Ur-Mann", ist ihr Forscherdrang ja offensichtlich dahin...
Ja, sind wir denn nicht alle so? Also, ich kann mich damit absolut identifizieren. Ich wäre gerne anders, aber... nein... (lacht). Also, ich könnte natürlich jetzt sagen, dass sie doch gar nicht oberflächlich ist. Und wenn man tiefer in die Geschichte einsteigt, wird das auch klar. Aber ein bisschen stimmt es schon. In dem Moment, als sie Tarzan das erste Mal sieht, ist es einfach Liebe auf den ersten Blick. Obwohl das Phänomen ja schon ungefähr 80 Millionen Mal erforscht wurde, weiß man immer noch nicht, warum das passiert und warum in dem Moment und warum mit dem Menschen. Und weil sie sich so aus heiterem Himmel verliebt, vergisst sie erst einmal alles, egal, wie interessant und schön all das Unbekannte um sie herum auch sein mag. Sie sieht ihn und es ist sofort um sie geschehen. Irgendwie kein Wunder... ich meine, wenn ich mich daran erinnere, wie es mir ging, als ich mich zum ersten – vielleicht auch zum zweiten oder dritten – Mal verliebt habe, war es ganz ähnlich. Egal, wie wichtig Freunde oder Familie auch sind, in dem Moment, in dem es einen trifft, ist alles andere – leider – egal. Ich kann mich an keinen Satz mehr erinnern, den dieser Mann gesagt hat und an gar nichts mehr, ich weiß nur noch, er war der tollste, der schönste Mann auf der ganzen Welt, über Jahre.

Als was sieht Jane Tarzan – als Mann, als Forschungsobjekt, als Kuriosum?
Vermutlich von allem ein bisschen. Sie sieht ihn und kann im ersten Moment nicht so genau einordnen, wer oder was da eigentlich vor ihr steht. Irgendwie ist ihr schon klar, dass das ein Mensch ist, kein Tier. Auf jeden Fall ist das ja wohl ein ziemlich merkwürdiger Mann, oder Affenmann, oder was auch immer. Wieso bewegt der sich so anders, so wie ein Tier? Wieso spricht er nicht ihre Sprache? Und was tut der überhaupt im Dschungel? Wieso ist der hier? Die Forscherin in ihr möchte diesem Rätsel auf den Grund gehen. Außerdem benimmt er sich ja auch ganz anders, als sie als braves englisches Mädchen es gewohnt ist. Der kommt so mir nichts dir nichts auf sie zu, fasst sie an ihre nackten Arme, reißt ihre Jacke auf - das geht ja eigentlich gar nicht. Ich glaube, im übertragenen Sinn treibt die Geschichte von Tarzan und Jane das auf die Spitze, was uns auch in der Realität passiert, wenn wir so unerwartet die große Liebe treffen. In dem Moment ist alles irgendwie zu viel. So geht es auch Jane. Sie erlebt etwas ihr völlig Unbekanntes, etwas, das sie nicht in ihren Büchern findet und überhaupt nicht versteht. Es ist pure Emotion. Im Lauf der Geschichte wird ihr dann komplett klar, dass er zwar bei den Gorillas aufgewachsen, aber selbst ein Mensch ist, ein Mann. Sie verbringen viel Zeit miteinander, sie bringt ihm das Sprechen bei, er zeigt ihr seine Welt. Auch seine Affenmutter lernt Jane kennen. Sie fangen an, einander zu verstehen. Sie sind unterschiedlich – und doch gleich.

Was zeichnet Jane aus?
Irgendwie hat sie für mich alles. Am schönsten finde ich, dass sie so mutig ist, total ohne Angst, total lebensbejahend. Zu einer Zeit, als das für ein Mädchen absolut ungewöhnlich war, macht sie einfach mit ihrem Vater diesen Riesentrip. Das zeigt ja auch, dass er sie sehr weltoffen erzieht. Das war bei mir vielleicht ganz ähnlich. Meine Eltern haben mich immer ermutigt. Anstatt zu sagen, ich soll auf mich aufpassen, hieß es immer „geh raus, das kannst du machen, trau dich, es passiert dir schon nichts." Und Jane traut sich auch, weil sie so wissbegierig ist. Warum sollte sie sonst diese Reise auf sich nehmen? Sie weiß ja vorher nicht, dass ihr im Dschungel die große Liebe begegnen wird. Sie ist klug und mutig und zudem eine wohlerzogene, hübsche junge Dame. Kein Wunder, dass Tarzan sich in sie verliebt. Aber was die Liebe betrifft, ist sie doch noch ein kleines Mädchen und sich ihrer Reize gar nicht bewusst. Ich glaube, dass auch ihre Neugier und ihre Offenheit sehr anziehend auf Tarzan wirken. Sie ist total unaffektiert, ganz natürlich, wie ein Kind, das in einem riesigen Süßigkeitenladen steht und alles toll findet. Oder an den Strand fährt und zum ersten Mal das Meer sieht. Oder die Berge. Damit kann ich mich total identifizieren, das ist so, als ob ich neben der Zugspitze stehe und ganz überwältigt bin. Ich bin so klein, die Welt um mich herum so unendlich groß. Das hilft mir absolut, Janes Gefühlswelt nachzuempfinden.

Den Forscherdrang können Sie vielleicht besonders gut nachvollziehen, Sie haben ja mal...
... Mathe studiert, stimmt. Ich habe lange versucht, das zu verschweigen, aber sobald man es einmal gesagt hat, ist es halt raus. Ich finde das ja schön, dass alle das so spannend finden. Ich fand es leider nicht so spannend. Aber alles mit Zahlen fällt mir leicht, das liegt in unserer Familie. Meine Eltern sind beide Lehrer, mein Bruder Ingenieur. Sogar meine Oma wollte als junge Frau Forscherin werden und hat sich für Archäologie interessiert. Also, ein bisschen habe ich mich früher auch gesehen, wie ich Muscheln abpudere und so. Ich untersuche gerne Dinge. Es macht einfach Spaß, wenn man eine Lösung findet. Wenn ich heute darauf angesprochen werde, finde ich es echt total witzig; es stimmt ja, ich habe mal Mathematik studiert. Aber heute kann ich mich damit nicht mehr identifizieren. Ich kann mich zwar sogar noch an Klausuren erinnern und wie toll ich es fand, wenn die Gleichung aufging, die Naturwissenschaftlerin steckt schon noch in mir drin. Nur, ich beschäftige mich nicht mehr so viel mit ihr, es sei denn, ich stehe als Jane auf der Bühne.

Wie bereiten Sie sich auf den Auftritt vor?
Wenn man acht Mal pro Woche auf der Bühne steht, muss man das Spiel frisch halten. Dass Jane so ein vielschichtiger Charakter ist, gibt mir die Möglichkeit, immer ein bisschen zu variieren und in der Darstellung mal zur einen, mal zur anderen Seite zu tendieren. Unsere Abendspielleiter behalten natürlich im Auge, dass ich nicht versehentlich Jeanne d'Arc oder Sophie aus „Mamma Mia!" spiele. Bevor ich auf die Bühne gehe, gibt es einen Moment, in dem ich mich ganz frei mache. Ich schüttle alles ab, lasse Merle draußen stehen. Ich komme ja vom Tanz und dachte früher immer, ich muss mich körperlich einstimmen. Das hat sich verändert. Klar, nachmittags mache ich mich fit, gehe vielleicht eine kurze Runde joggen oder mache ein bisschen Fitnesstraining, damit mein Körper warm wird. Aber kurz bevor es losgeht, denke ich einfach an gar nichts mehr. Es ist mehr ein mentales Loslassen, so entsteht ein freier Raum, in dem ich alles aufnehmen kann. Der erste Falter, die Dschungelgeräusche – nach und nach nimmt alles von mir Besitz. Das klingt vielleicht komisch, aber ich versuche gerade zum ersten Mal, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Das ist gar nicht so einfach. Die ganze Stimmung baut sich um mich und in mir auf, bis ich Tarzan zum ersten Mal sehe und von der Atmosphäre überwältigt bin.

Was ist Ihnen besonders wichtig, wenn Sie dann auf der Bühne stehen?
Ich möchte zuallererst eine wahre Person auf der Bühne sein. Ich weiß ja nicht, was wirklich ankommt, aber zuallererst möchte ich, dass die Menschen eine wahrhaftige, natürliche Person auf der Bühne sehen, mit der sie sich im besten Fall sogar identifizieren können. Ich möchte, dass die Zuschauer mir glauben. Ich mache mich nicht verrückt damit, darüber nachzudenken, dass der Ton, der letztes Mal vielleicht ein bisschen schräg war, jetzt aber sitzen muss. Oder dass ich ja daran denke, dass mein Bein nach links, nicht nach rechts soll. Das ist glaube ich nicht so wichtig, wie auf der Bühne einfach wahrhaftig zu sein. Für die Rolle braucht es viel Natürlichkeit, vielleicht ist das auch ein Grund, warum ich die Jane spielen darf. Es ist immer auch ein Riesenglück, wenn alles, was man hat, genau auf die Rolle passt. Ich habe zufällig die richtige Größe, bin äußerlich zufällig der richtige Typ und habe zufällig die richtige Stimmlage. Dann war es der richtige Tag, der richtige Regisseur, der richtige Moment – es hat einfach alles gepasst.

Beeinflussen Ihre Bühnenpartner, insbesondere der Tarzan-Darsteller, Ihr Spiel?
Ja, ich werde dadurch schon in gewissem Maß beeinflusst. In dem Moment, in dem ich Tarzan sehe, wer auch immer das dann ist, sehe ich ihn ja wirklich. Für mich macht das schon einen Unterschied, ob Gian Marco da steht mit allem was er hat, seiner ganzen Geschichte, seiner Art und Weise, Tarzan zu sein. Oder eben John oder Rune oder Alexandr. Es ist für mich anders, weil ich von jedem eine ganz andere Energie spüre. Natürlich ist es immer die gleiche Geschichte, aber es sind andere Personen. Das gilt auch für alle anderen Rollen. Die Interaktionen sind immer einen Tick anders, die Energie zwischen den verschiedenen Darstellern verändert sich. Das macht den Beruf ja auch so superspannend. Natürlich ist die Qualität immer die gleiche, man muss ja der Geschichte treu bleiben. Aber ich denke schon, dass Leute, die die Show mehrmals anschauen, diese feinen Unterschiede bemerken. Es hat schon einen Grund, warum Gian Marco, die Erstbesetzung Tarzan, und ich zusammen als Paar gecastet wurden. Bei der Audition haben wir uns zum ersten Mal gesehen. Ich wusste gar nicht, wer er ist. Da stand der Italiener, dort die Deutsche - und wir haben uns gar nicht verstanden. Jetzt spricht Gian Marco ja super deutsch, aber damals konnte er noch kein Wort. Ich wusste, er versteht mich nicht und ich verstand ihn nicht und nach zwei Minuten hab ich gedacht, wir müssen es gar nicht mehr spielen. Wir haben die meisten Shows zusammen, da entwickelt sich auch eine ganz spezielle Verbundenheit. Man geht durch dick und dünn, durch stressige Zeiten, durch die Premiere, auf der anderen Seite aber auch durch Zeiten, in denen scheinbar nichts los ist. Gerade dann müssen wir uns gegenseitig anspornen, um unsere Energie hochzuhalten. Es hilft, wenn man sich gut versteht. Das ist auch echt ein Glück, es hätte ja auch sein können, dass wir uns die Köpfe einschlagen. Aber wir haben eine große Vertrautheit entwickelt. Es ist ähnlich wie eine Beziehung, nicht im wahren Leben, aber auf der Bühne. Wenn man die jeden Tag zwei Stunden lebt, dann ist einfach etwas da. Und das ist sehr schön.

Fast alle Ihre Kollegen schwingen als Affen durch die Lüfte und haben ganz offensichtlich viel Spaß dabei. Sie dürfen nur in der letzten Szene an die Liane. Sind Sie da nicht manchmal neidisch?
(lacht) Ja, das muss ich zugeben, ein bisschen neidisch bin ich schon. Bei der Audition habe ich alles mitgemacht, alle Flüge und die ganzen Affenbewegungen, denn es war ja nicht klar, ob ich Erstbesetzung Jane werde oder ein Cover spiele. Diese Fliegerei hat so einen Spaß gemacht. Gott sei Dank habe ich keine Höhenangst. Wenn ich in die Hängematte klettere – das ist wirklich hoch. Ich muss über das Geländer steigen. Natürlich bin ich gesichert, aber in dem Moment merkt man das gar nicht, man steigt einfach drüber und sieht den freien Fall. Oder das erste Mal, als ich mit Tarzan von ganz oben hinuntergeflogen bin. Von ganz da oben – da gibt es so einen bestimmten Moment, in dem man richtig runtersackt. Da musste ich doller küssen, damit ich das nicht so merke. Und dann waren wir gottseidank schon da.

Als Sie beim Casting für die Rolle der Jane waren, absolvierten Sie gerade ein Aufbaustudium an der Londoner Royal Academy of Music, einer der weltweit anerkanntesten Musikhochschulen. Wie kam es dazu?
Ich habe an der Folkwang-Universität studiert und am Ende der Studienzeit als beste Absolventin ein Stipendium bekommen. In einem Kunstbetrieb kann man, glaube ich, nicht alles an den Noten festmachen, aber es durfte eben von den staatlichen Hochschulen, damals waren das außer Essen noch Wien, Berlin, München und Leipzig, immer der Jahrgangsbeste an einem Workshop an der Sommerakademie der Royal Academy of Music teilnehmen. Auch, als ich danach schon in Mannheim und dann in Bozen fest engagiert war, ist mir diese Zeit nie aus dem Kopf gegangen. Ich hatte damals auch die Universitätsleiterin Mary Hammond kennengelernt, und ich wollte so gerne nochmal dort hin, um noch mehr zu lernen und Erfahrungen zu sammeln. Als ich mich dann endlich entschlossen hatte, zur Audition zu gehen, waren die Bewerbungsfristen schon abgelaufen. Aber ich habe trotzdem hingeschrieben, bekam eine Fristverlängerung und wurde dann tatsächlich in diesem Jahr als einzige Deutsche angenommen. In der ersten Zeit dachte ich, die anderen können alles perfekt. Bei näherem Hinsehen ist das natürlich Quatsch. Sie waren vielleicht nur vertrauter mit dem Musicalgenre. Bei uns in Deutschland gibt es Musicals ja noch nicht so lange, aber wir haben eine tolle Schauspielkultur und gerade auch hier in Stuttgart eine große Opern- und Tanzkultur. Für mich war das eine immens wichtige Zeit, in der ich gelernt habe, was mich als Darstellerin ausmacht, was ich habe, das keine andere hat und was mich zu diesem Bühnenindividuum macht, das ich bin. Es war eine großartige Erfahrung.

Interview: Sylke Wohlschiess

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