Da war einst ein Traum:
Rezension “Jekyll & Hyde” in Frankfurt
Emma Carew, Tochter aus gutem Hause, träumt von einem glücklichen Leben an der Seite ihres Verlobten. Lucy Harris, Prostituierte in der „Roten Ratte“, träumt von einem Leben jenseits des Rotlichtmilieus, womöglich sogar mit dem feinen Gentlemen, der an seinem Junggesellenabend fasziniert ihren Soloauftritt verfolgt. Und der solchermaßen begehrte Dr. Henry Jekyll? Angesichts seiner Träume möchte man ihm am liebsten eine Warnung zurufen: „Be careful what you wish because it might come true.“
Die beiden Damen haben Frank Wildhorn (Musik) und Leslie Bricusse (Libretto) für ihr Musical „Jekyll & Hyde“ den Charakteren von Robert Louis Stevensons Erzählung „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ hinzugefügt, die Thematik aber folgt der literarischen Vorlage: Die Krankheit seines Vaters weckt im ehrgeizigen jungen Arzt Dr. Henry Jekyll den Wunsch, das Gute und das Böse im Menschen zu trennen, um psychisches Leid zu lindern. Immer mehr wird die Idee zur Besessenheit. Schließlich will er ein von ihm entwickeltes Elixier an einem Patienten testen. Als dieses Ansinnen von der Klinikkommission entsetzt abgewiesen wird, wagt Dr. Jekyll den Selbstversuch – mit verheerenden Folgen.
Die Geschichte spielt gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Freuds Psychoanalyse steckte noch in den Kinderschuhen. Auf dieser Zeitschiene betrachtet, entwickelt die Idee der Abspaltung des Bösen eine ganz eigene Faszination. Die bedrohliche und zugleich fesselnde Stimmung hätte sich im English Theatre Frankfurt ohne das ständige Ab und Ab und Hin und Her aller Ensemblemitglieder sicher noch besser entfalten können. Dass von der zweiten Ebene Wissenschaftler in weißen Kitteln neugierig hinunter in Jekylls Labor spähen, ist noch nachvollziehbar. Aber es irritiert doch gewaltig, wenn permanent an der Szene völlig unbeteiligte Personen im Halbdunkel auf der kleinen Bühne herumstehen und -gehen, zumal diese sowieso bis zum Limit bebaut ist.
Im hinteren Teil eines fast bühnenbreiten, niedrigen Podestes fügen sich Regale im Halbrund zu Jekylls Labor. Schummrig beleuchtet von einer vierteiligen Kugellampe und vollgestellt mit Glaszylindern, Tiegeln und anderen Laborgerätschaften, wirkt dies wie der Blick in eine frühzeitliche Alchemistenküche. Verdeckt ein heller Vorhang die Regale und ersetzt ein von oben herabgelassener Lüster die Laborlampe, wechselt man in den Salon der Carews. Rote Vorhänge dagegen symbolisieren den Nachtclub „Red Rat“. Auf jedem freien Quadratzentimeter hat Set Designer Neil Irish Requisiten platziert, rechts und links führen enge Treppen auf eine zweite Ebene, auf der auch das Orchester sitzt.
Dort spielt unter Musikalischer Leitung von Keyboarder Ed Hewlett eine sechsköpfige Band die neuen Arrangements, bei denen Musical Supervisor Tom Attwood die orchestrale Wucht der Kompositionen in deutlich härtere Klänge wandelt und u.a. bei „This Is The Moment“ mit Chorpassagen ergänzt. Stephan Weber bringt den satten Rocksound in jeden Winkel des kleinen Theatersaals – vor allem bei den Uptempo-Nummern entsteht so fast Konzertatmosphäre. Einzelne staccatoartige Klavier- bzw. Gitarrenklänge setzen lautmalerische Akzente und intensivieren besonders vor Hydes Morden die in der Luft liegende Ahnung drohender Gefahr.
Zu den Musikern gesellen sich immer wieder drei Schauspieler des Ensembles: Stride-Darsteller Will Arundell greift zum Cello, Ed Parry, der mehrere Ensemblerollen spielt, zur Flöte und Jessica „Nellie“ Singer spielt Klarinette. Die Übergänge vom Ensemble- zum Orchestermitglied gestalten sich erstaunlich fließend. Hier hat das Kreativteam eine ungewöhnliche Idee perfekt umgesetzt.
Eher albern dagegen wirkt es im Kontext dieses Musicals, bei „Bring On The Man“ die tanzenden Damen mit ebenfalls tanzenden Herren in Frauenkostümen zu ergänzen. Auch das Gimmick beim Mord an Lord Savage entlockt allenfalls müdes Lächeln, nicht etwa wohliges Gruseln. Vollkommen unverständlich bleibt auch, warum die von Hyde eben noch genüsslich um die Ecke gebrachten Personen nur Sekunden später bei „Murder, Murder“ fröhlich weitertanzen. Auch mit einem kleinen Ensemble hätte man dies inszenatorisch besser lösen müssen, denn das Erstaunen über diese plötzlichen „Auferstehungen“ reißt auch Jekyll-erfahrene Besucher unnötig aus der Stimmung.
Im English Theatre agieren nur zwölf Darsteller, die teils mehrere Rollen übernehmen. So darf Matt Bond als Lord Savage und als Zuhälter Spider rollengerecht falsch, feige und fies agieren, was ihm mit sichtlicher Spielfreude ebenso gut gelingt, wie Will Arundell in seinen beiden Parts: den von sich selbst überzeugten Sekretär Simon Stride, der so gar nicht fassen kann, dass Emma statt seiner den doch wirklich total übergeschnappten Henry Jekyll erwählt und Richter Sir Archibald Proops, der trotz seines hohen Amtes genau wie die übrigen Mitglieder der Klinikkommission nicht davor zurückschreckt, mit Spott und Häme über andere herzuziehen.
Natasha Millar gibt mit arroganter Miene die oberflächliche Society-Lady Beaconsfield, Hugh Osborne mit militärisch-steifer Haltung den kriegsversehrten General Lord Glossop und Mario Frendo mit salbungsvollem Gehabe den bigotten Bischof von Basingstoke. Interessanterweise hinterfragt dieser als einziger Dr. Jekylls Idee. Angenommen, die Trennung von Gut und Böse gelänge: „What happens to the evil?“
Was mit dem Bösen passiert, zeigt John Addison in der Doppelrolle als Dr. Henry Jekyll/Mr. Edward Hyde mit großartiger Stimme und grandiosem Spiel. Getreu dem Spielzeitmotto „The Monster Within Us“ lässt Regisseur Tom Littler seinen Titelhelden nicht als fiktives Ungetüm mit verfilzter Mähne in tierischer Manier über die Bühne torkeln, sondern offenbart einen Blick in die Tiefen der menschlichen Psyche.
Mit einer Charakterstudie par excellence zeigt John Addison, dass Edward Hyde und Dr. Jekyll keine eigenständigen Personen, sondern vielmehr die gegensätzlichen Seiten einer Seele sind. Wenn Jekyll in verzweifelter Wut an seiner Krawatte zerrt oder mit kaum unterdrücktem Verlangen die schöne Lucy fixiert, lässt dies die Hyde‘sche Komponente seines Wesens schon erahnen. Addison spielt einen beinahe gehemmt wirkenden Dr. Jekyll, der aber kaum seine Beherrschung wahren kann, wenn man sich seinem Forscherdrang in den Weg stellt. Umgekehrt blitzt bei Edward Hyde stellenweise das Entsetzen über seine Taten auf.
Anfangs halten sich beide Seiten gegenseitig im Gleichgewicht. Je weiter das Experiment fortschreitet, desto mehr kippt die Balance. Mit vielen Details arbeitet John Addison dies präzise heraus: Sein Blick als Hyde wird geradezu eisig, was seinen Gesichtsausdruck völlig verändert. Seine gesamte Körperhaltung spricht von Gefahr und Aggressivität. Als Hyde lebt Jekyll hemmungslos seine dunklen Fantasien aus und reißt außerdem den ach so anständigen Honoratioren gnadenlos die Masken vom Gesicht. Im Vorübergehen schnappt er sich Stock, Zylinder und Mantel, um diese fortan als Tarnung zu nutzen, hinter der er sich ungehindert den Personen nähern kann, die auf seiner Abschlussliste stehen. Die Eskalation der Ereignisse geht einher mit der fortschreitenden Spaltung seiner Seele. Ermordet Hyde zunächst nur diejenigen, hinter deren nobler Fassade sich Abgründe an Widerwärtigkeit auftun, tötet er am Schluss nicht nur auch Lucy, sondern bedroht sogar seinen besten Freund Gabriel John Utterson.
Leon Kay bekommt in dieser Rolle nicht viel Spielraum, schafft es aber dennoch, die Verbundenheit der Freunde spürbar zu machen. Als der schon am Rande des Wahnsinns stehende Dr. Jekyll ihn anfleht, die dringend benötigten Chemikalien zu besorgen, hätte Uttersons innerer Widerstand deutlicher werden dürfen. So geht diese Schlüsselszene etwas unter. Stimmlich lässt Kay bei „His Work And Nothing More“ ebenso aufhorchen wie Jeremy Rose als Sir Danvers Carew, dem man den distinguierten Gentlemen und liebenden Vater vom ersten Moment an hundertprozentig abnimmt. Beide Stimmen verbinden sich mit John Addisons Tenor und Samantha Dorseys Sopran zu kraftvoller, vierstimmiger Harmonie.
Leider wenig differenziert ist in Littlers Personenführung die Beziehung zwischen Jekyll und seiner Verlobten. Natürlich bleibt eine höhere Tochter im Viktorianischen Zeitalter stets vornehm-zurückhaltend, was Samantha Dorsey als Emma Carew hervorragend umsetzt, aber die Begegnungen zwischen Jekyll und ihr bleiben trotz des wunderbar gesungenen Duetts „Take Me As I Am“ sehr distanziert. Im Solo „Once Upon A Dream“ entwickelt sich deutlich mehr Gefühl, hier gefällt Dorseys klassischer Sopran mit hell und klar perlenden Tönen besonders gut.
Die zweite Dame im Umfeld des Doktors ist die Prostituierte Lucy Harris. Clodagh Long interpretiert unter Tom Littlers Regie Lucy nicht als verruchte Rotlichtlady, sondern als verzweifelte Frau, die keine andere Möglichkeit sieht, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, obwohl ihr dies sichtlich zuwider ist. Statt frech und herausfordernd zu provozieren, setzt sie denn auch mehr auf lasziven Kleinmädchencharme. Instinktiv sieht sie in Dr. Jekyll eine Chance, diesem Leben zu entfliehen. Sie projiziert ihre ganze Hoffnung auf ihn, was Clodagh Long mit einer berührenden Darbietung von „Someone Like You“ auch stimmlich ausgezeichnet vermittelt. Diese Sehnsucht nach einem besseren Leben macht sie zum idealen Opfer für Edward Hyde, der sich ihr unter dem Deckmantel eines Gentlemen nähert, bis er letztlich auf grausame Art und Weise sein wahres Gesicht offenbart.
Das von Samantha Dorsey und Clodagh Long mit Hingabe gesungene Duett „In His Eyes“ vereint Emma und Lucy in ihren Gefühlen für Dr. Jekyll, der - ein prima Einfall - in dieser Szene von inneren Qualen gemartert am Boden vor dem Spiegel sitzt, in dem er sich zu Beginn seines Experiments mit „This Is The Moment“ noch voller Optimismus und wohl auch mit einem gewissen Grad an Selbstüberschätzung zugeprostet hat.
John Addison singt diese ergreifende Ballade mit enormer Eindringlichkeit und strahlender, ebenmäßiger Stimme. Dass er auch wild und aggressiv klingen kann, beweist er im direkt anschließenden „Alive“. Die Hyde-Parts sind generell tiefer angelegt als die Jekyll-Parts, was Addison die Möglichkeit gibt, seinen Stimmumfang zu demonstrieren. Er verfremdet aber keineswegs künstlich seinen Stimmklang, um „monstermäßig“ zu klingen, sondern schafft mit der Art der Interpretation die Unterschiede zwischen Jekyll und Hyde. In der „Confrontation“ wird dies mit wechselnden Lichtstimmungen und mal ordentlich gescheitelten, mal mit einem Handgriff wild zerwühlten Haaren unterstützt. Mehr braucht es auch gar nicht.
Die Titelrolle ist insbesondere bei einem psychologisch geprägten Regieansatz nicht nur ein stimmlicher, sondern auch ein schauspielerischer Kraftakt. John Addison meistert die Herausforderung in beeindruckender Weise und steht an der Spitze eines mit durchweg brillantem Schauspiel glänzenden Ensembles. In Verbindung mit den druckvollen neuen Arrangements und der fantastischen Band entsteht ein noch lange nachhallendes Gesamterlebnis, bei dem man über einige inszenatorische Holprigkeiten gut und gerne hinwegsehen kann.
Text: Sylke Wohlschiess
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