Beeindruckend:
Rezension „Frühlings Erwachen" in Heilbronn
Einfach ist es zu keiner Zeit, das Erwachsenwerden. Schule, Klavierlehrer, Eltern – alle haben große Erwartungen. Dabei ist man eigentlich schon genug damit beschäftigt, die wild hüpfenden Hormone unter Kontrolle zu halten. Wenn in dieser schwierigen Lebensphase kein Halt und keine Hilfe zu bekommen ist, können eigentlich lösbare Probleme ganz leicht eskalieren. Auch heute noch.
Eine Korrektionsanstalt oder eine vollkommen unaufgeklärte 14-Jährige sind zwar heutzutage kaum noch vorstellbar, dennoch haben Steven Sater (Libretto) und Duncan Sheik (Musik) mit ihrer Musicaladaption von Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen" ein im Grunde zeitloses Werk geschaffen, denn in anderer Ausprägung gibt es heute wie damals die selben Spannungsfelder zwischen den Generationen.
Ein überdimensionales Schulpult rahmt die gesamte Bühne im Theater Heilbronn ein. Weitere baugleiche Pulte jeglicher Größe unterteilen den Bühnenraum in mehrere versetzte Ebenen, die durch verschiebbare Elemente sehr flexibel immer wieder neu angeordnet werden und den bespielbaren Raum vervielfachen. Allerorten herrscht Bewegung: Hoch über der eigentlichen Bühne betreten die Darsteller durch eine Tür den Riesentisch, auf die mittleren Ebenen führen beidseitig schmale Stege. Die Darsteller wechseln durch gewagte Sprünge auf andere Plattformen, zudem transportiert ein nach vorne offener Aufzug von oben nach unten. Auch das Orchester unter der Leitung von Heiko Lippmann ist auf einem höhenverstellbaren Podest inmitten der Darsteller platziert. Die rockige Musik fungiert für die Jugendlichen als Ventil für aufgestaute Emotionen, was durch die präzise, sehr druckvolle Umsetzung der Partitur noch verstärkt wird.
Wenn jeder Quadratmeter auf allen Ebenen von Darstellern besetzt ist, entsteht eine atmosphärische Dichte zwischen nervöser Überreiztheit und gespannter Erwartung, die man als gelungene Projektion der wirren und verwirrenden Gedankenwelt der Heranwachsenden bezeichnen kann. Der Gegensatz zu den auf völlig andere Art intensiven Zwei-Personen-Szenen auf einer fast leeren Bühne unterstreicht diesen Eindruck zusätzlich. Das fantastische Bühnenbild von Fabian Lüdicke und die durchdachte Regie von Christian Doll verbinden sich zu ausdrucksstarken, nachhaltigen Bildern.
Das junge Ensemble agiert energiegeladen und kraftvoll, lässt die Individualität jedes einzelnen Bühnencharakters lebendig werden und wirkt dennoch homogen. Die prägnanten Choreographien von Eric Rentmeister werden synchron getanzt, alle Akteure beeindrucken durch hervorragende schauspielerische Leistungen und soliden Gesang.
Moritz Stiefel leidet nicht nur unter seinen schlechten Schulnoten, sondern kommt auch mit seiner erwachenden Sexualität nicht klar. Verdruckst und hilflos irrt er durch die Welt, was Joachim Foerster mit seiner gesamten Körperhaltung und Mimik verdeutlicht. Auch die in den hohen Tönen etwas dünner werdende und fast wegbrechende Stimme verleiht diesem Charakter Ausdruck. Einzig zur Seite steht Moritz der unangepasste, hochintelligente Melchior Gabor. Ferdinand Seebacher zeichnet auch mit stimmlicher Präsenz ein gelungenes Bild dieses jungen Mannes, der schon mehr Reife und Erfahrung als seine Kameraden ausstrahlt, aber dennoch die Tragödien in seinem Umfeld nicht verhindern kann. Melchior fühlt sich zur kindlichen Wendla Bergmann hingezogen. Anna Preckeler wirkt ausgesprochen zart und zerbrechlich, schaut mit großen Augen staunend in eine Welt, die ihre Mutter ihr trotz eindringlichstem Flehen nicht erklären will. Wenn Preckeler mit glockenhellem Sopran „Mama" intoniert, überzeugt sie vom ersten Ton an. Bei „Mehr als nur Worte" harmoniert sie wunderbar mit Ferdinand Seebacher, was diese Ballade zu einem der gesanglichen Höhepunkte des Stücks macht. Ebenfalls aufhorchen lässt die rockige Ensemblenummer „So'n verficktes Leben", auch wenn die rüde Sprache heute sicher nicht mehr gleichermaßen schockiert wie Anfang des 20. Jahrhunderts bei der Uraufführung des Schauspiels.
Alle erwachsenen Frauen werden von Sylvia Bretschneider grandios dargestellt. Als Wendlas Mutter ist sie auf ganzer Linie überfordert. Egal, was Wendla als passendes Umfeld für die vehement geforderte Aufklärung auch vorschlägt – Keller, Schlafzimmer, Hände-vor-die-Augen oder Kopf-in-den-Schoß – mehr als „ich kann einfach nicht" und eine unter endlosem Sich-Winden hervorgebrachte Andeutung von Heirat und großer Liebe kommt nicht. So stolpert die unwissende Wendla im roten Kleidchen und kindlich verrutschten weißen Kniestrümpfen in eine ungewollte Schwangerschaft. „Ich bin in Gedanken immer bei dir" sagt Frau Bergmann, und bleibt im blaugrauen Kostüm fast unsichtbar vor der Schattenwand zurück, hinter der Wendla die tödliche Abtreibung erleidet. Als Melchiors Mutter wird Sylvia Bretschneider zur mütterlichen Ratgeberin für Moritz. Aber ihre Hilfe beschränkt sich auf einen Brief, echte Kommunikation findet auch hier nicht statt. Und in der Rolle der Schulsekretärin Fräulein Knüppeldick macht sie gemeinsame Sache mit Rektor Knochenbruch, der sich an Moritz' Namen nicht einmal nach seinem Selbstmord erinnert. Bitterböse die Szene, als die beiden beschließen, Moritz nicht zu versetzen, „weil das oberste Stockwerk nun mal nur 60 Plätze hat". In weiteren Rollen überzeugt Tobias D. Weber als scheinheiliger Pfarrer, verständnisloser Lehrer und Moritz' Vater, der auf dem Friedhof buchstäblich im Regen steht. Als Moritz beschämt und voller Angst eingesteht, nicht versetzt zu werden, lacht er ihn aus und treibt ihn mit dieser Demütigung vollends in den Selbstmord. In Seelenqualen windet Moritz sich auf dem Boden – und in genau gleicher Pose später sein Vater am offenen Grab des Sohnes.
Solche bildgewaltigen Parallelen verwendet Regisseur Christian Doll mehrfach. Als Wendla und Melchior sich nach der Liebesnacht wieder anziehen, erklären sie jede einzelne Bewegung. Das Ensemble führt paarweise wie in Zeitlupe genau die gleichen Bewegungsabläufe aus. Eine Szene, die ebenso stark wirkt wie die Sequenz auf dem Friedhof: Ensemblemitglieder stehen in schwarzer Kleidung bewegungslos auf der Bühnenfläche verteilt. Melchior, aus der Korrektionsanstalt geflohen, stößt zunächst auf Moritz', dann auf Wendlas Grab. Sekunden bevor Melchior seine Bewegungen tatsächlich macht, werden sie im Detail laut angekündigt. Dann bleibt er allein auf der Bühne zurück und will sich völlig entsetzt ebenfalls das Leben nehmen. Aber die beiden toten Freunde erscheinen und können ihn davon überzeugen, dass er weiterleben und kämpfen muss.
Nur angerissen werden zwei weitere Themen: Hänschen und Ernst entdecken ihre homosexuelle Neigung und machen miteinander erste Erfahrungen. Martha deutet an, dass sie von ihrem Vater missbraucht wird. Julia Apfelthaler findet in der Rolle der Martha mit „Was sich nicht erzählen lässt" eine berührende Ausdrucksform zwischen schweigen müssen und sich offenbaren wollen. Die Regie hält sich eng an die Romanvorlage, deshalb werden diese Sachverhalte thematisiert. Für das Musical nötig sind sie sicher nicht, denn die Inhalte sind auch ohne zwei weitere Problemkreise anspruchsvoll und intensiv genug.
Niemals reißerisch, aber in jeder Sekunde mitreißend inszeniert Christian Doll das Heilbronner „Frühlings Erwachen". Man erlebt intelligente Unterhaltung auf hohem musikalischem und schauspielerischem Niveau, die gleichzeitig nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum miteinander Reden anregt. Und - wer weiß - vielleicht sogar zur Verständigung zwischen den heutigen Teenagern und ihren womöglich oft ähnlich überforderten Eltern und Lehrern beiträgt.
Text: Sylke Wohlschiess