Willkommen im Dschungel:
Rezension „Disneys Tarzan“ in Stuttgart
Grüne Wildnis, undurchdringlich und geheimnisvoll. Vogelkreischen, der Klang ferner Trommeln, unbekannte Laute. Schon mit dem ersten Schritt in den Theatersaal meint man, die schwülwarme Luft des Dschungels zu atmen, fühlt sich versetzt in eine fremdartige Welt. Die Ränge sind blätterartig verkleidet, Lianen ranken an den Wänden bis weit in den Zuschauerraum hinein, dämmrig-grünes Licht bestimmt die Szenerie. Parallel wird mit der Projektion eines Schiffs bei hohem Seegang schon auf die Vorgeschichte eingestimmt. Je näher der Vorstellungsbeginn rückt, desto lauter wird das Ächzen des Schiffs, das vergebens versucht, dem Sturm zu trotzen. Die handschriftlichen Logbucheintragungen brechen ab, plötzlich ein heftiger Donnerschlag – und man ist im Stuttgarter Apollo Theater mitten im Geschehen des Musicals "Tarzan".
Edgar Rice Burroughs erdachte die Figur des Dschungelhelden Tarzan. Sein erster Abenteuerroman um den Waisenjungen, der von Affen im Urwald aufgezogen wird, erschien 1914, 23 Fortsetzungen folgten. Der Stoff zählt zu den meistverfilmten Geschichten und fand 2006 am Broadway auch den Weg auf die Musicalbühne. Phil Collins schrieb die Musik und die Liedtexte, das Buch stammt von David Henry Hwang, in deutscher Übersetzung von Frank Lenart (Liedtexte) und Ruth Deny (Dialoge).
Trotz der eingängigen Musik, insbesondere dem auch durch die Popcharts bekannten Hit „Dir gehört mein Herz", lebt das Musical in allererster Linie vom gelungenen Zusammenwirken von Bühnentechnik, Akrobatik und vielfältiger Ausstattung. Insofern fällt nicht ganz so sehr ins Gewicht, dass unter Leitung von Jochen Neuffer nur acht Musiker live agieren und der Klang durch die vielen Keyboard-Samples doch ziemlich synthetisch ausfällt.
Im Zeitraffer läuft die Vorgeschichte ab: Schiffsunglück, knappe Rettung, Tötung der Eltern durch den Leoparden und Tarzans Rettung durch Gorilladame Kala. Diffuses blaugraues Licht und Nebel simulieren täuschend echt die Meerestiefen, durch die Tarzans Eltern sinken, bevor sie sich ans Ufer retten. Das Bühnenbild wird optisch gekippt, ein Strand steht hochkant, die an Seilen befestigten Darsteller gehen im 90-Grad-Winkel nach unten – ein großartiger Effekt.
Später wird ein Wolkenbruch durch fallende weiße Stoffbahnen dargestellt, die eine Tänzerin in weiß fließendem Schalkleid graziös aufnimmt. Über den gesamten Raum schimmernde grüne Lichtpunkte wirken wie Sonnenstrahlen, die durch das Dickicht brechen. Frei durch die Luft schweben überdimensionale exotische Blumen und Schmetterlinge, die Darsteller in ihren farbenprächtigen Kostümen bewegen sich faszinierend naturgetreu. Bühnenbild, Lichtregie und Kostüme verweben sich zu dichter Dschungelatmosphäre und schaffen die ideale Umgebung für die wild umhertollende Affensippe, die von allen Seiten das Theater einnimmt.
Von insgesamt 29 Abflugpunkten, den sogenannten drop points, schwingen die Darsteller an Flug- und Bungeeseilen kreuz und quer über die Bühne und hoch über das Publikum hinweg. Durch Verwendung eines speziell entwickelten Fluggeschirrs können sich die Darsteller in der Luft um ihre eigene Achse drehen. Da dieses Harness genannte Hilfsmittel unter den fransenbesetzten Affenkostümen verborgen ist, wirken die Sprünge, schnellen Kletterpartien und Flüge unglaublich echt. Pichón Baldinus „Aerial Design" folgt präzisen technischen Abläufen und ist gleichzeitig eine brillante Choreographie der Lüfte. Die akrobatischen Fähigkeiten der Darsteller verdienen höchste Bewunderung, zumal bei den sportlichen Höchstleistungen auch der Ensemblegesang harmonisch ist und die Choreographien am Boden absolut synchron ausgeführt werden.
Die Hauptfiguren werden klar gezeichnet. Mit lautem Brüllen regiert Peter Stassen als Sippenchef Kerchak seine Gorillabande, hoch aufgerichtet lässt er keinen Zweifel daran, wer der Boss im Wald ist. Wenn Kerchak sich lausend auf der Seitenbühne sitzt, schafft Stassen durch sein bis in kleinste Bewegungen detailgenaues Spiel eine verblüffende Ähnlichkeit mit den haarigen Kollegen in der Stuttgarter Wilhelma. Ebenso glaubhaft vermittelt Stassen Kerchaks Sorge um seine Familie, auf die sich seine Skepsis gegenüber Tarzan gründet. Kerchaks Sterbeszene, in der er Tarzan endlich als seinen Sohn annimmt, spielt Stassen mit viel Gefühl. Seine gut geführte Baritonstimme gefällt mit viel Volumen und klingt in den druckvollen Passagen von „Gar keine Wahl" dynamisch und voll, in den langsameren Teilen warm und einschmeichelnd.
Das Zusammenspiel mit Melanie Ortner-Stassen als Kala ist perfekt. Im Duett „Wie Sonne und Mond" vermitteln beide ausgesprochen bewegend, wie die unterschiedliche Einstellung zu Tarzan ihr Zusammenleben verhindert. Kerchak verstößt aus Sorge um die Sicherheit der Sippe den kleinen Tarzan, als dieser sich eine vermeintliche Waffe, den „Obstpflücker", bastelt. Kala dagegen sieht sich als Tarzans Mutter, die ihn beschützen will. Mit Hingabe und wunderbar weicher Stimme intoniert sie „Dir gehört mein Herz", ihr Spiel ist einfühlsam von Beginn, als sie Tarzan vor dem Leoparden rettet, bis zum Ende, als sie ihn zu den Hinterlassenschaften seiner menschlichen Eltern führt und ihm so ermöglicht, seine wahre Identität zu verstehen.
Das ist nötig, denn Tarzan fühlt schon als Kind, dass er „ irgendwie anders" ist. Ohne seinen besten Kumpel Terk wäre er oft recht hilflos gewesen. Terk trägt ihn auf die hohen Bäume, die der kleine Tarzan nicht selbst erklimmen kann, er bewundert seine Ideen und hält in Freundschaft all' die Jahre zu ihm. Auch das Wiedersehen mit dem „haarlosen Weibchen" fädelt er ein, obwohl er gar nicht begeistert davon ist, dass Tarzan „nur noch mit der abhängt". Arcangelo Vigneri gibt den treuen Freund mit locker-fröhlichem Spiel und energiegeladenem Gesang. Wenn er „heilix Blechle" ruft oder mitteilt, dass „'s Äffle heid net dahoim isch" – dem naheliegenden Witz mit Bezug auf die Comicfigur des Südwestrundfunks können die Tarzan-Macher in Stuttgart natürlich nicht widerstehen – hat er die Lacher auf seiner Seite und heitert auch den kleinen Tarzan auf.
Lars Krech bringt bei „Warum, wieso?" mit heller Kinderstimme in anrührender Weise Tarzans Sehnsucht zum Ausdruck, endlich auch irgendwo dazu zu gehören. Dieser nachdenkliche Moment ist sicher eine besondere Herausforderung für den jungen Akteur, die er mit Bravour meistert. Fast noch mehr begeistert die Unbekümmertheit, mit der er zwischen den großen Gorillas in der Luft und am Boden herumtollt. Auch Backflips und Handstand sind für Lars Krech kein Problem. In der letzten Szene, die in Tarzans Kindheit spielt, schwingt der Kleine in weitem Bogen auf der Bühne nach hinten außer Sicht, während vom Rang aus der erwachsene Tarzan über die Zuschauer hinweg nach vorne fliegt.
Für die Titelrolle hätte man wohl kaum einen besseren Darsteller finden können als Gian Marco Schiaretti. Er verbindet kraftvolle Eleganz mit Ästhetik. Durchtrainiert bis in die Fingerspitzen, traut man ihm die Flugszenen auch ohne Hilfe von Haken und Harness zu, so leicht und gewandt gleitet er durch die Lüfte. Wie die anderen geht er mit Hilfe der Fingerknöchel auf allen Vieren, aber ihm gelingt es, in seinen Bewegungen immer einen feinen Unterschied zu den „echten" Gorillas beizubehalten und so schon im Ansatz Tarzans Andersartigkeit anzudeuten. Sein komödiantisches Talent zeigt sich, wenn er in Janes Tonlage ihre Worte nachpiepst oder Claytons übertrieben deutliche, mit weit ausholenden Gesten untermalte Kommunikationsversuche (klasse gespielt von Thorsten Ritz) imitiert. Eine überragende Leistung zeigt Gian Marco Schiaretti bei Tarzans „Menschwerdung". Vorsichtig berührt er Gegenstand für Gegenstand im verlassenen Baumhaus seiner menschlichen Eltern, wie in Zeitlupe zieht er die dort immer noch herumliegenden Kleidungsstücke an, langsam spiegelt sich in seiner Miene Erkenntnis. Die ungewöhnliche Klangfarbe seiner Stimme lässt schon aufhorchen, als er anfangs aus dem Off „Zwei Welten" intoniert. In Verbindung mit der Leidenschaft, die Schiaretti sowohl im Schauspiel als auch im Gesang zum Ausdruck bringt, wird „Wer ich wirklich bin" zum emotionalen Höhepunkt der Show.
Im Zusammenspiel und den Duetten mit Joana Fee Würz als Jane überzeugen beide mit Charme und Gefühl. Sehr glaubwürdig vermittelt Würz in „Auf diesen Tag hab ich gewartet" Janes unbändige Begeisterung angesichts der Dschungelwelt. Diese teilt sie mit ihrem Vater, den Japheth Myers mit dem richtigen Maß an Distinguiertheit darstellt. Herrlich auch, wie sie gegen die Angst vor der sich nähernden Spinne anplappert oder ihre Verlegenheit überspielt, als sie plötzlich dem „Ur-Mann" gegenübersteht. Trotz aller Faszination entscheidet Jane sich zunächst für die Rückkehr nach Hause. Erst im letzten Moment geht sie doch wieder von Bord. Natürlich stammelt sie hastig und hektisch Gründe für ihren Meinungsumschwung, aber Tarzan hat die Sprache der Menschen inzwischen so gut gelernt, dass er ihr die einzig richtige Antwort gibt. Der Kuss am Schluss und die endgültige Wandlung von Jane zu Tarzans Dschungelkönigin ist natürlich schon ein wenig kitschig – aber ab und zu taucht man gerne ein in die heile Disney-Welt.
„Tarzan" in Stuttgart ist eine faszinierende Mischung aus atemberaubenden Flugszenen, einem gewaltigen Farbrausch, einer geradezu überwältigenden Bilderfülle und – last but not least – grandiosen Darstellern.
Text: Sylke Wohlschiess
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