Magie der bunten Bilder:
Rezension Musical „Anastasia“ in Stuttgart
18.11.2018 - Ein politischer Mord, eine geheimnisvolle Spieluhr und eine junge Frau auf der Suche nach ihrer wahren Identität: Das Musical „Anastasia“ ist angelehnt an den Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1997 und thematisiert den Mythos um die jüngste Tochter des letzten russischen Kaisers. Nach der Broadway-Premiere im Jahr 2017 hat das Musical von Stephen Flaherty (Musik), Terrence McNally (Buch) und Lynn Ahrens (Liedtexte) in Deutscher Erstaufführung nun im Stuttgarter Palladium Theater Einzug gehalten. Die Inszenierung punktet vor allem mit sehr gut gewählter Besetzung und prächtiger Ausstattung in Verbindung mit modernster LED-Technik.
Projektionen, wie man sie realistischer wohl noch nie in einem Musicaltheater zu sehen bekommen hat, entfalten eine atemberaubende, fast magische Wirkung. Die optische Täuschung ist derart überzeugend, dass man sich fragt, wieso Anja nicht einfach geradeaus über die Seinebrücke spaziert. Bühnendesigner Alexander Dodge und Projektionsdesigner Aaron Rhyne haben ganze Arbeit geleistet. Ob wirbelnde Schneeflocken oder blühende Kirschbäume, Aktenschränke bis zur Decke im Büro der russischen Regierung oder geisterhafte Silhouetten, die durch Anjas Träume tanzen: Die gestochen scharfen LED-Bilder verschmelzen zu einer untrennbaren Einheit mit dem echten Bühnenaufbau.
Dieser besteht aus einer dreiteiligen Wandfront. Die äußeren Teile sind drehbar und bringen Opernlogen oder Fensterfronten nach vorne. Passend dazu fahren im mittleren Bereich Theatervorhänge oder Terrassentüren auf und ab. Bei der Ballettaufführung von „Schwanensee“ und dem Ball im Zarenpalast ist auch die Choreographie (Denise Holland Bethke) ebenso wichtiger Bestandteil des Gesamtkonzepts, wie das Kostümbild, das Reto Tuchschmid für Stuttgart verantwortet.
Die Klassenunterschiede und die Diskrepanz zwischen dem Leben in Paris und in St. Petersburg werden durch die Kostüme zusätzlich verdeutlicht. In Braun, Beige und Schwarz sind sowohl die strengen Militäruniformen, als auch die ärmliche Kleidung der russischen Bevölkerung gehalten. Demgegenüber entfaltet sich im swingenden Paris der 1920er Jahre ein wahrer Rausch an Farben, Stoffen und Mustern. Mit prunkvollem Schmuck und reich bestickten Roben wartet die Zarenfamilie auf.
Auch das Lichtdesign von Don Holder ist exakt auf die Stimmung angepasst: Düster und dunkel wird es in den verwinkelten Gassen von St. Petersburg, wenn Schwarzmarkthändler ihre Waren anpreisen. Neblig-blau verwischen Anjas Erinnerungen und strahlend hell glitzern die Lichter im Winterpalais und in der Pariser Oper.
Stephen Flaherty entleiht Tschaikowskis „Schwanensee“-Klänge und fügt sie nahtlos in die Partitur ein, deren Songs er teils schon für den Zeichentrickfilm, teils neu für das Musical „Anastasia“ komponiert hat. Die Musik spannt ebenso wie die Handlung den Bogen von St. Petersburg nach Paris und verwebt wunderschöne Musicalballaden mit wehmütigen russischen Klängen und fröhlichem Charleston. Der Musikalische Leiter Boris Ritter führt das zugleich präzise und emotional aufspielende Orchester mit spürbarer Begeisterung sicher durch die musikalische Vielfalt.
Die Geschichte, die von Ruth Deny (Dialoge) und Wolfgang Adenberg (Songs) gefällig ins Deutsche transferiert wurde, bleibt trotz der raschen Schauplatzwechsel immer gut strukturiert.
Beeindruckende Theatermomente entstehen bei „Anastasia“, weil Inhalt, Regie und Technik perfekt ineinander greifen. Sei es, wenn Anja die Spieluhr öffnet und sich deren Figuren zeitgleich mit dem Ensemble zu „Im Dezember vor Jahren“ drehen, oder sei es, wenn man fast versucht ist, sich am Sitz festzuhalten, weil es in Sekundenschnelle mit dem Aufzug auf die Aussichtsplattform des Eiffelturms geht. Der Blackout, wenn Anastasia beim Angriff der Bolschewiki auf den Zarenpalast plötzlich wie im Nichts verschwindet, macht die Legendenbildung um ihr eventuelles Überleben auch im Musical plausibel.
Zwangsläufig bleibt bei der „Reise durch die Zeit“ die historische Wahrheit ein wenig auf der Strecke, denn inzwischen ist wissenschaftlich bewiesen, dass auch Anastasia mit dem Rest der Familie Romanow erschossen wurde. Aber Regisseurin Carline Brouwer spielt gekonnt mit dem Mythos und lässt bis zum Schluss für die Protagonistin (und das Publikum) einen Rest Zweifel übrig.
Sopranistin Judith Caspari gibt eine bezaubernde Anja. Ihre Gesangsparts meistert sie mit heller, schöner Stimme, die auch in den hohen Lagen nie die Leichtigkeit verliert. Caspari gefällt zudem mit ausgesprochen natürlichem Spiel und vermittelt so jederzeit glaubhaft sowohl die verletzliche, als auch die energische Seite ihres Bühnencharakters. Je mehr sie sich mit der Möglichkeit befasst, dass sie tatsächlich Anastasia sein könnte, desto mehr wird Anja klar, was ihr im Leben wirklich wichtig ist.
Eine ähnliche Entwicklung durchläuft auch Milan van Waardenburg in der Rolle des Dimitri. Anfangs geht es ihm nur darum, sich mittels einer möglichst gut auf Anastasia getrimmten jungen Frau die von der im Pariser Exil lebenden Zarenmutter ausgesetzte Belohnung zu ergaunern. Doch je mehr er mit Anja Zeit verbringt, desto mehr fühlt er sich zu ihr hingezogen. Aus Berechnung wird Kameradschaft und schließlich Verliebtheit, was Milan van Waardenburg mit fein dosierter Mimik und Gestik hervorragend herausarbeitet. Mal stürmisch, mal sanft und mit kraftvollen, lang gehaltenen Schlusstönen begeistert der junge Tenor auch stimmlich.
Dass auch Wlad, der zweite Teil des Gauner-Duos, das Herz am rechten Fleck hat, weiß Thorsten Tinney mit trockenem Humor und viel Charme aufzuzeigen. Diesem erlag wohl vor Jahren am russischen Zarenhof auch Gräfin Lily, die Vertraute der Zarenmutter. Bei einem Tänzchen erinnert Wlad die resolute Russin, die Jacqueline Braun absolut grandios verkörpert, ganz unverblümt an die gemeinsame Vergangenheit. Somit ist klar, wieso es dem Trio aus St. Petersburg überhaupt gelingt, zur Zarenmutter vorgelassen zu werden, obwohl diese die Suche aufgegeben hat und sich selbst inzwischen jegliche Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Enkelin verbietet.
Daniela Ziegler spielt und singt die Zarenmutter in vollendeter Perfektion. Sie zeichnet ein klares Bild einer würdevollen Adelsdame, die sich bei aller Selbstdisziplin und Strenge ihre gefühlvolle Seite bewahrt hat, auch wenn sie diese – wie es sich für ein altes Adelsgeschlecht ziemt – nur in seltenen Momenten nach außen trägt. Einer dieser Momente, die Begegnung zwischen Großmutter und Enkelin, ist dann auch der emotionale Höhepunkt des Musicals „Anastasia“. Als Anja die Spieldose problemlos öffnet, ist für beide klar, dass Anja tatsächlich die totgeglaubte Anastasia ist.
Damit das Musical nun nicht in der rosaroten Kitschwolke versinkt, gibt es einen Gegenspieler. Im Zeichentrickfilm fällt der Part Rasputin zu, im Musical übernimmt Gleb diese Funktion. Gleb ist ein zwar kritischer, aber dennoch loyaler General der Bolschewiki. Im Auftrag der Regierung soll er herausfinden, ob Anja womöglich doch die jüngste Zarentochter ist. Falls ja, ist sein Auftrag eindeutig: Keine Angehörige der früheren Herrscherfamilie darf in der neuen Sowjetunion am Leben bleiben. Diese wohl interessanteste Figur im Musical „Anastasia“ wird in allen Facetten von Mathias Edenborn eindrucksvoll charakterisiert. Glebs Zerrissenheit zwischen Pflichtbewusstsein und Zweifel, zwischen Systemtreue und Anjas Anziehungskraft, drückt Edenborn in einem lebendigen Kontrast zwischen ausdrucksstarker Mimik und militärisch kerzengerader Körperhaltung aus, von der er auch in Glebs einsamen Momenten kaum abweicht. Gesanglich kommt sein Konflikt im Solo „Still“ besonders intensiv zur Geltung. Auch das Quartett zwischen Gleb, Dimitri, Anja und der Zarenmutter beim Besuch der Pariser Oper ist ein musikalischer Glanzpunkt.
Im Musical „Anastasia“ trifft darstellerisches Können auf kreativ eingesetzte Technik. Die vielen Projektionen, eine realistischer als die andere, kann man auf Anhieb gar nicht alle gebührend würdigen, so überwältigend ist die bunte Bilderflut. Da könnte man ja fast noch einen zweiten Besuch einplanen – auch dieser wird sich sicher lohnen.
Text: Sylke Wohlschiess
Diese Inhalte auf MusicalSpot.de könnten Sie auch interessieren:
Einblicke: Bühne- und Kostümführung beim Musical „Anastasia“, Stuttgart, November 2018