Morbider Charme:
Rezension „The Addams Family“ in Leinfelden
„Definiere normal“ fordert Grandma. Gar nicht so leicht und oft nur eine Frage des Standpunktes. Denn „was für die Spinne völlig normal ist, ist für die Fliege eine Katastrophe“.
Gespickt mit solcherlei Wortwitz ist „The Addams Family“. Andrew Lippa (Musik und Songtexte), Marshall Brickman (Buch) und Rick Elice (Buch) erdachten dieses Musical nach den Cartoonvorlagen des US-amerikanischen Karikaturisten Charles Addams. Die Uraufführung fand 2009 in Chicago statt, über 700 Shows am Broadway folgten. Erst 2014 kam „The Addams Family“ auch nach Deutschland. So steht also heuer auf der Freilichtbühne im Theater unter den Kuppeln in Leinfelden-Echterdingen ein noch recht junges Musical auf dem Spielplan.
Ausgerechnet Lucas Beineke, Paradebeispiel eines spießigen Durchschnittstypen, möchte Wednesday Addams heiraten. Undenkbar in einer Familie extrem seltsamer Exzentriker, die in einem für gewöhnliche Sterbliche gar nicht erst sichtbaren Haus im Central Park lebt und einmal im Jahr einen großen Familientag mit sämtlichen lebenden, toten und noch unentschiedenen Clanmitgliedern feiert. Ihren Vater Gomez bringt Wednesday mit ihrem Geständnis schwer in die Bredouille, denn Gattin Morticia hasst nichts mehr als Geheimnisse und Lügen. Auch der kleine Pugsley ist alles andere als begeistert, denn er will keinesfalls darauf verzichten, täglich von seiner Schwester gefoltert zu werden. Onkel Fester, ebenfalls verliebt (in den Mond, aber das erscheint angesichts der zaubertrankversessenen Großmutter schon fast normal) zieht die Ahnen zur Hilfe heran, als Familie Beineke zum Antrittsbesuch vor dem Tor steht.
Unter Regie von Sonja Müller und Joachim Riesch entfaltet sich ein wahres Feuerwerk an charmant-morbiden Gags. Die Drehbühne ermöglicht eine Doppelkulisse: Je nach Bedarf wird entweder die efeuüberwucherte Außenfront des Addam‘schen Anwesens sichtbar oder das Hausinnere mit Ahnengalerie, Sarg und rotem Sofa. Durch die Treppe im Innenraum entsteht eine zweite Spielebene. Seitlich ist mit verwitterten Gittertüren und Grabsteinen die Ruhestätte der zahlreichen Ahnen angedeutet.
Jeder einzelne Addams-Vorfahr wird als eigene kleine Rolle ausgestaltet. Es gibt den Pierrot, der mit graziösen Schritten über die Bühne tänzelt und den Steinzeitmann, der kaum unter seinem wilden Haarwuchs hervorlinsen kann und gebückt mit Keule einher stapft. Man entdeckt einen Elvis verdächtig ähnlich sehenden Herrn in Satinanzug mit Glitzerkragen und Charlie Chaplins Tramp mit Stock, Schnurrbart und Melone. Napoleon mit Zweispitz und typischer Pose steht neben Kleopatra. Eine Krankenschwester ist ebenso vertreten wie ein Sträfling und eine Braut, die sich über ihren offensichtlich eher unerwarteten Tod sichtlich grämt. Die von Irmgard Kühnle-Lange und ihrem Team liebevoll mit vielen Details ausgestalteten weißen Kostüme der Ahnen vereinen die vielen Figuren zu einem harmonischen Ensemble. Die Hauptcharaktere sind wie die bekannten Filmfiguren gewandet.
Da ist zum einen Vater Gomez Addams. Mal im Jackett, mal im legeren Hausmantel, aber niemals ohne Krawatte, ist er seiner „Cara“ treu ergeben. Grandios, wie David Kovacs nicht nur in den Sprechszenen, sondern auch in den Liedern den spanischen Akzent durchhält und zugleich mit sauberer Intonierung und guter stimmlicher Präsenz aufwartet. Seine immer wieder theatralisch aufgerissenen Augen und die ausladende Gestik - mit oder ohne Degen – begeistern ebenso wie seine leidenschaftlichen Tangoschritte.
Andrea Werthwein als seine Gattin Morticia lässt sich da gerne mitreißen, gibt aber ansonsten die Unterkühlte, die in tief ausgeschnittenem schwarzen Abendkleid durchs Haus schreitet und mit einem einzigen eleganten Verschränken der Arme wortlos Anweisungen erteilt. Nichts ist für sie wichtiger als Ehrlichkeit – eine Einstellung, die man bei den abgedrehten Addams‘ gar nicht erwartet – und so bedarf es auch Gomez‘ ganzer Hingabe, um sie wieder zu versöhnen. Ebenso wie ihr Bühnengatte spielt Andrea Werthwein auf sehr hohem Niveau und lässt auch gesanglich nichts zu wünschen übrig. Ihr dunkel legierter Mezzosopran passt hervorragend zu Nummern wie „Der Tod steht um die Ecke“. Im Duett „Geheimnisse“ kontrastiert sie schön mit der hellen Stimme von Nicole Karrer, die als Alice Beineke in gelbem Kleid zunächst nur ihre bürgerlich-brave Seite zeigt, bevor sie sich nach einem versehentlichen Schluck „Acrimonium“ selbiges völlig enthemmt vom Leib reißt und mit derart derben Ausdrücken um sich wirft, dass Morticia ihrem Sohn verschämt die Ohren zuhält.
Dabei ist Pugsley nicht eben zart besaitet. Er schläft unter einem riesigen Spinnennetz, an dem noch ein paar Fliegen kleben und liebt wie alle Familienmitglieder Dunkelheit und Tristesse, Leid und Unglück. Len Krause in schwarz-weiß gestreiftem Shirt kreischt in höchsten Tönen, wenn er an der Foltermaschine hängt, singt aber auch ein sehr sicheres, gefühlvolles „Was wäre wenn“, eine Ballade, die mit so gar nicht balladentypischem Text die pure Verzweiflung offenbart, die Pugsley befällt, wenn er nur daran denkt, nicht mehr von Wednesday gefoltert zu werden.
Die hingegen hat sich völlig verändert, seit sie nur noch Lucas Beineke im Kopf hat. Statt mit der Armbrust Störche und mit Pfeil und Bogen Hasen zu schießen – die so getöteten Stofftiere lösen wahre Lachsalven aus – liebt Wednesday jetzt Disney und Kanarienvögel. Für den Besuch der Schwiegereltern in spe tauscht sie ihr schwarzes Kleid freiwillig gegen ein kanarienvogelgelbes, eine bisher im Hause Addams streng verpönte Farbe. Leni Karrers eher metallisch gefärbte Stimme passt zum Rollencharakter, schauspielerisch arbeitet sie sehr schön die unverkennbaren Ähnlichkeiten zwischen Mutter Morticia und Wednesday heraus.
Auch Vater und Sohn Beineke sind sich in ihrem hausbackenen Outfit und verkrampftem Gehabe ausgesprochen ähnlich. Steffen Schwarz als Mal und Matthias Ahle als Lucas Beineke werden beide erst zum Ende hin lockerer. Vater Mal tauscht Anzug gegen Stones-Shirt und Sohn Lucas wird ohne dicke Brille und angeklatschte Haare gleich deutlich attraktiver.
Herrlich schrill in gehäkelter Blümchenweste und gestrickten Strümpfen gibt Irmgard Kühnle-Lange die total durchgeknallte Grandma, die mit einem Wägelchen voller Zaubertränke durchs Haus zieht. Butler Lurch, dessen Körpergröße ebenso eigenartig ist wie seine Schweigsamkeit, bewegt sich unnatürlich steif und ausschließlich im Zeitlupentempo. So wirkt er wie eine Mischung aus Vampir und Android, was Wolf Hermann mit herrlich akzentuierter Mimik und Gestik auf die Bühne bringt.
Der glatzköpfige, dicke Onkel Fester wirkt mit seiner Liebe zum Mond inmitten der bizarren Gestalten fast schon alltäglich. „Sagt der Mond ich liebe Dich“ interpretiert Christian Fickert inmitten grüner Leuchtsterne mit viel Ausdruckskraft und warmer, einschmeichelnder Stimme - gesanglich der wohl schönste Moment im Stück.
Ansonsten bleiben die teils spanischen, teils nach Broadway klingenden Melodien kaum im Ohr. Das liegt aber nicht an Sylvio Zondlers gefälligen Arrangements oder gar am Orchester, das unter der Leitung von Peter Pfeiffer gewohnt professionell aufspielt, sondern an den per se eher belanglosen Kompositionen.
„The Addams Family“ besticht nicht gerade durch einen anspruchsvollen Plot, sondern häuft einfach einen schrägen Gag auf den anderen. Doch hinter all‘ dem gruftigen Humor steckt durchaus auch eine ernsthafte Botschaft: Wenn man das Andere nicht gleich ablehnt und verurteilt sondern akzeptiert, kann man vielleicht sogar von neuen Impulsen profitieren. So wie die Addams‘ und die Beinekes.
Die durchweg fabelhaften schauspielerischen Leistungen des höchst motivierten über 60-köpfigen Ensembles tragen die Inszenierung der „Addams Family“ im Theater unter den Kuppeln. Da fällt der eine oder andere vielleicht nicht ganz perfekte Ton oder Schritt wahrlich nicht ins Gewicht. So viel Begeisterung wirkt ansteckend, so viel Freude am Theater ist auch für die Besucher eine bereichernde Erfahrung.
Text: Sylke Wohlschiess
... und hier noch einige Szenenfotos aus "The Addams Family":