Interview mit Nic Raine: Ein kleines Notenheft auf meinem Nachttisch
21.03.2013 - Nic Raine - Komponist - Arrangeur - Dirigent - Interview
Nic Raine orchestriert und arrangiert Filmmusik von James Bond bis Udo Jürgens und dirigiert namhafte Orchester in aller Welt. Für den Soundtrack zu „Wir wollten aufs Meer" wurde er Anfang 2013 von der International Film Music Critics Association als Komponist des Jahres nominiert. Die Musicalwelt kennt ihn vor allem als Musikalischen Leiter der Füssener „Ludwig²"-Produktion. Welche Verbindungen er außerdem zum Musical hat, warum er künftig verstärkt selbst komponieren möchte und was genau eigentlich ein Dirigent macht, erzäht er im ausführlichen Interview.
Es ist ein weiter Weg vom Filmhelden James Bond zum Musicalhelden Bruno Huber...
Ja, das kann man wohl sagen.
Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen beiden?
Oh (lacht). Man könnte sagen, Bruno kriegt das Mädchen, genau wie James Bond. Und er rettet sie, auch wie James Bond. Bruno schafft das ganz ohne Technik, er rettet sie vor dem Drachen und all' das. Vielleicht war er der erste James Bond?
Bruno Huber gab es wirklich...
Oh ja, natürlich. Aber James Bond lebt doch auch, oder? Ich habe ihn getroffen, oder sagen wir – einen von ihnen (lacht). Aber im Ernst – ja, ich sehe schon Ähnlichkeiten zwischen den Charakteren.
Normalerweise arbeiten Sie für große Filmproduktionen. Wie kam es, dass Sie jetzt bei dem kleinen Tiroler Musicalprojekt um den Hotelier Bruno Huber mitwirken?
Bei unserer gemeinsamen Arbeit beim Musical „Ludwig²" in Füssen habe ich 2004 Janet Chvatal und Marc Gremm kennengelernt, seither schreibe ich Arrangements für diverse Projekte und CDs der beiden. Sie haben mir erzählt, dass sie ein Musical über die Entstehungsgeschichte des Hotels „...lebes Rot-Flüh" erarbeiten. Marc ist der Produzent, Janet hat das Buch geschrieben und führt auch Regie. Das Musical verbindet die wahre Geschichte der Hoteliersfamilie Huber mit uralten Legenden des Tannheimer Tals. Für die Musik hatten Janet und Marc anfangs Kontakt mit dem Füssener Komponisten Karl de Vorschée aufgenommen, weil seine Musik ganz typisch für die Region ist. Ich sollte einige seiner früheren Lieder neu arrangieren und eventuell noch einiges von mir beisteuern. Also gab ich Janet eine CD mit Filmmusik, die ich geschrieben hatte, auch mit diversem Kleinkram, also kurzen Melodien und Tonfolgen. Sie hat sich alles angehört, dabei vor ihrem geistigen Auge die Handlung des Musicals ablaufen sehen und sofort gewusst, welches Stück wo passt, wie bei einem Puzzle. Das muss man sich mal vorstellen: Plötzlich hörte ich die Musik, die ich vor mehr als 20 Jahren für etwas völlig anderes geschrieben hatte – und es passte perfekt. Nun wird das Musical schon im zweiten Jahr aufgeführt und wir wollen es natürlich jetzt weiter entwickeln und optimieren. Für die kommenden Termine sollten neue Lieder eingebaut werden, also fuhr ich zu einem Treffen nach Füssen. Normalerweise schreibe ich völlig andere Musik als diese...ich weiß gar nicht richtig, wie ich sie bezeichnen soll, Schlager oder Volksmusik, beides passt nicht richtig. Teils klingt es ein bisschen operettenhaft, teils balladesk, aber immer spürt man den Bezug zur Region. Eigentlich ist es fast eine neue Musikrichtung. Jedenfalls sagte ich zu. Nun war das Problem, dass das Aufnahmestudio in Prag schon gebucht war und nur noch zwei Wochen blieben. Das Ziel war, in dieser Zeit acht neue Lieder zu schreiben. Für mich war das eine ausgesprochen interessante Herausforderung. Ich habe schlichte und - wie ich natürlich hoffe - schöne Melodien komponiert, aber eigentlich komme ich ja von der großen, romantischen Filmmusik, also aus einer ganz anderen Ecke. Es war klar, dass wir sehr effizient arbeiten mussten. Ich schrieb einen Song pro Tag, schickte ihn an Janet und Marc und wartete auf deren Rückmeldung. Meistens haben wir abends telefoniert und ich habe Janet, die parallel an den Texten gearbeitet hat, gesagt, welchen Song ich als nächstes angehe, welchen Text ich also als nächstes brauche.
Kommen immer zuerst die Texte, dann die Musik?
Nein, es ist oft auch anders herum. Manchmal ist auch die Musik als erstes da. Es gab auch den Fall, dass ich eine Melodie zu einem Textblock fertig hatte und Janet dann meinte, diese sei viel zu gut dafür und wir sollten daraus lieber ein neues Lied machen. Also schrieb sie noch den Text für diese fertige Melodie. Und dann ging ja der Prozess noch weiter: Als Text und Melodie fertig waren, habe ich noch die Partitur für das Orchester und das Arrangement ausgearbeitet, ein Kollege in Füssen hat die Stimmen für das Orchester vorbereitet. Alles innerhalb von zwei Wochen. Das hat nur so reibungslos geklappt, weil wir gute Freunde sind, die sich vertrauen und die sich hundertprozentig aufeinander verlassen können. Der Studiotermin in Prag konnte eingehalten werden und die zusätzlichen neuen Songs wurden bei den Aufführungen im März erstmals präsentiert.
Sie haben einen Song am Tag geschrieben – geht das immer so schnell?
Komponieren ist ja für mich etwas ganz Alltägliches, ich bin also daran gewöhnt, schnell zu arbeiten. Wenn ich für eine Filmproduktion innerhalb einer Woche 30 Minuten Musik abzuliefern habe, dann weiß ich, dass ich am Tag fünf Minuten schaffen muss. Also setze ich mir dieses Ziel und muss es auch erreichen. In gewisser Weise wird man schon zur Musikfabrik. Natürlich hat die Arbeit auch dann noch viel mit Inspiration zu tun, aber den Abgabetermin darf man eben nicht verpassen. Nicht, wenn 50 bis 70 Leute auf das Ergebnis warten, damit sie weiterarbeiten können. Der Ablauf darf nicht unterbrochen werden.
Was ist für Sie das Besondere bei „Die Legende des ... liebes Rot-Flüh“?
Ich liebe es, wie sich die Handlung direkt um die Zuschauer herum abspielt. Es gibt nur 46 Plätze, ein Teil davon direkt in der Mitte des Raums, die anderen unter einem Balkon. Das heißt, die Besucher sitzen inmitten der Darsteller, mitten im Geschehen. Man muss hierhin und dorthin blicken, um alles zu sehen, denn die Akteure nutzen den ganzen Raum, es gibt keine Bühne im eigentlichen Sinn. Die Aufführung findet in einem unterirdischen Dorf statt, das normalerweise ein Restaurant ist. Ein Bühnenbild war gar nicht nötig, es ist alles schon da: ein Dorfplatz, Häuser, sogar ein Wasserfall - es wirkt wie ein kleines Disneyland. Die Geschichte passt so exakt hinein, es ist wirklich magisch.
Sie erwähnten Ihre Arbeit für das Musical „Ludwig²“. Wie kam der Kontakt zustande?
Ein Freund von mir, Andreas Kirnberger, arbeitet in München als Musikproduzent. Er rief mich an und meinte, da sei dieses Musical, das in großen Schwierigkeiten stecke. Die Situation war wirklich verzwickt: Es gab zwei Komponisten, deren Stil grundverschieden war und so angeglichen werden sollte, dass die Musik wie aus einem Guss klingt. Das hörte sich echt spannend an, also fuhr ich zu einem Treffen mit dem Regisseur, dem Choreographen und Gerd Fischer, dem Produzenten. Er hat ein erstaunliches Talent, Leute zu begeistern; ich war schnell völlig fasziniert von der ganzen Idee. So wurde ich Teil des Projekts. Während dieser Zeit habe ich für drei Monate in Füssen gewohnt, in der Villa der Gräfin von Pocci. Das war nicht nur äußerst komfortabel, sondern zudem eine geradezu unermessliche Inspiration; wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, lag direkt vor mir Schloss Neuschwanstein. Wie im Film, einfach unglaublich. Von Anfang an hautnah dabei zu sein und den Entstehungsprozess des Musicals mit zu gestalten, war großartig. Das ganze Team hat zusammengearbeitet. Jedes Mal, wenn eine Szene stand, bekam ich Bescheid und konnte dem Ensemble zusehen. Jede Szene wurde auf DVD mitgeschnitten. Das war für meine Arbeit immens wichtig, denn ich wollte ganz anders an die Sache herangehen. Viele Musicals laufen nach dem gleichen Schema ab: Jemand singt ein Lied, dann endet die Musik, es folgt eine Sprechszene, dann passiert irgend etwas, die Musik beginnt erneut und jeder weiß, dass ein neues Lied beginnt. Irgendwie gefällt mir das nicht. Bei „Ludwig²" wollte ich durchgehend Musik, wie in einem Film. Ich wollte, dass man nie genau weiß, wann ein neues Lied beginnt, weil es aus der Musik heraus entsteht, die man vor dem eigentlichen Lied bereits hört. Auf dem Probenmitschnitt konnte ich genau sehen, was passiert, wie lange es dauert und was danach kommt. So konnte ich jede musikalische Sequenz und jedes Lied ganz genau an das Geschehen auf der Bühne anpassen – wenn ein Gang von links nach rechts 30 Sekunden dauerte, dann komponierte ich genau 30 Sekunden Musik. Jede Note war maßgeschneidert auf die Szene, 2 Stunden und 20 Minuten – das ist ziemlich viel.
Was wurde aus den Songs von Konstantin Wecker und Christopher Franke?
Als ich die Arbeit aufnahm, zeichnete sich ab, dass ein dritter Komponist nötig war. Konstantin und Christopher hatten nur einige Lieder geschrieben, das war alles. Meine Aufgabe war, dafür zu sorgen, dass alles klingt wie von einem einzigen Komponisten. Das war der Plan. Vor allem Konstantin Weckers Musik war total anders, für mich klang das stellenweise sehr nach deutschem Chanson. Meiner Meinung nach passte das nicht so richtig zu „Ludwig²". Also habe ich die Melodien umgearbeitet, "de-weckerized", wie ich immer sagte (lacht). Ich habe versucht, alles so klingen zu lassen, als hätte eine Person es geschrieben. Es war lustig, als ich Konstantin Wecker das erste Mal getroffen habe. Wir hatten in München schon einige Songs aufgenommen und waren dabei, diese abzumischen, als er ins Studio kam und fragte, ob ich der Typ sei, der seine Songs umgeschrieben hätte. Ich bejahte und er meinte: „Wunderbar. Dankeschön." Irgendwie war ich schon ein bisschen erleichtert.
Wer hat dann die Rechte an so einem Lied?
Das war überhaupt kein Problem, wir haben alles gedrittelt, das ging am einfachsten und jeder war zufrieden.
Sie haben auch eigene Songs beigesteuert, oder?
Ja. Guddens Arie "Die Welt", die Chöre bei der Krönung, den Kriegsszenen und beim Bau von Schloss Neuschwanstein, das Duett von Sisi und Sybille, „Ach, so kurz das Leben" bei Wagners Tod. Natürlich ist auch die ganze Szenenmusik von mir, beispielsweise wenn Ludwig und Dr. Gudden zu ihrem letzten Spaziergang aufbrechen. Immer hört man Musik. Teils habe ich auch Tonfolgen aus den Liedern in diese Hintergrundmusik eingebaut, damit die Zuschauer auch hier die Melodien wiedererkennen können. „Rosenkavaliere" ist auch von mir. Dazu gibt es auch eine besondere Geschichte: Ich habe diese Melodie schon vor einigen Jahren geschrieben, also ursprünglich gar nicht für „Ludwig²". Das Prager Symphonieorchester hat damals einige meiner Kompositionen eingespielt, weil ich eine Demoaufname haben wollte. Als ich zum „Ludwig²"-Team kam und Janet mich fragte, ob ich nicht noch Musik für das Musical hätte, gab ich ihr diese CD. Sie hörte das Stück und wollte es sofort für eine Sisi-Arie – so kam diese Melodie ins Musical, die anfangs gar kein Lied war.
Haben Sie auch schon für andere Musicals gearbeitet?
In England habe ich für Ballett orchestriert und arrangiert, das ist ganz ähnlich. Mit dem Filmkomponisten John Barry arbeitete ich in London an seinem Musical „Brighton Rock", ebenso für „Alice in Wonderland". Ich hatte also schon Erfahrung mit der Bühne und war an die Tatsache gewöhnt, dass es da ständig Änderungen gibt. Man muss sehr flexibel sein. Eigentlich ist die Musik fertig - denkt man zumindest. Dann beginnt aber der Produktionsprozess, Details werden geändert und man muss die Musik anpassen. Angenommen, man hat zwei Minuten Musik für einen Gang über die Bühne geschrieben. Plötzlich heißt es, wir brauchen nochmal acht Takte, wir müssen weiter laufen als gedacht und rennen können wir schließlich nicht. Klar, erst wenn die Bühnenproben beginnen, sieht man, wie lange es tatsächlich dauert, von A nach B zu kommen. Oder der Regisseur baut noch Kleinigkeiten ein, jemand hebt die Hand, hält inne, bleibt stehen, dreht sich um - was auch immer. Und für alles muss man dann noch ein bisschen Musik schreiben. Denn wenn erst mal die Aufnahmen mit dem Orchester fertig sind, kann man nur noch durch nachträgliches Editieren ändern, was aber nicht befriedigend ist.
War da nicht noch „Wuthering Heights“?
Oh ja, stimmt. Ich habe es mit geschrieben und orchestriert, das war in den frühern 1980er Jahren. Es war mein zweites Musical. Das erste, jetzt fällt es mir wieder ein, hieß "Neighbours and Lovers", ein Stück über vier Menschen, die Nachbarn waren und – natürlich – die Frauen getauscht haben, eine Art Rockmusical. Das hat ziemlich Spaß gemacht.
Was fasziniert Sie speziell an der Arbeit für Musicals?
Musicals sind doch fast wie ein Live-Film, oder? Theater wird technisch immer ausgefeilter, mit Spezialeffekten und wunderbaren Kulissen. Ich glaube, die Zuschauer sind mittlerweile so sehr an High Tech in Filmen gewöhnt, dass sie darauf auch bei Musicals nicht verzichten möchten. Nicht, dass alle Musicals zwingend so sein müssen, unsere kleine Produktion im Tannheimer Tal kommt ja auch ohne all das aus, aber meiner Meinung nach erwarten die Leute normalerweise schon ein gewisses Quantum an Effekten, sie wollen schockiert oder überrascht werden. Das Live-Erlebnis ist das Besondere. Was ich an Musicals auch sehr mag, ist die gemeinsame Arbeit mit dem Kreativteam und den Darstellern. Wenn man Filmmusik schreibt, arbeitet man im Prinzip alleine. Natürlich sehen der Komponist, der Regisseur, der Produzent und noch ein paar andere Leute vorher deine Arbeit, aber persönlich trifft man sich erst bei der Premiere oder bei Preisverleihungen, wenn alles längst fertig ist. Aber bei Musicals, da arbeitet man direkt mit den Menschen zusammen, jeder trägt seinen Teil bei und so entsteht ein gemeinsames Ganzes.
Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Songs?
Das ist schwer zu sagen, es ist ganz unterschiedlich. Ich schaue mir die Texte an. Texte haben Schwingungen. Wenn man ein Gedicht oder einen Songtext liest, spürt man einen Rhythmus. Diesem muss man musikalisch gerecht werden. Ob es eine Ballade oder ein schnelleres Lied ist, hängt natürlich auch vom Inhalt ab. Wenn sie „Ich hasse dich, ich will dich nie wieder sehen" sagt, dann weißt du, es ist das Ende der Affäre, nicht der Anfang. Wenn es noch keinen Text gibt, weiß man aber schon, was in dem Moment passiert, man kennt die Atmosphäre, das Gefühl, das bei dieser Szene entstehen soll. Wenn beispielsweise vor einem Lied noch ein Dialog stattfindet, der 20 Sekunden dauert, schreibe ich ein 20 Sekunden langes Intro für das Lied, das erst danach einsetzt. Es passiert natürlich auch, dass mir Melodien ohne direkten Bezug zu einem Film oder Musical einfallen. Diese kommen ins Schatzkästchen. Oft wache ich ganz früh am Morgen mit einer Melodie im Kopf auf. Die muss ich sofort aufschreiben, sonst ist sie weg. Also liegt immer ein kleines Notenheft auf meinem Nachttisch. Das Vertrackte an der Musik ist, dass du ihr nicht entkommen kannst, sie ist immer in deinem Kopf. Du kannst nicht einfach die Tür schließen. Richtig erklären, woher die Ideen für neue Melodien kommen, kann ich gar nicht. Aber durch meine langjährige Erfahrung habe ich die Fähigkeit, schon in meinem Kopf exakt zu hören, wie die Melodie mit Orchester und allem klingen wird. Und ich weiß, wie ich sie schreiben muss, damit sie sich dann auch wirklich genau so anhört. Ich brauche beim Autofahren keine CDs. Wenn ich die Musik kenne, höre ich alles in meinem Kopf genauso, wie auf einer Aufnahme. Ich höre das einfach. Aber da liegt auch gewissermaßen ein Problem, denn manchmal kann das schon störend sein. Nachts arbeite ich in Gedanken an Liedern oder Melodie und wache dann sozusagen songschreibend auf. Man kann das nicht stoppen. Es ist wie mit einem Ohrwurm, der dir ständig im Kopf umherschwirrt.
Sie arbeiten als Arrangeur und Orchestrator. Macht dies den größten Teil Ihrer Arbeit aus? Und worin genau liegt der Unterschied?
Ja, das ist meine hauptsächliche Arbeit. Lassen sie mich zuerst das Orchestrieren erklären: Wenn sie eine Schwarzweiß-Zeichnung machen, koloriere ich diese. Ich sorge für die musikalische Farbe und die passende Dynamik. Konkret bedeutet dies, dass ich die Orchesterstimmen für ein Musikstück erarbeite, das ein anderer komponiert hat. Ich entscheide, welche Instrumente welchen Part übernehmen, hier die Geigen, dort die Oboen, Posaunen, die die Harmonien spielen, all diese Dinge. Der Komponist schreibt die Melodien und die Harmonien, wenn es eine zweite Stimme gibt, schreibt er auch diese. Ein Orchestrator fügt nicht unbedingt viel eigenes hinzu. Ein Arrangeur aber schon. Wenn der Komponist nur eine Melodie liefert, schreibe ich als Arrangeur die Harmonien dazu, das Intro und alles, was die eine Melodie sonst noch braucht. Ich vervollständige die Komposition. Da ist kreativer, man bringt sich auf der künstlerischen Ebene viel mehr ein.
Ist diese Arbeit dann mehr Handwerk oder mehr Kunst?
Es ist ein Handwerk, ganz klar. Es gibt Termine, Vorgaben und alles. Man muss sein Handwerk beherrschen, die Techniken kennen. Natürlich spielt auch Inspiration eine Rolle – das ist der Moment, an dem die Kunst ins Spiel kommt. Aber das ist dann eher Fügung oder Zufall. Ein glücklicher Zufall.
Die Musik anderer zu orchestrieren oder zu arrangieren, hat also auch einen kreativen Aspekt?
Ja, auf jeden Fall. Ich war kein frustrierter Komponist; mir hat es immer viel Freude gemacht, die Musik anderer zu orchestrieren. Aber in den letzten paar Jahren hat sich nicht nur die Musik verändert, sondern auch die Art und Weise, wie sie entsteht. Viele junge Leute komponieren, ohne Noten schreiben zu können. Sie spielen auf elektrischen Keyboards oder Synthesizern. Ich habe in meinen vielen Berufsjahren mit einigen wirklich begnadeten Komponisten gearbeitet, deshalb weiß ich, was gute Musik ausmacht. Und ganz offen gesagt: Heutzutage ist die Qualität oftmals nicht mehr die selbe. Schlechte Musik zu schreiben, ist keine Kunst. Ein Auftrag hat mich dermaßen ernüchtert, dass ich mich gefragt habe, warum ich eigentlich den Schrott anderer dazu bringe, gut zu klingen. Es war wie ein Signal. Und dann war ich bereit. Ich habe verstärkt begonnen, selbst zu komponieren, denn ich denke, ich kann es inzwischen besser als viele andere. Meine erste große Arbeit in Deutschland war „Der Mann mit dem Fagott", ein Fernsehfilm über die Familiengeschichte von Udo Jürgens. Ursprünglich brauchten Sie nur einen Arrangeur, aber schnell wurde klar, dass ein zweiter Komponist gefragt war, denn Udo schreibt selbst keine Filmmusik. Er hat gesungen und zwei Melodien beigesteuert, die ich verwendet habe. Alles andere war von mir.
Selbst zu komponieren, ist also schon befriedigender?
Ja. Inzwischen empfinde ich das als sehr befreiend. Beim Orchestrieren oder Arrangieren muss ich immer bedenken, was dem Auftraggeber wohl gefallen wird. Beim Komponieren geht es nur darum, was sich für mich richtig anfühlt. Ok, der Regisseur des Films muss natürlich zustimmen, aber die Ideen sind von mir. Es ist ein ganz neues Gefühl künstlerischer Freiheit.
Sie schreiben vor allem Filmmusik, oder?
Grundsätzlich schreibe ich jede Art von Musik gerne, aber ja, meistens komponiere ich für Filme. Für mich stellt Filmmusik das moderne Pendant zur klassischen Musik dar. Leute, die Beethoven oder Brahms verehren, stehen Filmmusik oft sehr geringschätzig gegenüber. Sie vergessen dabei ganz, dass auch diese Komponisten ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Es gab Grafen oder Prinzen, oder wie bei Bach die Kirche, die sie für ihre Arbeit bezahlt haben. Bei Filmmusik ist es genauso. Heutzutage ist die Filmindustrie der Kunde für klassische Kompositionen. Wenn man sich anhört, was John Williams für „Lincoln", „E.T." oder „War Horse" und für unzählige andere Filme geschrieben hat, stellt man fest, dass das alles klassische Musik ist. John Williams ist ein echter klassischer Komponist.
Neben allen anderen Aktivitäten dirigieren Sie auch bekannte Orchester. Was macht einen guten Dirigenten aus?
Ich bin der Ansicht, dass Dirigent und Orchester ein Team sein sollten. Ich weiß, dass es Dirigenten gibt, die als großer Boss agieren, der allen anderen Anweisungen erteilt. Das würde mir aber kein gutes Gefühl geben. Also versuche ich, zuerst eine gute Atmosphäre zu schaffen. Ich zwinge dem Orchester nicht meinen Willen auf, sondern möchte, dass sie mir etwas anbieten. Wenn zum Beispiel eine Oboe oder eine Flöte ein Solo hat, dann bitte ich die Musiker, mir das vorzuspielen. Ich glaube, das kommt gut an. Wir machen einfach zusammen Musik.
Ist die Arbeit eines Dirigenten immer gleich, unabhängig davon, mit welchem Orchester er arbeitet?
Ja, ich glaube schon. Also, alle Orchester sind unterschiedlich, sie haben alle ihre eigenen Persönlichkeiten. Ich bin an mein tschechisches Orchester sehr gewöhnt, das City of Prague Philharmonic Orchestra, weil ich ja sehr oft dort bin. Ich habe das Londoner Royal Philharmonic Orchestra dirigiert, mit denen ich im Oktober 2013 wieder ein Konzert geben werde. Im Mai 2013 stehen zwei Konzerte mit den Hofer Symphonikern an. Dieses Orchester kenne ich noch nicht. Das ist eine interessante Sache – und irgendwie verrückt: Zehn Uhr morgens. Du stehst vor 80 Leuten, die du niemals zuvor getroffen hast, und fängst an, mit den Armen herumzufuchteln. Das ist echt irre.
Was genau macht eigentlich ein Dirigent? Das Orchester könnte doch auch alleine spielen, oder?
Naja, im Prinzip vielleicht schon. Aber die Musiker müssen zusammen beginnen, sie müssen das richtige Tempo haben, sie müssen wissen, wie sie spielen sollen. Der Dirigent gibt das Tempo vor. Die Dynamik, also die Tonstärke, ist natürlich schon durch die Komposition festgelegt, aber der Dirigent führt das Orchester durch das Musikstück. In der Vorstellung muss man ständig den richtigen Sound kontrollieren. Ein Beispiel: Es gibt ein Oboensolo, aber die Streichinstrumente sind zu laut. Also musst du dafür sorgen, dass diese leiser spielen, damit die Oboe besser herauskommt. Innerhalb des Stückes gibt es vielleicht Tempowechsel und letztlich müssen am Ende alle gleichzeitig aufhören. Es kommt auch auf die Musik selbst an. Ich würde ungern eine Beethoven-Symphonie dirigieren, weil das Orchester die garantiert schon unzählige Male gespielt hat und deshalb mit der Musik viel vertrauter ist als ich. Ich dirigiere meistens Filmmusik, die üblicherweise neu für das Orchester ist. Das bedeutet, ich kann den Musikern sagen, wie gespielt werden muss. Einmal habe ich ein Klassikkonzert des English Camber Orchestra dirigiert. Wir hatten nur drei Stunden am Nachmittag für die Proben, abends war dann schon das Konzert. Natürlich blieb da keinerlei Zeit, sich irgendeinen Eindruck zu verschaffen. Als es losging war das in etwa so, als würde man auf einen Zug aufspringen. Einmal an Bord, ging es die ganze Strecke durch bis die Endstation plötzlich erreicht war. Naja, ganz offensichtlich hatte das Orchester alles einfach so gespielt, wie beim letzten Mal auch. Also, insofern stimmt es schon: Wenn die Musiker das Stück quasi im Schlaf spielen können, ist der Dirigent nicht ganz so wichtig. Bei Filmmusik ist das ganz anders, weil sie diese eben nicht kennen. Umso wichtiger ist es dann auch, bei den Proben mit den Musikern zu sprechen und ihnen diese Musik nahe zu bringen.
Wie viele Instrumente braucht ein gutes Orchester?
Ein Orchester setzt sich aus verschiedenen Stimmen zusammen. Streichinstrumente sind ein ganz wichtiger Teil, dessen Stimmen immer mehrfach besetzt sind. Mit Streichern kann man alles spielen, jede Art von Musik. Wenn man nur Geld für 30 oder 40 Musiker hat, werden Streicher immer dabei sein. Dann gibt es die Holzbläser, daneben die Blechbläser, also Horn, Posaune und Trompete. Das Schlagwerk gehört auch dazu. Extras, wie Klavier und Harfe können zudem Teil eines Orchesters sein. Das ist die Basis; üblicherweise sind das ungefähr 77 bis 80 Musiker. Aber manchmal werden es auch mehr. Ich habe einige absolut unbeschreibliche Konzerte in Chile dirigiert. Wir haben mein tschechisches Orchester, das alleine schon aus mehr als 70 Personen besteht, mit dem Santiago Symphony Orchestra zusammengebracht. Alles war doppelt besetzt. Wir hatten mehr Streichinstrumente, wir hatten nicht vier, sondern acht Hörner und vier Trompeten. Außerdem war ein riesiger Chor dabei, mehr als 100 Leute. Es ist schon ein einzigartiges Gefühl, über 200 Mitwirkende durch so ein Konzert zu führen. Die eigentliche Arbeit ist nicht anders oder schwieriger, als bei einem kleinen Orchester. Aber es war einfach eine unglaubliche Erfahrung. Es war ein Open-Air-Konzert mit mehr als 10.000 Zuschauern. Alles war einfach riesig. Grandios.
Gibt es Instrumente, die wichtiger sind als andere?
Das kann man so nicht sagen, denn es ist immer auch eine Frage des persönlichen Geschmacks. Im Filmgeschäft ist das Geld für die Musik knapp. Also muss man sich gut überlegen, aus welchen Instrumenten man sein Orchester zusammenstellt. Wenn man ein kleines Orchester nimmt, dann klingt das eben auch wie ein kleines Orchester. Bei meinen letzten beiden Filmen habe ich versucht, eine ganz andere Art Orchester zu schaffen, eines, bei dem nicht alle Instrumente besetzt sind. Welche ich ausgewählt habe, hing von der Atmosphäre des Films ab. Für einen Film habe ich als Basis Streicher genommen, was natürlich immer naheliegend ist. Ein Piano war mir sehr wichtig. Blechbläser habe ich nur wenig eingesetzt, nur ein paar Posaunen. Und Schlagwerk. So klang es nicht klein, obwohl es nur 50 Leute waren. Es klang einfach anders, weil hautpsächlich Streicher und Posaunen zum Einsatz kamen. So entstand auch eine ganz bestimmte Klangfarbe, die genau zu diesem Film passt.
Was halten Sie davon, dass bei vielen Musicalaufführungen nur noch sehr kleine Liveorchester zum Einsatz kommen?
Ich bin in der Welt der großen Symphonieorchester zuhause, für mich gibt es nichts Schöneres, als den Klang eines voll besetzten, großen Orchesters. Deshalb bin ich sehr froh, dass man in Deutschland Playbacks verwenden kann. Ich mag diese Grabenorchester nicht so gerne; für mich ist da immer das Schlagzeug viel zu laut. Andererseits sehe ich natürlich auch, dass es für das Publikum schöner ist, wenn Livemusiker spielen. Was wir damals bei „Ludwig²" gemacht haben, fand ich ziemlich clever: Wir wollten unbedingt live spielen, also schrieb ich alles für ein großes Orchester. So haben wir die Aufnahmen gemacht. Im Orchestergraben kam aber nur ein kleines Orchester zum Einsatz, für das ich die Musik nochmal völlig neu geschrieben habe. Es gibt nichts Schlimmeres als eine einzige Geige, die sich damit abmüht, eine an sich wunderbare Melodie zu interpretieren, die aber sonst von 30 Geigen gespielt wird. Das kann nicht funktionieren. Da muss man etwas anderes spielen. Es war die gleiche Musik, aber mit unterschiedlichem Beitrag zum Gesamtergebnis. Man konnte das kaum hören, denn der Gedanke war ja, alles in einem einzigen großen Klangerlebnis zusammenzubringen.
Welche Ausbildung ist nötig, um als Dirigent, Arrangeur oder Orchestrator arbeiten zu können?
Man muss lernen, wie alles funktioniert und zusammenspielt. Ich glaube, dass ich die beste Ausbildung hatte. Ich war nicht auf der Musikhochschule, sondern habe sehr früh im wahren Leben praktische Erfahrungen gesammelt. Ganz schnell habe ich verstanden, dass es immer Zeitlimits gibt. Wenn man im Studio ist, 20 Minuten Musik einspielen muss und dafür drei oder vier Stunden zur Verfügung hat, dann muss alles, was man schreibt, auch spielbar sein. Man kann keine wertvolle Zeit mit langen Erklärungen verschwenden oder etwas so kompliziertes abliefern, dass es 20 Minuten dauert, bis die Musiker das in der Praxis umsetzen können. Das wäre viel zu teuer. Alles, was man schreibt, muss vom richtigen Instrument auch gespielt werden können. Schreib nichts, was auf einer Flöte wunderschön klingt, für eine Posaune. Sie kann so gar nicht spielen. Man muss die Möglichkeiten der einzelnen Instrumente und deren Klang genau kennen. Und man muss wissen, wie jedes Instrument im Zusammenspiel mit anderen klingt. Wenn man eine Partitur schreibt, muss man alle musikalischen Ebenen, alle Tonstärken, einfach jedes Detail genau aufeinander abstimmen. Man kann keine Melodie in Fortissimo für die Posaunen schreiben und erwarten, dass sie auch für eine Oboe funktioniert. Das kann gar nicht gehen. Natürlich kann man vieles auch aus Büchern lernen. Aber es gibt nichts besseres, als dabei zu sein, zu schreiben, die Musik im Kopf zu hören und sich Erinnerungen daran zu schaffen, wie die Dinge tatsächlich sind. Das ist das Beste. Es hilft auch, selbst ein Instrument zu beherrschen. Ich habe Kontrabass in einem kleinen Streichorchester gespielt, so habe ich alles über Streichinstrumente direkt in der Praxis gelernt. Das ist total wichtig: Wenn man eine Melodie für ein Streichinstrument schreibt, muss man die Bogenführung und die nötigen Bogenwechsel beachten. Komponiert man für Blasinstrumente, ist es wieder anders, da muss man die Atemtechnik bedenken. Wenn man etwas für eine Tuba schreibt, muss man wissen, dass da sehr viel und sehr tief geatmet wird. Also, jedes Instrument stellt andere Anforderungen an den Orchestrator bzw. Arrangeur, also ist es hilfreich zu wissen, wie sie gespielt werden. Wenn ich direkt mit den Musikern arbeite, frage ich sie natürlich auch einfach vieles. Habe ich beispielsweise über diese oder jene Möglichkeiten in einem Buch gelesen, dann kann es gut sein, dass ein erfahrener Musiker noch viel mehr kann. Entweder, weil er sein Instrument hervorragend beherrscht, eine exzellente Technik hat oder auch einfach, weil das Buch veraltet war und die Instrumente inzwischen weiterentwickelt wurden. Neben den Gesprächen muss man aber auch einfach wissen, wie so ein Musiker tickt. Wenn um neun Uhr die Studioaufnahmen beginnen, weckt man sie am besten mit einem lauten Part und macht dann mit ruhigeren Elementen weiter. Gegen halb elf muss man erstmal eine Kaffeepause einlegen, danach kann man wieder mit schnelleren Stücken weitermachen. Die Gefahrenzone ist um drei Uhr nachmittags, das Mittagessen ist vorbei, man hat vielleicht ein Bier getrunken. Doch, das ist tatsächlich wichtig, man muss das alles bedenken. Natürlich ist das in anderen Berufen ähnlich, aber wir wollen ja Kunst machen und deshalb müssen wir versuchen, optimale Bedingungen zu schaffen.
Sie sind vor allem für Ihre Filmmusik bekannt. Dabei ist die Musik im Film doch nur ein netter Nebeneffekt, oder?
Ich denke, die Musik sollte nicht den Ton im Film angeben. Sie sollte ihn ergänzen, aber nicht beherrschen. Die meiste Zeit über nehmen die Zuschauer die Musik gar nicht bewusst wahr. Aber, glauben Sie mir, ohne Musik wäre der Film leer. Beispielsweise in einer Situation wie dieser: Zwei Menschen sitzen und unterhalten sich, das ganze ist unterlegt mit sehr leiser Musik. Aber genau diese vermittelt im Film dann ganz unterbewusst die Emotionen, die zu dem Gespräch gehören. Für mich muss es so funktionieren. Bei einem Film ohne Musik kann ich die Schwachstellen genau erkennen. Vielleicht ist die Handlung gerade nicht spannend oder der Schnitt ist nicht gut gelungen oder es gibt eine Pause, die irgendwie gefüllt werden muss. Die Musik leistet das alles. Sie schafft Übergänge. Wenn man einen Schnitt von einer Szene zur nächsten setzt, dann geht die Musik über beide Szenen, sie verbindet sie und vermittelt, was als nächstes passieren wird. Im Film muss nur jemand die Straße entlang gehen, an der Musik erkennt man sofort, ob er zu den guten oder zu den bösen Jungs gehört, ob er glücklich oder traurig ist. Für mich ist das absolut faszinierend.
Ziemlich am Anfang Ihrer Karriere arbeiteten Sie für zwei James Bond-Filme. Warum waren Sie an späteren Produktionen nicht mehr beteiligt?
Ja, das war 1985 für „Im Angesicht des Todes", den letzten Bond-Film mit Roger Moore und dann 1987 „Der Hauch des Todes", Timothy Daltons erster Auftritt als Agent 007. Ich war ja nur der Orchestrator für den Komponisten John Barry. Er hat dann keine weiteren James-Bond-Filme mehr gemacht. Ich konnte nur mit ihm arbeiten, denn der nächste Bond-Komponist brachte ja sein eigenes Team mit. Zwischen Komponist und Orchestrator entsteht eine enge Zusammenarbeit, eine künstlerische Beziehung, die nicht einfach austauschbar ist. Sie muss wachsen. Vertrauen ist sehr wichtig. Ich habe nach diesen Bond-Filmen noch oft mit John Barry gearbeitet. Er musste mir nichts mehr erklären, sondern wusste, was ich aus seinen Kompositionen machen würde. Das war natürlich eine sehr gute Basis.
Was war bisher Ihr beeindruckendstes Projekt?
Für mich hängt das zu einem großen Teil von den Menschen ab, mit denen ich arbeite. Von den Charakteren. Ich arbeitete mit Vangelis, einem meiner großen Helden, ein in mehr als nur einer Hinsicht großartiger Mensch. Es ging um ein großes Filmprojekt und ich sollte ihn beim Komponieren unterstützen. Er spielt ja immer auf diesem riesigen Synthesizer, der speziell für ihn angefertigt wurde und auf dem der typische Vangelis-Sound entsteht, den man aus „1492 – Die Eroberung des Paradieses" oder „Chariots of Fire" kennt. An diesem Instrument gibt es ich glaube 12 Boxen mit einer Art länglichen Würfel, der in zehn Abschnitte unterteilt ist, die jeweils mit Symbolen gekennzeichnet sind. Vangelis weiß genau, welchen Klang es ergibt, wenn ein bestimmter Würfel oben und der Schalter offen ist. Dann dreht man die Würfel und hat nochmal jeweils zehn verschiedene Klänge. Es war faszinierend: Er drückte eine Taste und man hörte Hörner. Er drückte eine andere Taste und man hörte ein Piano. Er drückte fester und man hörte Piano und Streicher. Es ist ganz schwer zu beschreiben. Er improvisiert alles; er glaubt, alles kommt von Gott. Er kann stundenlang dasitzen und spielen und all diese Musik kommt einfach so, aus ihm heraus. Es ist atemberaubend. Da gibt es eine unglaubliche Geschichte: Der Meeresforscher Jacques Cousteau wollte, dass Vangelis einen seiner Dokumentarfilme musikalisch unterlegte. Er besuchte Vangelis in seinem Studio in Athen und zeigte ihm das Video. Er war sehr stolz auf seine Arbeit. Vangelis hat sich das angesehen und war nach zehn Minuten schon so gelangweilt, dass er Cousteau bat, vorzuspulen. Mit dem Rest war man also schnell durch. Ok, meinte Vangelis, jetzt können wir die Musik machen. Also, alles auf Anfang, sein Assistent drückt die Aufnahmetaste, Vangelis beginnt zu spielen. Eine ganze Stunde lang. Ununterbrochen. Aus dem Stehgreif. Dann gab er Jacques Cousteau die CD mit den Worten „bitteschön, hier ist ihre musikalische Unterlegung". Cousteau war völlig verblüfft, denn er hatte damit gerechnet, dass es Monate dauern würde. Aber, man kann es sich kaum vorstellen, Vangelis komponierte, spielte und nahm auf, alles in Echtzeit, in einer einzigen Stunde. Er hat dieses Talent. Für ihn ist alles pure Inspiration. Er muss nur in der richtigen Stimmung sein.
Gab es ein Projekt, das Sie richtig nervös gemacht hat?
Bei „Ludwig²" gab es tatsächlich eine Phase, in der das so war, ja. Weil die Aufgabe fast unlösbar schien. Ständig kamen wieder neue Baustellen dazu: dort noch ein paar Takte, da noch ein Übergang. Dann wurden wieder Szenen geändert und die Musik musste angepasst werden. Es war unglaublich viel. Aber letztlich war es wie mit allem: Das Schwierigste war der Anfang. John Barry hat mir einmal erzählt, dass er manchmal am Klavier sitzt, mit einem Notenblatt und am Ende des Tages ist da nichts auf dem Blatt. Es bleibt leer. Aber genau dieser Tag war nötig, er musste ihn durchleben, um danach wieder schreiben zu können. Es war also kein verschwendeter, sondern auch ohne Ergebnis ein kreativer Tag. Mit einem Kollegen hatte ich eine ähnlich fesselnde Diskussion: Wenn du mittwochs ein Musikstück komponiert hast, wäre es anders, wenn du es dienstags geschrieben hättest? Und wäre es am Donnerstag wieder anders? Ich weiß keine Antwort auf diese Frage. Es ist interessant darüber nachzudenken, aber vielleicht sollte man nicht zu sehr ins Grübeln kommen...
Welche Projekte stehen in nächster Zeit an?
Gemeinsam mit Janet Chvatal arbeite ich an einer großen Show, wir haben auch Ideen für ein neues Musical. Aber dazu kann ich im Moment noch nicht mehr sagen. Für weiteres Musicalprojekt sprach mich Frank Obermair an, ein Freund, der aus Bayern stammt, aber jetzt in Neubrandenburg lebt. Er möchte ein Musical für diese Gegend konzipieren, das – ganz ähnlich wie bei den Störtebecker Festspielen auf Rügen oder bei unserem Musical im Tannheimer Tal – auf Sagen und Geschichten dieser Gegend basiert. Kürzlich schrieb ich die Musik für den Fernsehfilm „Die schöne Spionin" mit Valerie Niehaus in der Hauptrolle. Es geht um die Lebensgeschichte der Vera von Schalburg, die im Zweiten Weltkrieg für die deutsche Abwehr spioniert hat und auf ungeklärte Weise verschwand. Er wird aber nicht vor Dezember 2013 ausgestrahlt. Konzerte wird es natürlich auch einige geben: Im Mai 2013 dirigiere ich in Selb und Tirschenreuth ein Filmmusik-Konzert mit den Hofer Symphonikern, im Oktober geht es nach Portsmouth für ein Best-of-John-Barry-Konzert mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Im November und Dezember 2013 dirigiere ich bei zwei Musicalgalas von Janet Chvatal und Marc Gremm. Und es wird sicher noch einiges dazukommen. Egal, Konzerte oder die Arbeit an neuen Musicals und Filmen, ich liebe jeden Aspekt meines Berufs. Mir ist wichtig, dass es immer wieder neue Herausforderungen gibt. Denn nur so kann man sich künstlerisch weiterentwickeln.
Interview: Sylke Wohlschiess
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