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Bekannter Stoff, neues Musical:
Rezension "Barricade", Tourproduktion

Victor Hugo gilt als einer der größten französischen Schriftsteller. Im Jahr 1862 erschien sein Roman "Les Misérables" (dt.: "Die Elenden"), der in die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher aufgenommen wurde. Kulturschaffende aus aller Welt haben sich mit dieser Originalvorlage auseinandergesetzt, es gibt Animations- und Spielfilme, Comics, Sprechtheater und – natürlich – das gleichnamige Musical des Kreativteams Schönberg/Boublil. Nun kommt zu den unzähligen Werken, die sich mit "Les Misérables" befassen, ein neues Musical hinzu: "Barricade".

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Seit der Uraufführung im November 2016 an der Kammeroper Köln – einem von Sopranistin und "Barricade"-Komponistin Esther Hilsberg und ihrer Schwester Inga gegründeten privaten Musiktheater – tourt das neue Stück durch die Republik, mit einem erfreulich großen Orchester und schöner Musik, aber leider auch mit einem Libretto, das wohl nicht gerade einen Meilenstein im künstlerischen Schaffen der Texter Holger Potocki und Bianca Hein darstellt.

Ein stimmiges Bühnenwerk erschließt sich dem Zuschauer auch ohne Vorkenntnisse, "Barricade" hingegen sorgt für Verwirrung: Mit plötzlichen Zeitsprüngen und unsauberen bis nicht vorhandenen Szenenübergängen holpert sich das Buch durch den Pariser Juniaufstand des Jahres 1832. Die Autoren rücken statt des lebenslangen Konflikts zwischen Jean Valjean und Inspektor Javert die Liebesbeziehung zwischen Marius und Cosette in den Fokus, tun dies aber so inkonsequent, dass es "Barricade" an einem echten Handlungsstrang fehlt und man sich immer wieder verwundert nach der Motivation der handelnden Personen fragt.

Marius und Cosette wechseln kaum einen Blick, singen aber im nächsten Moment schon von ihrer unsterblichen Liebe. Javert erklärt hinter den Barrikaden zwar singend, dass Valjean ihn doch eigentlich hätte töten müssen, die Frage nach dem Warum beantworten aber weder Buch noch Inszenierung. Emotionale Szenen enden abrupt, dramatische Momente – beispielsweise Fantines und später Eponines Tod – laufen nebenbei, dafür gibt es außer den Thénardiers nun mit Gillenormand einen weiteren humoristischen Kontrapunkt zu den tragischen Ereignissen.

barricade stuttgart 04Gillenormand, im Buch Marius' im Großbürgertum verhafteter Großvater, wird zu seinem heruntergekommenen Onkel, der im ehemals luxuriösen Salon zwischen abblätternden Tapeten und alten Stühlen eine Albernheit an die andere reiht. Tobias Strohmaier macht in dieser Rolle zwar darstellerisch eine gute Figur, der Sinn dieser überzogenen Charakterisierung bleibt jedoch eher unklar. Markus Lürick und Ulrike Jöris bringen als hinterhältige Wirtsleute Thénardier mit "Ich werd' Millionär" Schwung ins Geschehen, können aber nicht davon ablenken, dass sich der eigentlich doch spannende Stoff zäh dahinzieht, obwohl teils von Szene zu Szene geradezu gehetzt wird und kaum einmal Zeit für einen langen Blick oder einen nachhallenden Schlusston bleibt.

Das Buch liefert Regisseur Christian Stadlhofer keine ideale Basis für seine Arbeit, umso wichtiger wären stringente Personenführung und überzeugende visuelle Szenenumsetzung gewesen. Beides gelingt jedoch nur selten. Wenn Pieter Tredoux in der Rolle des Inspektor Javert ein Metallgitter erklimmt und sich dann in selbstmörderischer Absicht in die Arme des Ensembles fallen lässt, wirkt das doch sehr unbeholfen. Auch mit den naturgemäß eingeschränkten technischen Möglichkeiten einer Tourproduktion wäre hier bestimmt auch ein effektvollerer Abgang möglich gewesen.

Tredoux zeigt stimmlich eine zufriedenstellende Leistung, vermag jedoch – vielleicht aufgrund des unzulänglich ausgearbeiteten Rollenprofils - die respekteinflößende Ausstrahlung eines hochrangigen Polizeioffiziers nicht zur Genüge zu vermitteln. Das gilt auch für Michael Thurner als Enjolras. Der charismatische Studentenführer ist auch im bekannten Schönberg/Boublil-Musical und im Roman nur eine Nebenfigur, hier geht er jedoch gänzlich in der Schar der Rebellen unter. Dass der musikalisch durchaus gelungene "Chor der Revolutionäre" etwas kurz geraten ist, lässt zumindest textliche Banalitäten wie "heldenhaft die Barrikaden wollen wir errichten, ja. Bald ist uns’re Stunde da" schnell vergessen. Man glaubt kaum, dass es sich um deutsche Originaltexte handelt, so sehr werden die Worte und Silben auf die Noten gezwungen. Statt eindringlicher Bildsprache gibt es ständige Wortwiederholungen und einfachste Reimereien. So hat es auch die schönste Melodie schwer.

barricade stuttgart 01Dabei ist Esther Hilsbergs Musik vielseitig, gefühlvoll und wirklich hörenswert. Zwar wird es jedes Mal recht laut, wenn Emotionen ins Spiel kommen – hier wäre zumindest ab und zu eine leise-eindringliche Variante schön – aber der musikalische Gesamteindruck ist positiv. Dazu trägt auch die erstaunlich gute Tonqualität in der Stuttgarter Liederhalle bei, für die das Team von Starline Showservice verantwortlich zeichnet. So bringen die Kölner Symphoniker unter Leitung ihrer erfahrenen Dirigentin Inga Hilsberg "Barricade" musikalisch einwandfrei zu Gehör: Die harmonischen Chorsätze, die vom Ensemble auch wunderbar interpretiert werden, den "Gauner-Song" mit seinen szenisch passenden volkstümlichen Klängen und die lautmalerische Umsetzung der Schlacht auf den Barrikaden.

Marius fällt mit "Ich will dich wiedersehen" eine ergreifende Ballade zu, die Marc Lamberty mit sicherer Stimme intoniert. Auch schauspielerisch gelingt Lamberty eine authentische Darstellung sowohl des verliebten Charmeurs als auch des jungen Kämpfers.

Cosette bekommt in "Barricade" eine modernere, emanzipiertere Ausrichtung, was Marilyne Bäjen mit Bravour und klangvollem lyrischen Sopran umsetzt. Sie findet schauspielerisch genau die richtige Balance zwischen Zurückhaltung und dem mutigen Eintreten für ihre persönlichen Wünsche.

Besonders gut gelingt dies im Zusammenspiel mit dem beeindruckend würdevollen Andrea Matthias Pagani als Jean Valjean. Das Vater-Tochter-Gespräch zu Anfang des zweiten Aktes vermittelt die tiefe Bindung zwischen den beiden. Endlich einmal dürfen die Personen wirklich interagieren, was sofort eine viel intensivere Atmosphäre erzeugt. Mit Valjeans anschließendem Solo "Ich wollt' ihr Vater sein" bekommt zudem ein tragendes Lied auch die Zeit, sich in seiner ganzen Wirkung zu entfalten. So kommt auch Paganis warmer Bariton und sein Stimmvolumen bestens zur Geltung.

Mit sehnsüchtigen Blicken und flehentlichen Gesten gibt Kerstin Kaiser sehr glaubhaft die unglücklich in Marius verliebte Eponine. "Ich tu es für sie" und "Ich liebe dich" sind melodische Nummern, die Kaiser mit klangschönem Mezzosopran ausgesprochen einfühlsam intoniert.

Eine interessante Idee ist Fantines Stimme aus dem Jenseits, mit der sie den sterbenden Valjean zu sich ruft. Andrea Matthias Pagani richtet den Blick auf die oberen Ränge, von dort aus singt die klassische Sopranistin Esther Hilsberg lupenreine Koloraturen. Stimmlich ein krasser Kontrast zu den Musicalstimmen der übrigen Cast wird dadurch betont, dass Fantine nicht mehr in der hiesigen Welt existiert. In der besuchten Vorstellung sprang Hilsberg für die erkrankte Isabelle Hutter auch beim Part der noch lebenden Fantine ein, so dass der Effekt etwas verwässert wurde. Dies ist nicht zu vermeiden und ganz sicher zu verschmerzen.

Weniger akzeptabel sind das mangelhafte Libretto, die einfallslose Regie - und vor allem die an manchen Tourstationen missverständliche Werbung. Zwar hat das Kreativteam auf letzteres keinen Einfluss – für die Werbung sind die jeweiligen Veranstalter zuständig – aber wenn Besucher mit falschen Erwartungen einen Theatersaal betreten, trägt das verständlicherweise nicht gerade zur positiven Grundstimmung bei.

Man kann "Barricade" nur wünschen, dass es gründlich überarbeitet wird. Esther Hilsbergs Musik hätte definitiv eine bessere szenische und textliche Umsetzung verdient.

 

Text: Sylke Wohlschiess

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