Schatten über Manderley:
Rezension "Rebecca" in Tecklenburg
Eine düster-geheimnisvolle und zugleich ungemein faszinierende Aura umgibt den reichen Engländer Maxim de Winter. Der Tod seiner Frau Rebecca ging durch alle Medien. Ein Bootsunfall sei es gewesen, Maxim selbst hatte die Leiche damals identifiziert. Doch ist die offizielle Version die ganze Wahrheit? Die Schatten der Vergangenheit lasten schwer auf Maxim de Winter.
Auf der Freilichtbühne in Tecklenburg bleibt es nicht bei den unsichtbaren Seelenqualen. Regisseur Andreas Gergen holt die Schatten ins Licht, gibt ihnen Gestalt in Form von schwarz verhüllten Tänzerinnen und Tänzern, die sich in Danny Costellos Choreographie elegant zwischen die Protagonisten mischen und dem Musical von Sylvester Levay (Musik) und Michael Kunze (Libretto) eine neue Dimension verleihen. Dabei agieren diese neuen Figuren stets analog zum Fortgang der Handlung und der Entwicklung der Charaktere.
Schon ins hell erleuchtete Hotelfoyer in Monte Carlo schleichen sich die Schatten ein und fungieren als Schirmständer und Tischbein. Bei der Szene an den Klippen lassen sie ein bezauberndes lebendiges Bild entstehen. Aber bald schon sorgen die schwarzen Gestalten für Gänsehaut: Wie ein Vorbote kommenden Unglücks, von ihr noch gar nicht wahrgenommen, schwebt ein Schatten in unmittelbar Nähe um "Ich" als sie sich wünscht, die Zeit mit Maxim für immer festhalten zu können.
Leider lenkt dies ein wenig vom Gesang ab, was später bei Maxims Beichte besser gelöst ist: Die Schattenfiguren stellen die Ereignisse im Bootshaus in einer kleinen drehbaren Seitenkulisse dar, während parallel in der Bühnenmitte der völlig verzweifelte Maxim "Ich" in die Tragödie jener Nacht einweiht.
Richtig unheimlich wird es auf der anderen Seite der Drehbühne, in Rebeccas Schlafzimmer. Mrs. Danvers verliert sich in Erinnerungen und präsentiert der wie erstarrt lauschenden "Ich" Rebeccas Nachthemd, das sie dem Rebecca-Schatten überstreift. Durch die geniale Ausleuchtung erscheint dieses blendend weiß und lässt zugleich die Person, die den Schatten darstellt, fast gänzlich mit dem dunklen Hintergrund verschmelzen – ein großartig-grusliger Moment. Als "Ich" die "Stärke einer liebenden Frau" in sich entdeckt, weichen die Schatten vor ihr zurück. Ebenso folgerichtig ziehen sie letztlich Mrs. Danvers im brennenden Manderley in ihr Reich.
Gergen punktet mit weiteren Einfällen, die die latent bedrohliche Stimmung gekonnt verstärken: Maxim, der sich vor Gericht wortwörtlich in Widersprüche "verstrickt", echte Raketen in der Bucht und Taschenlampen, die von überallher plötzlich aufblitzende Lichtkegel durch die Nacht schicken. Die auf zwei Ebenen bespielbare Kulisse gewährt Einblick in die Räume des de Winter'schen Anwesens, wird aber auch zum Inneren des Gerichtsgebäudes.
Auch die natürlichen Auf- und Abgänge nutzt Bühnenbildnerin Susanna Buller so gut, dass man sich direkt im Geschehen wähnt: Die Klippen hoch über der Bühne, von denen Maxim schnellen Schrittes wieder herabläuft oder ein seitlicher, halb zugewachsener Weg, über den er das Bootshaus erreicht. Lediglich die projizierten Flammen am Schluss können es mit echten nicht ganz aufnehmen. Aber im Hinblick auf die Bäume direkt an der Bühne ist offenes Feuer natürlich keine Option.
Dafür sind auf einer Freilichtbühne einmalige Momente möglich: Wenn der bedeckte Himmel plötzlich aufreißt und einen Sonnenstrahl direkt zu "Ich" und Maxim auf die Klippen schickt, dann verschmelzen Theatermagie und Natur zu unvergesslichen Eindrücken. Ebensolche sind auch der durchweg grandiosen Cast zu verdanken, die unter Gergens klar ausgearbeiteter Personenregie fabelhaftes leistet.
Milica Jovanović positioniert "Ich" von Anfang an als junge Frau von großer innerer Stärke. Zwar muss sie sich den Anweisungen ihrer reichlich exaltierten Arbeitgeberin Mrs. Van Hopper (umwerfend komisch: Anne Welte) fügen, zwar verunsichert sie die ungewohnte Umgebung auf Manderley und Mrs. Danvers hat zunächst leichtes Spiel mit ihr. Aber mit klaren Blicken und fester Stimme lässt Jovanović in einer ausgezeichneten schauspielerischen Leistung "Ichs" Charakterfestigkeit durch alle Widrigkeiten deutlich aufblitzen. Die Wandlung zur Stütze für Maxim erscheint so nicht nur logischer als in vorangegangenen Inszenierungen, sondern auch hundertprozentig glaubhaft.
Auch die mädchenhafte, unbeschwerte Seite des Bühnencharakters bleibt nicht auf der Strecke. Der kleine freudige Hopser, als "Ich" nach Maxims Heiratsantrag Mrs. Van Hopper buchstäblich den Rücken zukehrt und der gespielte Unschuldsblick des ertappten Kindes, als der Amor zerbricht, sind nur zwei der Feinheiten, mit denen Milica Jovanović ihren Part wunderbar ausgestaltet. Auch gesanglich weiß sie zu begeistern. "Zeit in einer Flasche" singt sie mit strahlend klarer Stimme und angenehm schnörkelloser Stimmführung, "Ichs" tiefe Gefühle für Maxim kommen so unmittelbar zum Ausdruck. Gleiches gilt für das Duett mit Roberta Valentini als Beatrice, die mit "Was ist nur los mit ihm?" auch ein ebenfalls ein exzellent gesungenes Solo abliefert.
"Ich" ist die einzige Person, die mit allen anderen interagiert. So natürlich auch mit Mrs. Danvers. Pia Douwes, die die Rolle bereits 2011 in Stuttgart spielte, versteht es meisterhaft, die eiskalte Herablassung gegenüber "Ich" in einen einzigen Blick zu legen. In schwarzem Kleid und kerzengerader Haltung schwebt sie wie eine allgegenwärtige Bedrohung aus der Vergangenheit durch das Anwesen, fanatisch bestrebt, Rebeccas Stellung über ihren Tod hinaus zu erhalten und die neue Mrs. de Winter zu vertreiben. Dafür schreckt sie auch vor hinterhältigen Tipps nicht zurück, die "Ich" dankbar annimmt, bevor sie erkennt, dass Mrs. Danvers ihr Übles will. Ihre Soli, insbesondere die Titelhymne, interpretiert Pia Douwes brillant und kraftvoll. Ihr Stimmvolumen scheint unbegrenzt, ihr Schauspiel setzt Maßstäbe.
"Rebecca"-Erfahrung aus Stuttgart bringt auch Jan Ammann mit, der seine Rolleninterpretation spürbar intensiviert hat und mit differenziertem Spiel, natürlicher Bühnenpräsenz und tadellosem Gesang glänzt. Sein leidenschaftlicher Ausbruch angesichts von "Ichs" dahingesagtem "die Leute reden viel", lässt einen erschrocken zusammenfahren, so heftig und unvermittelt bricht sich die Wut der Verzweiflung ihre Bahn. Hinter der vornehm-zurückhaltenden Fassade des Aristokraten lässt Ammann stets die Abgründe des Maxim de Winter erahnen, die er dann bei "Kein Lächeln war je so kalt" auch stimmlich mit Wucht offenbart. Ganz anders dagegen das sanfte "Zauberhaft natürlich", das mit Jan Ammanns unverwechselbarer Stimmfarbe und seiner geradezu anmutigen Stimmführung zu einem wunderbaren Moment des Innehaltens wird.
Ein ebenfalls ausgesprochen emotionales "Ehrlichkeit und Vertrauen" intoniert Thomas Hohler, der auch in Typ und Haltung perfekt den Maxim treu zur Seite stehenden Verwalter Frank Crawley verkörpert. Hohler singt fantastisch – da wünscht man sich noch das eine oder andere zusätzliche Lied für die Rolle.
Das genaue Gegenteil von Crawley ist Rebeccas windiger Cousin Jack Favell, der nur seinen Vorteil im Sinn hat. Robert Meyers klangvolle Stimme ließe das Solo "Eine Hand wäscht die andere Hand" fast zu schön wirken – wäre da nicht das hinterhältige Grinsen, mit denen er weiß behandschuht "Ich" und Crawley wie Marionetten um sich herum tanzen lässt. Offensichtlich wird sein mieser Charakter in seinem bedrohlichem Gebaren gegenüber dem geistig zurückgebliebenen Ben, den er zu einer Zeugenaussage gegen Maxim zwingen will.
Christian Fröhlich als Ben fasziniert mit einer geradezu beängstigend authentischen Darbietung. Seine Intonation, die Körperhaltung und vor allem die verzerrte Mimik, die er sogar beim Singen komplett durchhält, sind höchst bemerkenswert.
Neben dem überzeugend agierenden Ensemble tragen auch Chor und Statisterie der Freilichtspiele Tecklenburg zum realistischen Gesamteindruck bei. Es ist schon beeindruckend, wenn sich so viele Mitwirkende in bunten Kostümen auf dem Maskenball tummeln oder ein ganzes Dorf sich am Ufer auf Strandgut- und Sensationssuche begibt.
Dass die akustische Wirkung der optischen in nichts nachsteht, ist dem hervorragenden Orchester zu verdanken, das Tjaard Kirsch sicher durch alle lauten und leisen Töne der Partitur führt. Sanfte Klänge bei den Balladen, orchestrale Opulenz bei den druckvollen Nummern und dazwischen die immer wiederkehrende Tonfolge des Titelsongs – wie schön, dass Sylvester Levays Kompositionen in Tecklenburg in solcher Klangfülle dargeboten werden.
Andreas Gergens Neuinszenierung ist eine kreative Glanzleistung, die alle Mitwirkenden zu einem Gesamtkunstwerk formen. Wenn sich die Dämmerung über die Burg senkt, Schatten zum Leben erwachen und die Atmosphäre geradezu mystisch wird, entfaltet das mitreißende Drama-Musical "Rebecca" eine bislang unerreichte Wirkung, der sich wohl kaum jemand entziehen kann.
Text: Sylke Wohlschiess
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