Ein Stern am Musicalhimmel:
Rezension Musical „Les Misérables“ in Zürich (UK-Tour)
25.02.2020 – Musical-Rezension „Les Misérables“ - englischsprachige Originalversion / Produzent: Cameron Mackintosh - Tourstation Zürich
Revolution in der Schweiz! Allerdings örtlich begrenzt auf Zürich, genauer: auf das Theater 11. Das Bühnengeschehen beim Musical „Les Misérables“ wird von Cast, Musikern und Kreativteam der englischsprachigen Originalproduktion des Produzenten Cameron Mackintosh so mitreißend umgesetzt, dass man schon mal Raum und Zeit vergisst und sich unmittelbar ins Jahr 1832 versetzt fühlt, in die Straßen von Paris, mitten zwischen mutige Widerstandskämpfer, unglücklich Verliebte und zwielichtige Gestalten.
Historie hinter der Geschichte
Der Pariser Juniaufstand von 1832, mit dem sich Republikaner gegen die Herrschaft von König Louis Philippe zur Wehr setzten, wurde in nur einer Nacht von den Regierungstruppen abgewehrt. Die jungen Studenten, Künstler und Intellektuellen fanden zu wenig Unterstützung in den übrigen Bevölkerungsschichten, so blieb der Aufstand ohne politische Wirkung. Und doch hat Victor Hugo ein Kernstück seines Romans „Les Misérables“ genau in dieser Zeit angesiedelt. Das gleichnamige Musical von Alain Boublil (Libretto) und Claude-Michel Schönberg (Musik) wurde 1980 uraufgeführt. Um die komplexe Handlung zu verdeutlichen, wurde es danach nochmals überarbeitet und erweitert.
Seit 1985 gibt es das Musical in seiner heutigen Form. Aus Anlass des 25-jährigen Bestehens wurde die Originalproduktion im Jahr 2009 neu konzipiert und feierte in diversen Ländern und auf Tour durch Großbritannien große Erfolge. Nun war diese Original-Tourproduktion erstmals in der Schweiz zu Gast. Mit dabei: ein großes Orchester, das Ben Atkinson mit Bravour durch die anspruchsvolle Partitur geleitet. Für ein exzellentes Klangerlebnis sorgt Tonmann Mick Potter.
„Les Misérables“ mit bildgewaltiger Ausstattung auf Tour
Wer bislang „Tourproduktion“ mit „reduzierter Ausstattung“ gleichgesetzt hat, erlebt eine Überraschung: Aufwendig, wandelbar, mit immer neuen Einblicken und Blickwinkeln haben John Napier das Bühnenbild und David Hersey das Lichtdesign gestaltet. Fester Bestandteil sind hohe, verschiebbare Wände, die mal die verwinkelten Gassen von Paris, mal Jean Valjeans Haus in der Rue Plumet darstellen, sogar die Hausnummer 55 fehlt nicht beim schmiedeeisernen Gartentor. Schräger Lichteinfall schafft Tiefe und zeigt direkt ins Café Musain, den Treffpunkt der Studenten. Dort führen sie mit der Trikolore um die Hüften leidenschaftliche Diskussionen und träumen von einer gerechteren Gesellschaft. Sinnvolle Requisiten - natürlich die rote Flagge der Revolution, aber auch viele Kleinigkeiten, beispielsweise Körbe in der Fabrik und Kornbündel bei der Erntearbeit - sorgen für Lebendigkeit. Die Barrikade wirkt nicht konstruiert, sondern sehr realistisch wie eilends aus Karren, Brettern und Leitern angehäuft.
Ergänzend dazu gibt es Projektionen (Fifty-Nine Productions), die von Victor Hugos Gemälden inspiriert sind. Dass Hugo nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler war, ist wenig bekannt. Monochrome Bilder, bei denen Blau- und Brauntöne dominieren, verwaschene Konturen, Gebäude bei Nacht, alles wirkt düster und verlassen, dunkel und unheilvoll – sowohl in Victor Hugos Gemälden, als auch in der Szenerie des Musicals.
Dies setzt sich in den Kostümen fort, für die Andreane Neofitou und Christine Rowland verantwortlich zeichnen. Egal, ob die zerschlissenen Kleider der armen Bevölkerung, die Lumpen der Sträflinge oder die edlen Stoffe der Oberschicht – außer den schrill-bunten Thénardiers und ein paar wenigen revolutions-roten Farbtupfern bleibt alles gedeckt und fügt sich so ins Gesamtbild.
Eine stimmige Szenerie also, die den idealen Rahmen für das gesangliche und schauspielerische Können aller Akteure bildet. Laurence Connor und James Powell geben den Hauptcharakteren genug Raum zur Entfaltung und lassen mit gut durchdachter Personenregie das gesamte Ensemble zu einer Einheit verschmelzen. Die Emotionalität, die das Musical „Les Misérables“ per se auszeichnet, wird durch wohl gesetzte kleine Gesten und intensiven Blickkontakt der Darsteller untereniander zusätzlich gesteigert. Dieses Zusammenspiel auf höchstem Niveau macht vor allem die Ensembleszenen zu fantastischen Momenten, die noch lange nachhallen.
Grandiose Besetzung
Dies gilt auch für die Stimme von Tessa „Fantine“ Kadler. Nicht nur ihre wunderschöne Stimmfarbe lässt aufhorchen. Wenn Fantine kurz vor ihrem Tod ihre Tochter zu sehen glaubt, kann man die kleine Cosette fast selbst erblicken, so nachdrücklich transportiert Tessa Kadler die Verzweiflung ihrer Bühnenfigur.
Cosette als Kind wird bezaubernd gespielt und gesungen von Ruby Bravery. Eben noch wirbelt sie in den Armen ihres Ziehvaters durch die Luft, als ein schneller Szenenwechsel Jahre überbrückt und Charlie Burn als erwachsene Cosette neben Jean Valjean durch Paris schreitet. Eine gekonnte Mischung aus Zartheit und Energie zeichnet Burns Darstellung aus. Sie fühlt sich unter dem Schutz ihres Ziehvaters wohl, aber als Marius in ihr Leben tritt, wünscht sie sich mehr Freiheit. Die Balkonszene vor „A Heart Full Of Love“ erinnert an Romeo und Julia. Im Duett der beiden fehlt es nicht an Gefühl und die Stimmen von Charlie Burn und Danny Colligan verbinden sich zu klangschönen Harmonien.
Danny Colligan alias Marius verzehrt sich nach Cosette und himmelt sie förmlich an, als er sie endlich auf den Balkon ihres Zuhauses erblickt. Auch den inneren Konflikt zwischen seiner Verliebtheit und den Verpflichtungen seinen Freunden gegenüber spielt Colligan gut heraus. Lediglich bei „Empty Chairs At Empty Tables“ fehlt es etwas Varianten im Gesichtsausdruck. Die schockiert-versteinerte Miene passt hervorragend, aber hätte durchaus auch einmal von lodernder Verzweiflung durchbrochen werden dürfen. Möglichkeiten dazu bietet dieser grandiose Titel allemal.
Ergreifende Momente erlebt man in dieser Szene, als die toten Freunde die Bühne betreten und am Ende des Liedes brennende Kerzen vom Boden aufnehmen und ausblasen. Enjolras verweilt mit einem langen Blick zurück auf Marius, der die letzte Kerze löscht.
Als Anführer der Revolte agiert Barnaby Hughes mit druckvoller Stimme und erfrischend ungestümem Spiel. Nichts Wichtigeres gibt es für Enjolras als den Kampf um eine bessere Welt. Er denkt nicht an mögliche Gefahren und erkennt erst in dem Moment, als der tote Gavroche in seine Arme fällt, dass sich die ganze Sache seiner Kontrolle längst entzogen hat. Hughes‘ Miene wechselt von fassungslosem Entsetzen zu wilder Entschlossenheit, bevor er den Rand der Barrikade erklimmt und ebenfalls getötet wird.
Zum starken Schauspiel von Barnaby Hughes kommt ein starker inszenatorischer Moment: Ein Karren mit dem toten Enjolras steht plötzlich in grellem Licht. Aus dem Dunkel taucht Inspektor Javert auf, der nachdenklich auf den Toten schaut, bevor er den am Boden liegenden Gavroche entdeckt, fragend zum Himmel schaut und sich langsam bekreuzigt. Dass ein Kind stirbt, das kann doch nicht Gottes Wille sein, scheint er sich zu fragen. Auch wenn das Kind ihm einige Schwierigkeiten bereitet hat.
Wie eine Miniaturausgabe von Enjolras huscht der kleine Gavroche furchtlos durch die Schatten von Paris, ist immer da, wo keiner ihn erwartet, weiß alles, sieht alles und hat stets ein „Vive La France“ auf den Lippen. Kayleb Rene-Gray steht seinen erwachsenen Kollegen in Professionalität, Ausdruck und Intensität in nichts nach und liefert eine famose Leistung ab.
Ebenso glänzen Helen Walsh und Cameron Blakely als durchtriebenes Wirts-Ehepaar Thénardier, das vor keiner Schurkerei zurückschreckt und doch stets die Lacher auf seiner Seite hat. Kaum zu glauben, dass die ernsthafte Eponine die Tochter dieser Galgenvögel ist.
Frances Mayli McCann gibt eine sehr burschikose Eponine, der man die mutige Barrikadenkämpferin sofort abnimmt. Ihre unglückliche Liebe zu Marius kommt aufgrund der etwas einseitigen Mimik nicht durchgehend zum Ausdruck. Gesanglich lässt sie im Solo „On My Own“ nichts vermissen.
Auf ganzer Linie beeindruckend: Valjean und Javert
Auf ganzer Linie beeindrucken die Darsteller der größten Rollen im Musical „Les Misérables“: Dean Chisnall als Jean Valjean und Jordan Simon Pollard als sein lebenslanger Widersacher Inspektor Javert.
Für Javert, der im Gefängnis geboren wurde, sind Regeln und Gesetze das Bollwerk, das ihn fest auf der Seite der Rechtschaffenen hält. Er kennt kein Pardon und glaubt sich dabei absolut im Recht. Simon Jordan Pollards imposante Statur in Verbindung mit strengem Blick und energischem Schritt flößt sofort den nötigen Respekt vor Inspektor Javert ein. Sein raumfüllendes Stimmvolumen und die meisterhaft gehaltenen langen Töne bei „Stars“ werden zu Recht mit langem Szenenapplaus belohnt.
Auch Javerts Zusammenbruch bringt Pollard packend auf die Bühne. Javert, der selbst niemals Gnade walten ließ, kommt nicht damit klar, dass Valjean ihm genau diese gewährt. Als er Valjean mit dem verwundeten Marius erneut stellt, lässt er ihn gegen seine eigentliche Überzeugung laufen. Doch er kommt mit seinem eigenen Verhalten nicht klar. Javerts Weltbild, das nur schwarz und weiß, nur gesetzestreu oder verbrecherisch kennt, ist unwiederbringlich zerstört. So bleibt nur ein Ausweg.Simon Jordan Pollard lässt Javerts Seelenqual bei „Javerts Suicide“ fast mit Händen greifbar werden, bevor er die ihm eigene Strenge nun gegen sich selbst richtet und sich vom Brückengeländer in die Seine stürzt. Die Illusion des tiefen Falls wird durch die Projektion eines wirbelnden Trichters erzeugt, während Javert nach hinten gleitet. Die Szene insgesamt wird durch Simon Jordan Pollards Darbietung zu einem phänomenalen Ereignis.
Gleiches gilt für Jean Valjeans großes Solo. Dean Chisnall singt herzzerreißend schön. Klar und hell lässt er die Töne durch den Saal schweben, mit unglaublicher Leichtigkeit bis in unglaubliche Höhen. „Bring Him Home“ wird zu einem gesanglich atemberaubenden Moment.
Auch schauspielerisch zeigt Dean Chisnall auf dem Lebensweg des Jean Valjean vom auf Rache sinnenden Ex-Sträfling bis hin zum in Frieden mit sich und der Welt ruhenden Menschen sein ganzes Können. Authentisch bis in die Fingerspitzen, mit genau dosiertem Spiel, nie überzogen aber stets überzeugend liefert Dean Chisnall in der Rolle des Jean Valjean eine echte Glanzleistung ab. Bravo!
Wer diese „Les Misérables“-Tour erlebt hat, versteht, warum sie seit so vielen Jahren von Erfolg zu Erfolg eilt. Jetzt geht es für die Akteure zurück auf die Insel, wo bis November 2020 neun weitere Tourstationen anstehen. Und auch dort wird das Publikum zweifellos wieder begeistert applaudieren und mit Marius, Eponine, Javert, Valjean und allen anderen mitleiden. Denn „Les Misérables“ ist ein wahres Glanzlicht des Genres, ein Musical, das nach wie vor Maßstäbe setzt.
Text: Sylke Wohlschiess
Fotos: Iris Steger von Musicalstories & Photography - wir danken für die Nutzungserlaubnis
Wenn Ihnen die Text und Fotos gefallen, freuen Iris Steger und wir uns über Ihr „like“ für unsere FB-Seiten: Musicalstories & Photography und MusicalSpot.de
Diese Inhalte auf MusicalSpot.de könnten Sie auch interessieren:
Rezension „Les Misérables“ in Linz, September 2014
Extra-Tipp: Bei Musicalstories & Photograhy gibt es Interviews mit Dean Chisnall (Jean Valjean), Katie Hall (Fantine) und Nic Greenshields (Javert).