Novum mit Potenzial:
Rezension „Die Legende des ...liebes Rot-Flüh" in Haldensee
Ein sagenumwobener Berg, ein junger Held, große Träume - und ein Hotel. Daraus konzipierten Marc Gremm (Produktionsleitung) und Janet Chvatal (Buch und Regie) das ungewöhnliche Musicalprojekt „Die Legende des ...liebes Rot-Flüh", das künstlerischen Anspruch mit werblichen Zwecken verbinden möchte. Kann das funktionieren?
Schauplatz ist Tirol. Der Legende nach wacht ein gerechter Berggeist über das Tannheimer Tal. Er ist es, der die zerstrittenen, boshaften Schwestern als Buße für ihre Charakterlosigkeit verwandelt: die blinde Bea in eine Nixe, die rothaarige Lea in einen Drachen, der auf dem Berg Rote Flüh einen Goldschatz bewacht, den - jetzt kommt die Realität ins Spiel - der junge Bruno Huber dem Ungeheuer entreißt. Mit dem Gold kann er nicht nur seine angebetete Renate heiraten, sondern mit ihr gemeinsam sein Schloss, also das Hotel ...liebes Rot-Flüh, errichten. Nach Brunos frühem Tod führen Renate und später Tochter Sonja das Hotel weiter. Im Lauf der Jahre bauen sie den einfachen Gasthof zum heutigen 5-Sterne-Hotel aus, das nun also sogar mit einem eigenen, knapp einstündigen Musical aufwarten kann.
Dabei gibt es weder Bühne noch Bühnenbild.
Das ist auch nicht nötig, denn als beeindruckende Kulisse dient ein unterirdisches Restaurant, das gestaltet ist wie ein Dorf, verblüffend echt mit Kastanienbaum, Brücke und Häuserfassaden. Diese gruppieren sich um den runden Dorfplatz, auf dem inmitten des Geschehens ein Teil der 46 Zuschauer platziert ist. Die übrigen sitzen unter einem Balkon, mit Blick auf die Felsformation, von der ein Wasserfall in einen kleinen See rauscht.
Elegant verbindet Autorin Chvatal die Drachenlegende mit dem Leben und Wirken des Visionärs Bruno Huber und seiner Familie. Jede dargestellte Lebensphase der Hubers wird mit mystischen Elementen verwoben. Dargestellt wird dies auf drei räumlichen Ebenen: Im hinteren Bereich ist die geheimnisvolle Sagenwelt angesiedelt. Aus einer Felsspalte erscheint der Drache, ein Berggeist – eindrucksvoll verkörpert von Norbert Lamla – taucht gleichsam aus dem Fels auf, die bösen Schwestern verschwinden dort. Als Schnittstelle zwischen Sage und Wirklichkeit dient etwas weiter vorne die Quelle, ein Ort der Ruhe, an den sich Bruno Huber und später auch seine Tochter Sonja zurückziehen. Dort treffen beide den Berggeist, der in Gestalt eines Wanderers auftritt und ihnen in schwierigen Situationen Mut zuspricht.
Im Stück wird von den drei Perlen Liebe, Träume und Kraft erzählt, Werte, die heute an den Hotelwänden als Inschrift verewigt sind. Vorne im Dorf spielt sich der Alltag ab, dort wird gearbeitet und gefeiert, dort entsteht das Hotel. Als Auf- und Abgänge werden alle Türen in den Raum genutzt, die Sagengestalten bleiben jedoch immer im hinteren Bereich, die Dorfbewohner vorne. Nur die Mitglieder der Familie Huber überschreiten diese unsichtbaren Schwellen in bestimmten Grenzsituationen.
Marc Gremm überzeugt als Bruno Huber sowohl mit einfühlsamem Gesang als auch schauspielerisch. Er gibt den verliebt-verlegen stotternden jungen Bruno in kurzer Krachlederner ebenso authentisch, wie den schwerkranken Mann, der sein Lebenswerk in die Hände seiner Frau und seiner Tochter legt. Der Übergang vom Leben zum Tod wird eindrucksvoll visualisiert: Bruno verlässt den Balkon seines Hotels, schreitet in dunklem Trachtenanzug durch das menschenleere Dorf, hält inne am Kastanienbaum, an dem er erstmals Renate begegnete, ebenso an der Quelle, an der ihm der Berggeist erschien. Schließlich verschwindet er mit einem letzten Gruß an Renate (Janet Chvatal) zu den Schlusstönen des Duetts „Das Echo aus den Bergen". Gremms melodischer Bariton und Chvatals reiner Sopran harmonieren in dieser emotionalen Szene besonders eindrucksvoll.
Auch Janet Chvatal beherrscht genauso die fröhlichen Passagen, beispielsweise im „Hotel ...liebes Rot-Flüh-Lied", bei dem das Hotelpersonal mit Eiern über die Köpfe der Zuschauer hinweg jongliert und rund um den Dorfplatz tanzt und jodelt. Der Good New Singers Gospel Chor hat hier einen seiner schwungvollen und stimmsicheren Auftritte. Allerdings zeigen Textzeilen wie „Mit unseren Service wird ihr Urlaub gekrönt" dann doch eine deutlich werbliche Anmutung.
Auch die Einbeziehung der Hotelchefin, die am Ende des Stückes sich selbst, also die erwachsene Sonja Huber spielt, würde auf einer großen Musicalbühne nicht funktionieren. Für die Hotelgäste hat dies aber durchaus Charme. Um die dargestellte Zeitspanne zu verdeutlichen, reicht Kinderdarstellerin Julia Zotz (entzückend als kleine Sonja) einen Stoffdrachen weiter an Katharina Huber. Zusammen mit ihrem Bruder Christoph als Sonjas Mann Franz verkörpern die Geschwister in kurzen Szenen ihre Eltern als junge Leute. Zuletzt geht der Drache von Katharina an Sonja Huber weiter. Ein Regiekniff, der den Zuschauern ermöglicht, der stark zeitrafferisch dargestellten Handlung gut folgen zu können.
Gut gelungen sind auch die Tanzszenen von Choreograf Volker Bleck: Alice Fillery wirbelt als rothaarige böse Lea in einem temperamentvollen spanischen Tango über die Dorfbrücke, während Abbie Elkins als letztlich doch geläuterte blonde Nixe Bea in klassischem Spitzentanz ihr nunmehr sanftmütiges Wesen zum Ausdruck bringt. Weniger schön ist, dass viele Szenen nur pantomimisch dargestellt, aber nicht gesungen oder mit echtem Schauspiel auf die Bühne gebracht werden. Mit dieser Tatsache versöhnt zumindest teilweise die Stimme des Erzählers aus dem Off, der die Geschichte liest: Wolfgang Pampel, die deutsche Synchronstimme von Harrison Ford, wird zugespielt und fügt sich dank der hervorragenden Tontechnik ebenso problemlos ins Livegeschehen ein, wie die Musik von Nic Raine.
Für die im März 2013 angelaufene zweite Spielzeit hat Raine einige Songs neu komponiert und arrangiert. Der Stil der Lieder ist schwer einzuordnen und am ehesten als musikalisch sehr hochkarätiger volksnaher Schlager zu beschreiben. Zur Region passen die Songs perfekt. Besonders gelungen sind auch die lautmalerischen Elemente der Hintergrundmusik, die Schritten oder Wassertropfen den richtigen Klang verleihen und die Mystik der Sagengestalten musikalisch verstärken. Wie gut auch die Lichtregie bei dieser kleinen Produktion effektvoll die Szenen verstärkt, ist bemerkenswert. Durch kühles gründliches Licht scheint der Berggeist tatsächlich aus dem Nichts aufzutauchen und das heraufziehende Gewitter mit Blitz und Wolken wirkt fast erschreckend real.
Aber funktioniert sie nun, die Verbindung zwischen Kunst und Kommerz? Hotelgäste sollten sich die „Legende des ...liebes Rot-Flüh" nicht entgehen lassen, denn man erlebt Gästeunterhaltung auf höchstem Niveau. Schwieriger wird es, wenn man nicht im Hotel übernachten möchte. Zwar ist es auch möglich, nur das Musical zu besuchen, aber der Eintrittspreis ist definitiv zu hoch angesetzt. Schade, denn die Geschichte ist stimmig und die musikalische Qualität unbestritten. Auch wenn die Stilrichtung vielleicht nicht jedermanns Sache ist, hat das Stück auf jeden Fall ein breiteres Publikum verdient. Um das Musical auf eine größere Bühne zu bringen, müsste aber der sehr enge persönliche Bezug zu Familie Huber etwas gelockert und Szenen ausgearbeitet und ergänzt werden. Potenzial ist auf jeden Fall vorhanden, denn „Die Legende des ...liebes Rot-Flüh" vermittelt Werte, die auch heutzutage nichts von ihrer Wichtigkeit verloren haben. Etwas, das sicher auch Bruno Huber so unterschreiben würde.
Text: Sylke Wohlschiess
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