Es ist Dichtung:
Rezension „Goethe! - Auf Liebe und Tod“ in Essen
01.05.2017 - Musical - Goethe - Tryout in Essen
„Es ist mehr als die Wahrheit. Es ist Dichtung.“ So beantwortet Lotte die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Manuskripts, das sie dem Verleger soeben überreicht hat. Der Satz ist Programm. „Goethe! – Auf Liebe und Tod“ ist keine bloße Biographie des großen Dichters und Denkers, sondern als Blick zurück in dessen Jugendjahre eine voll und ganz gelungene Symbiose aus historischen Tatsachen und Phantasie.
Das eingespielte Kreativteam Gil Mehmert (Buch und Inszenierung), Martin Lingnau (Musik), Frank Ramond (Songtexte) und Simon Eichenberger (Choreographie) arbeitete an der Musical-Adaption von Philipp Stölzls Kinofilm „Goethe!“ schon während der gemeinsamen Zeit bei „Das Wunder von Bern“. Aufgrund von Veränderungen in der Unternehmensstruktur bei Stage Entertainment wurde das Projekt damals nicht mehr verfolgt. Im April 2017 gelingt dann der Sprung auf die Musicalbühne: „Goethe! – Auf Liebe und Tod“ wird in Kooperation mit Stage Entertainment und Senator Film/Warner Bros. als Tryout an der Essener Folkwang-Universität der Künste aufgeführt. Dies liegt nahe, denn Gil Mehmert lehrt dort seit vielen Jahren als Professor im Studiengang Musical.
Die Riege der talentierten jungen Künstlerinnen und Künstler des Musical-Studienganges wird ergänzt durch erfahrene Darsteller wie Daniel Berger, Mark Weigel und Tom Zahner für die Vater- und Professoren-Rollen. Zahner zeigt enorme Wandlungsfähigkeit, denn er gibt außerdem den durchgeknallten Mephisto, der optisch stark an den Gitarristen Slash erinnert.
An vier Terminen spielen Folkwang-Studentin Lina Gerlitz und Vorjahres-Absolvent Merlin Fargel die Hauptrollen, für die übrigen Vorstellungen konnten mit Philipp Büttner und Sabrina Weckerlin zwei bestens bekannte Gäste gewonnen werden. Studierende der Fachrichtungen Jazz und künstlerische Instrumentalausbildung bringen unter Musikalischer Leitung von Patricia Martin die modernen Klänge, die Komponist Martin Lingnau erschaffen hat, wahrhaft explosiv zu Gehör. Frank Ramond gelingt das Kunststück, seine moderne Songlyrik und Goethes Dichtung zu Liedtexten von höchster Qualität zu verbinden. Autor und Regisseur Gil Mehmert konzipiert jede Szene rund um einen zentralen Song und setzt das überzeugende Buch mit brillanten Einfällen um. So gelingt eine meisterhafte Tryout-Premiere des neuen Musicals „Goethe! – Auf Liebe und Tod“.
Wetzlar, 1772: Aufgrund schlechter Leistungen beim Jurastudium verbannt Goethes Vater ihn ans Reichskammergericht der verschlafenen Kleinstadt. Wie schon zuhause in Frankfurt hat der 23-jährige Johann Wolfgang aber viel mehr Interesse am richtigen Reim als an Recht und Gesetz. Er schließt Freundschaft mit seinem Kollegen Wilhelm Jerusalem, der unglücklich in die verheiratete Margarethe verliebt ist. Auch den jungen Poeten trifft Amors Pfeil. Er verliebt sich in die hübsche Charlotte, die seine Begeisterung für Literatur teilt und ihn als einzige nicht belächelt, sondern in seinem kreativen Schaffen bestärkt. Doch auch Goethes Vorgesetzter Kestner hat ein Auge auf Charlotte geworfen. Die Personen kommen sich näher, die Ereignisse spitzen sich zu – und aus der literarischen Verarbeitung seiner Erlebnisse wird Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“. Was damals einen unerwarteten Hype auslöste, zählt heute zu den großen Werken des Sturm und Drang.
Regisseur Gil Mehmert öffnet gleichsam ein Zeitfenster und führt mitten hinein in diese Lebensphase. Die durchkomponierte, rockige Partitur und die rasanten Szenenwechsel erzeugen einen Drive, der eine unglaubliche Sogwirkung entfaltet. Voller Spannung erwartet man den Fortgang des Stücks und immer wieder blitzt ein Gedanke auf: Ja, so könnte es gewesen sein.
Natürlich kann niemand mit Sicherheit sagen, welche Überlegungen Goethes der Ausgangspunkt seiner Farbenlehre waren oder ob die später in Faust I verewigten Worte „Bin weder Fräulein weder schön“ tatsächlich auf Wilhelms zaghafte Ansprache seiner Angebeteten zurückgehen. Gewiss ist aber, dass in „Goethe! – Auf Liebe und Tod“ historische Fakten und pure Spekulationen sowohl textlich als auch in der szenischen Umsetzung zu einem schlüssigen, authentischen Gesamtbild verwoben werden. Dabei dienen kleine Verschiebungen der Realität dem Stück. Die Umbenennung von Wilhelms großer Liebe Elisabeth Herd zu Margarethe schafft eine gedankliche Verbindung zur Gretchentragödie, auch wenn diese auf eine andere Dame namens Margarethe zurückgeht. Die Abwandlung des berühmten Faust-Zitats „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“ ermöglicht genau genommen sogar einen besonders realistischen Blick auf Goethes frühe Jahre.
Der Urfaust und „Werther“ entstanden parallel, so scheint es durchaus vorstellbar, dass Johann für den poetisch gänzlich unbegabten Kestner den Heiratsantrag mit der Antwort auf die Frage formuliert, an der Faust im ersten Teil der Tragödie scheitert: Die Liebe nämlich hält die Welt zusammen. Umgesetzt wird dies als einfallsreiche Doppelszene. Während bei einer Jagdveranstaltung Kestner von Goethe die wertvollen Tipps erhält, läuft der Antrag auf der leicht erhöhten Ebene im Hintergrund bereits ab.
Diese zweite Spielebene ist als Guckkasten in der Mitte der hinteren Bühnenfläche platziert. Beidseitig führen einige Stufen hinauf. Man schaut frontal in immer wieder andere Räume: Schlichte Metallbetten stehen in der Junggesellenbude von Johann und Wilhelm, mit roten Kissen entsteht daraus das plüschige Sofa in Lottes Elternhaus. Durch Stühle hinter der Laufebene wird diese zum Tisch, hinter dem die gestrengen Professoren bei Goethes Prüfung sitzen. Weiße Stoffbahnen verschließen das Guckfenster, um darauf Projektionen oder Schattenbilder abzubilden. Als Vorhang zur Seite gezogen werden sie bei Lottes Hochzeit.
In enger Verzahnung mit der Regie werden im wahrsten Sinne des Wortes bild-schöne Momente kreiert. Goethe hat für Lotte ein Mini-Theater gebastelt, das exakt der Guckkastenbühne gleicht. Dort wiederum drehen sich später die vergrößerten Abbilder der Papierfiguren. Beim Ankleiden für die Hochzeit wird Lotte hochgezogen, dabei breitet sich ihr Brautkleid über die gesamte Bühne aus und wird zur Leinwand. In der Folgeszene erscheint dort Goethes Handschrift, während dieser zeitgleich am Bühnenrand schreibt und Lotte auf der anderen Seite das Manuskript liest.
Zum wahrlich märchenhaften Augenblick wird der Ausritt beim Duett „Es lebe das Leben“. Zwei Darsteller mit Pferdemaske kniend auf dem Boden, dahinter auf einem Podest, die Zügel in der Hand, bewegen sich Philipp Büttner als Goethe und Florian Minnerop als Wilhelm genau so, als würden sie auf galoppierenden Pferden sitzen – allerdings in Zeitlupe. Zusammen mit der dynamischen Musik, ein wenig Nebel und Michael Grundners gezielter Ausleuchtung ist die Illusion so perfekt, dass man fast meint, tatsächlich Pferde zu sehen.
Das spricht natürlich auch für das Können der Darsteller. Florian Minnerop überzeugt als Wilhelm Jerusalem mit einer ganzen Palette an Emotionen, die er mit sicher geführter, äußerst klangvoller Stimme und gut gesetzter Gestik und Mimik vermittelt. Vom schüchtern um Margarethe werbenden Jüngling, über ausgelassene Fröhlichkeit bei Tanz und Theater bis zum tiefen Elend des verlassenen Liebhabers, Minnerop spielt klar heraus, dass Wilhelms tiefe Gefühle denen Johanns in nichts nachstehen. Ohne das Ventil des Schreibens sieht er aber nur noch den Freitod als Ausweg. Ein lauter Schuss, das Licht erlischt – und schon lästert der ach so ehrenhafte Kestner über Wilhelms Verzweiflungstat.
Marvin Schütt zeichnet eine treffende Charakterstudie des Johann Christian Kestner, der zunächst nur als ein etwas langweiliger, konservativer Pedant erscheint, der aber für seine Ziele über Leichen geht. Jegliche Dankbarkeit gegenüber Goethe ist wie weggewischt, als ihm klar wird, dass Lottes Herz eben diesem gehört. Er verleitet Goethe zu einem verbotenen Duell und schafft es durch diese Intrige, Goethe aus dem Weg zu räumen. Doch dessen Aufstieg zum Literaturstar kann Kestner nicht verhindern.
Heute würde man ihn wohl als „Jungen Wilden“ bezeichnen: Johann Goethe - noch ohne „von“ aber „mit oe“ - ist unangepasst und aufsässig, leidenschaftlich und ungestüm, als Jurist mittelmäßig, als Schreiber geradezu besessen. Philipp Büttner wirbelt in sonnengelber Hose und leuchtend blauem Jackett („Komplementärfarben“) über die Bühne, gleichermaßen heftig in Liebe und Leid, gleichermaßen grandios in Stimme und Spiel. Die modernen Pop-Rock-Nummern passen ideal zu Büttners Stimmfarbe, sein Stimmvolumen und seine Ausdrucksstärke begeistern auf ganzer Linie.
Die Nummern, die Komponist Lingnau Goethe zugedacht hat, sind allesamt hochemotionale Titel, die vertraut und gleichzeitig erfrischend unverbraucht klingen. „Willkommen und Abschied“ ist vielleicht der schönste Beweis der neueren Musicalgeschichte, dass man aus einem Gedicht des 18. Jahrhunderts mit minimalen behutsamen Textanpassungen eine Powerballade mit einem großartigen Melodiebogen zaubern kann. Der langsame Beginn steigert sich immer mehr, bis ein druckvolles Schlagzeug einsetzt, das Tempo anzieht und wieder abklingt. Gegen Ende wird das Goethe-Solo zum Duett mit Lotte, deren Lieder ebenso emotional, aber weniger überschäumend konzipiert sind.
Eben jene Lotte, fantastisch interpretiert von Sabrina Weckerlin, steht im Zentrum von Goethes schwärmerischer Anbetung. Als pflichtbewusste Älteste sorgt sie für die jüngeren Geschwister, ihre Fröhlichkeit wirkt nicht nur ansteckend im Kreis der Familie, sondern auch anziehend auf Goethe, den sie bei einem Tanzfest trifft. Sie ist von ihm fasziniert. Und doch fügt sie sich als brave Tochter den Wünschen des Vaters, der sie versorgt sehen will. Weckerlin bringt die herzliche, positive Ausstrahlung der Charlotte Buff sehr lebensecht auf die Bühne. Ebenso intensiv vermittelt sie in „Irgendwann“ auch Lottes gefestigten Charakter und ihren selbstlosen Verzicht. Sie leidet unter der Trennung von Goethe, ist aber besonnen genug, um der Vernunftehe mit Kestner zuzustimmen, auch zum Wohl ihrer Familie.
Margarethe hingegen ließ sich auf die Affäre mit Wilhelm ein, hat aber nicht den Mut, den Konventionen zu trotzdem und ihren Mann zu verlassen. Nach Wilhelms Suizid blickt sie fassungslos auf seinen Sarg. Anneke Brunekreefts warme Stimme lässt aufhorchen, sie liefert eine ebenso bemerkenswerte Leistung ab, wie alle übrigen Castmitglieder, die sich nicht nur in den großen und kleinen Soloparts, sondern auch mit hervorragendem Ensemblegesang empfehlen.
Mit sprühender Energie werden auch Simon Eichenbergers einfallsreiche Schrittfolgen getanzt, bei denen Requisiten exakt passend zur emotionalen Ausrichtung jeder einzelnen Szene eingesetzt werden. Aktenordner, in fast bedrohlichen Gesten ausgestreckt, gemahnen der Pflicht. Weiße Herzballons schweben über der traurigen Lotte, als sie sich aus Vernunftgründen für Kestner entscheidet. Eine Blumenwiese entsteht aus kleinen auf der Bühne verteilten Vasen mit Blütenzweigen.
Das für die Ausstattung verantwortliche Duo Eva-Maria van Acker und Maria Wolgast hat unzählige Details zu einem wunderschönen Gesamtbild vereint, in das sich auch die Kostüme einfügen. Bis auf die weißen Perücken der honorigen Herren Juristen sieht man moderne Frisuren und Schnitte, die vor allem bei Lottes Kleidung fast zeitlos wirken.
So, wie auch die Thematik zeitlos aktuell ist. Die Entdeckung eigener Fähigkeiten und Lebenspläne, die Abgrenzung von der älteren Generation und die daraus resultierenden Konflikte kannte nicht nur Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe. Mehr oder weniger intensiv erlebt dies wohl jeder Mensch auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen.
Vielleicht ist es das, was das Musical „Goethe! – Auf Liebe und Tod“ so unmittelbar macht. Vielleicht ist es auch die geniale Musik. Oder das brillante Libretto? Die meisterhafte Regie vielleicht? Es könnte auch sein, dass „Goethe! – Auf Liebe und Tod“ einer der seltenen Fälle ist, bei denen einfach alles passt. Eines ist gewiss: Dieses Musical gehört auf die Bühne. Denn es ist mehr als die Wahrheit. Es ist Dichtung.
Text: Sylke Wohlschiess
Wir danken Mirco Wallat von musicalsessen für die zur Verfügung gestellten Fotos.
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