Bizarre Märchenwelt:
Rezension „Alice" in Karlsruhe
„Kopf ab!". So lautet die ungewöhnliche Begrüßung beim Betreten des Kleinen Saals im Badischen Staatstheater Karlsruhe beim Musical „Alice". Inmitten der Betriebsamkeit von rund 300 Besuchern auf der Suche nach der richtigen Reihe, ertönt wiederholt auch die freundliche Frage „Wie wär's mit einem Ei?". Schließlich nimmt man im Zuschauerraum vier Personen wahr, die ihre Gesichter hinter großen Masken verbergen und offensichtlich diese obskuren Worte von sich geben. Auf der Bühne nehmen derweil vier Altar-Boys in einer Art Schuluniform mit weißen Kniestrümpfen vor einer Spiegelwand verschiedene Positionen ein. Links blinken Leuchtbuchstaben, an der Decke baumelt ein Metallbett. Und schon befindet man sich noch vor dem eigentlichen Beginn inmitten der verwirrenden Welt von Alice, die sich ihren Weg durchs Wunderland bahnt.
Unter dem Pseudonym Lewis Carroll veröffentlichte der Engländer Charles Dodgson im Jahr 1865 „Alice im Wunderland" und 1872 die Fortsetzung „Alice hinter den Spiegeln". In diesen episodenhaften Geschichten, die wie ein Zerrspiegel der Realität erscheinen, gerät die kleine Alice ins Wunderland und begegnet dort teils beängstigenden teils bedauernswerten Fantasiewesen. Ihre Suche nach dem Rückweg gilt gleichsam als Suche nach der eigenen Identität. Im Musical von Tom Waits und Kathleen Brennan (Songtexte/Musik) und Paul Schmidt (Text) kommen mit der Gedankenwelt des Dichters und den Erinnerungen einer inzwischen erwachsenen Alice zwei weitere Erzählebenen hinzu. Die Grenzen sind fließend, die Blickwinkel wechseln. Mal mehr, mal weniger deutlich wird auch auf die mögliche pädophile Komponente in der Beziehung zwischen Dodgson und Alice Liddell angespielt, die ihn zu den Geschichten inspirierte.
Die moderne, anspruchsvolle Inszenierung von Daniel Pfluger zieht das Publikum förmlich hinein, in eine Mischung aus Alptraum und Jahrmarkt, bei der einem schon mal das Lachen im Hals stecken bleiben kann. Kaum ein Zwischenapplaus unterbricht die dichte, teils fast schon beklemmende Atmosphäre, die zugleich eine ganz besondere Faszination ausübt. In schneller Abfolge geht es von einer Szene zur nächsten, die Bewohner des Wunderlandes erscheinen immer skurriler, je tiefer Alice vordringt. Zudem wechselt oft völlig unvermittelt die Erzählperspektive. Dank der gelungenen Regie, die Inhalt und Musik eng mit Bühnenbild, Kostümen und Licht verzahnt, behält der Zuschauer auch in der Flut der Bilder den Überblick.
Flurin Borg Madsen hat ein faszinierendes Bühnenbild geschaffen, das wirkt wie manifestierte Bruchstücke aus vagen Erinnerungen an verwirrende Träume. Alles mutet kühl und seltsam distanziert an: Eine fahrbare Treppe mit offenen Streben, ein Metallbett mit dünnen Eisenstäben, drei unterschiedlich große Türen die täuschend echt Alices Schrumpfen und Wachsen visualisieren. Feste oder schwere Elemente gibt es keine, auf der Bühne bleibt sehr viel freier Raum, der durch einen schmalen Steg entlang der vorderen Zuschauerreihe erweitert wird. Dort finden die Szenen außerhalb der wahnsinnigen Wunderwelt statt. Ähnlich einer verfremdeten Scrabble-Version gleiten die Buchstaben beim Wortspiel „Doublets" vom Bühnenhimmel, und Alice spingt auf dem vorher von ihr selbst ausgelegten Schachbrett mit jedem Buchstabentausch ein Feld weiter. Am Bühnenrand kann eine oben begehbare Trennwand hochgefahren werden, die zur Rückwand der Küche wird, in der die Herzogin und die Köchin sich unter den Augen der Grinsekatze ein schreiendes Baby zuwerfen.
Zusammen mit einer zutiefst entsetzten Alice versinkt die Wand noch während der Szene. Über eine Klappe im Bühnenboden krabbelt die Hauptfigur dann in die Folgeszene, was genauso wirkt wie das Öffnen einer Tür in der falschen räumlichen Perspektive. Dieselbe Trennwand kommt später beim unlösbaren Rätsel „Jabberwocky" wieder zum Einsatz und dient als Laufsteg für das Ei Humpty Dumpty und als Projektionsfläche für Schattenspiele. Einzelne Elemente werden von den Darstellern in die nächste Szene mitgenommen und erfahren dort eine völlig neue Verwendung. Dort, wo eben noch ein weißer Mond strahlte, scheint plötzlich das grüne Grinsen der Katze in der Luft zu hängen. Die grandiose Lichtführung (Christoph Pöschko) zaubert unerwartete Effekte und starke Kontraste.
Die fantasievollen Kostüme von Janine Werthmann fügen sich nahtlos ein, nichts zu Schrilles oder Grelles unterbricht das Unwirklich-Traumhafte der Inszenierung. Größtenteils gedeckte Farben, Metallteile in Verbindung mit edlen Stoffen unterstreichen die facettenreichen Charaktere. Die vielen Details erschließen sich erst bei genauerem Hinsehen. Mut zur Hässlichkeit braucht Hannes Fischer als Ei im hautfarbenen Kapuzenbody. Bunt wird es bei der riesigen Raupe, für die fünf Personen in giftgrüne Fettanzüge schlüpfen und beim aufwändigen Kleid der Schachkönigin, das in grellorange leuchtet und in ein Holzgestell mit Guillotine übergeht.
Für die Verwandlung von Dodgson in das weiße Kaninchen reicht dagegen eine einfache Fellmütze mit langen Ohren. Mehr braucht Robert Besta nicht für seine grandiosen Wechsel vom tierischen Begleiter durch die Märchenwelt zum kopfschmerzgequälten Schriftsteller, der ganz offensichtlich seine Zuneigung zu Alice selbst nicht zweifelsfrei definieren kann. In der dritten Komponente der Rolle wird die erfundene Geschichte mit deutlichen Anspielungen auf die unklare reale Beziehung zwischen Charles Dodgson und Alice Liddell verwoben. Beim Duell mit dem stotternden schwarzen Ritter - auch Dodgson litt zeitweise unter diesem Sprachfehler - wird Besta als weißer Ritter zwar geschlagen, rettet aber letztlich Alice, indem er zugibt, die kompromittierenden Briefe verfasst zu haben, wegen denen eigentlich Alice angeklagt ist. Verzweifelte Gesten und verrücktes Augenrollen: Robert Besta zieht alle schauspielerischen Register, vermeidet aber jegliche Übertreibung. Sein eindringliches Spiel bleibt in jeder Phase glaubhaft. Dazu kommt eine außergewöhnliche Stimmfarbe, die sofort aufhorchen lässt: Sein Bariton klingt rauh, fast heiser, aber zugleich verführerisch. Er intoniert sehr berührend „Alice" und im Duett mit Ursula Grossenbacher „Fish and Bird".
Auch die Titelrolle ist mit Ursula Grossenbacher perfekt besetzt. Alle Varianten kindlichen Verhaltens zeigt sie in den Wunderland-Szenen: verlegenes Fingerkneten, ungeduldiges Herumzappeln, unschuldig vorgebrachte Fragen. Ganz schön zornig wird das kleine Mädchen, als die Blumen wiederholt nach ihrem Namen fragen, an den sie sich einfach nicht mehr erinnert: „Wenn ihr nicht den Mund haltet, pflücke ich Euch". Als Erwachsene erinnert sie sich rückblickend an Charles Dodgsons Worte: „Du bist ein kleines Mädchen, sagte er, du musst lernen stillzuhalten". Worum es genau geht, bleibt offen, es gibt keine Auflösung des ambivalenten Textes – und im Theater herrscht atemlose Stille. Auf beiden dargestellten Zeitebenen trägt Ursula Grossenbacher stets ein blaues Hängekleid und flache Schuhe, was die kindhafte Seite der Rolle optisch unterstützt. Dagegen kontrastieren ihr ausdrucksstarkes Gesicht und ihre tiefe, einprägsame Stimme, die im Schlusslied „I'm still here" beide Seiten von Alice' Wesen vereint.
Alle Ensemblemitglieder übernehmen mit sichtbarer Spielfreude immer wieder unterschiedliche Rollen. So gibt Jan Andreesen den durchgeknallten Märzhasen und die nicht minder verrückte Köchin, Gunnar Schmidt strickt als depressives Schaf Strümpfe aus seiner eigene Wolle und Eva Derleder würde als bösartige Schachkönigin am liebsten alle Angeklagten sofort köpfen lassen. Das wohl schönste Lied singt Hannes Fischer. Mit „No one puts Flowers on the Grave" berührt er in der Rolle der sprechenden Rose mit klarem, sanftem Tenor.
Gesungen wird auf englisch. Wunderbare Balladen mit traurigen Texten wechseln sich ab mit schräg-unmelodiösen Kompositionen. Das Ungewöhnlichste aber ist die Art und Weise, wie die sechs Musiker Teil der Handlung werden und dabei schon mal ein heruntergeworfenes Bündel auffangen müssen. Sie sitzen gut sichtbar zwischen Bühne und Laufsteg, nicht etwa im üblichen Schwarz, sondern in einem strampelanzug-ähnlichen Outfit, mit weiß geschminkten Gesichtern und aufgemalten Brillen. Unter Musikalischer Leitung von Clemens Rynkowski bedienen sie insgesamt 22 Instrumente, darunter auch Exoten wie Sousaphon, eine Form der Tuba, und Theremin, das einzige Instrument, das man ohne direkte Berührung spielt.
Neben der Musik werden auch alle Geräusche live erzeugt. Gewitter und Vogelzwitschern sind bekannt, aber wer wissen will, wie es sich anhört, wenn Alice schrumpft oder wächst, der sollte sich auf den Weg nach Karlsruhe machen. In ein Theater-Wunderland, das die literarische Vorlage so brillant visualisiert, dass man vor dieser Meisterleistung der Kreativen und Darsteller nur den Hut ziehen kann. Doch vorher sollte man nachsehen, ob sich darin vielleicht noch ein weißes Kaninchen versteckt.
Text: Sylke Wohlschiess
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