Back to the 80s:
Rezension Musical „Rock Of Ages“ in Ulm
12.06.2018 - Gitarrenriffs wummern durch Nebelschwaden, langmähnige Alt- und Jungrocker geben alles. Groupies fallen von einer Ohnmacht in die nächste und das Bier fließt in Strömen. „I Wanna Rock“ röhrt der charismatische Sänger – und katapultiert das Publikum im ausverkauften Theater Ulm binnen Sekunden direkt in die 1980er-Jahre. Der Herbert-von-Karajan-Platz in Ulm wird zum Sunset Strip und das Jukebox-Musical „Rock Of Ages“ erlebt unter Regisseur Arthur Castro eine rasante Deutschsprachige Erstaufführung.
Die Story ist schnell erzählt: Sherrie, ein naives Kleinstadtmädchen, hofft auf die große Schauspielkarriere in Los Angeles. Kaum dort angekommen trifft sie Drew, der im Bourbon Room von Dennis Dupree jobbt, aber - wie könnte es anders sein - ebenfalls von einem Leben im Rampenlicht träumt. Dem legendären und chronisch kurz vor der Pleite stehenden Rockschuppen droht das Aus, weil rücksichtslose Immobilienhaie den Strip zu einer cleanen Einkaufsmeile umstrukturieren wollen. Ein Konzert des Megastars Stacee Jaxx soll das nötige Kleingeld zum Bezahlen der Steuern und somit zum Erhalt des Clubs in die Kasse spülen.
Zugegeben, besonders tiefgründig ist die Handlung nicht. Aber das macht nichts. Denn „Rock Of Ages“ ist vor allem eins: Ein nostalgisch-selbstironischer Blick zurück ins Lieblingsjahrzehnt der Deutschen, verbunden mit einer Verbeugung vor einigen der größten Rockbands und Rocksongs der 80er.
Chris D’Arienzo, von dem das Buch zu „Rock Of Ages“ stammt, legt den Charakteren genau die passenden Songtexte in den Mund. Unterm Sternenhimmel der Hollywood Hills singen Sherrie und Drew Foreigners „Waiting For A Girl Like You“. Stacee Jaxx fühlt sich angesichts der Fanhorden „Wanted – Dead Or Alive“. Und als sich weder die Karrieren noch die Beziehungen wie erhofft entwickeln, heißt es für alle zunächst „Harden My Heart“, bevor es mit „Here I Go Again“ in neue Richtungen geht.
Manchmal passen auch nur die Worte, der Sinn wird aber verdreht. „I Wanna Know What Love Is“ erklingt zu einer billigen Nummer, die Stacee Jaxx und Sherrie auf dem Männerklo schieben und die eher wenig mit Liebe zu tun hat. Dadurch entsteht ein ganz eigener Humor, der den Blick zurück in die Achtziger von zu viel Sentimentalität befreit. Die Songs behalten dankenswerterweise ihre englische Originalsprache. Die gesprochenen Texte wurden von Holger Hauer ausgesprochen gelungen übersetzt. Gespickt mit derben Ausdrücken und englischen Brocken trifft er ziemlich genau den Ton der Zeit.
Fantastisch sind die Arrangements, die Ethan Popp nicht von ungefähr eine Tony-Award-Nominierung eingebracht haben und die immer wieder aus zwei oder drei Songs flugs eine Einheit kreieren. „I Hate Myself For Loving You“ wütet Sherrie, als sie im Venus-Club für Stacee tanzen muss, der wiederum redet sich sein mieses Verhalten mit „Heat of the Moment“ von Asia schön. Zu guter Letzt platzt Drew herein, der aus tiefster Seele ebenfalls feststellt, dass er sich dafür hasst, Sherrie zu lieben. Pre-Reprisen und Reprisen ergänzen immer wieder die Partitur und sorgen so für den roten Faden, der die rund 30 Rockkracher zusammenhält.
In Ulm werden unter Musikalischer Leitung von Keyboarderin Ariane Müller die Songs rockig-rotzig zelebriert. Ein wenig härter und lauter hätte es vielleicht noch sein dürfen, aber auch so schaffen die hervorragenden Musiker Matthias Freund (Rhythmusgitarre), Norbert Jud (Schlagzeug), Steffen Knauss (Bass) und allen voran die von niemand geringerem als Steve Vai entdeckte Ulmer Gitarristin Yasi Hofer echtes Konzertfeeling.
Die Musiker sind auf der Bühne des Bourbon Room platziert, sie spielen mit Stacee Jaxx als dessen Band Arsenal und mit Newcomer Drew alias Wolfgang von Colt. Das von Britta Lammers konzipierte Bühnenbild schafft ein dermaßen realistisches Umfeld, dass man fast versucht ist, sich an die Bar zu setzen und ein paar Drinks zu ordern. An den Wänden Gitarren und Konzertplakate in mehr oder weniger gutem Zustand, Leuchtbuchstaben und LEDs blinken, ein paar einfache Tische und Stühle und eine Klotür, hinter der Rockstar und Groupie ganz gerne mal verschwinden. Typisch abgefuckter Rockschuppen eben. Wo eine Szene optische Erklärung braucht, flimmern passende Bilder auf einem LED-Monitor, der über der Band hängt. Ein schmales, bühnenbreites Hebepodest mit zwei Ebenen verdeckt beim Hochfahren Band und Bourbon Room. Dann blickt man in eine Stripbar mit kleinem Tresen, Poledance-Stangen (beeindruckend: die Körperbeherrschung der Tänzerinnen) und einem plüschig-rot bezogenen Bett.
Auf der Bühne wirbeln die Mitglieder der Ballettcompagnie des Theaters Ulm schwungvoll umeinander. Mit Leichtigkeit und Ausdrucksstärke tanzen sie typische Musical-Schrittfolgen, die Choreograph Damien Nazabal mit Luftgitarrenspiel und Headbanging kombiniert. Schrill und bunt geht es dabei zu: Lederjacken und Jeanswesten, natürlich mit Patches von Kiss bis Def Leppard. Aber auch neonpink und giftgrün, Netzhemden und getigerte Leggins, Billigsatin und Stulpen. In Kombination sieht das so grottig aus, dass es schon wieder stylisch ist. Britta Lammers bringt die Modesünden der Achtzigerjahre zurück, zur Freude aller, die womöglich selbst einst so auf die Straße gingen. Und dass das eine oder andere Ensemblemitglied verdächtig nach Nena, Limahl oder Sandra aussieht, ist sicher auch kein Zufall.
Damit man bei so perfektem Flashback das Hier und Jetzt nicht völlig vergisst, erinnert Henrik Wager in der Rolle des Lonny Barnett Cast und Zuschauer auch mal programmheftschwenkend daran, dass man immer noch in einer Musicalaufführung sitzt. Barnett ist nicht nur die rechte Hand des Clubbesitzers, sondern durchbricht immer wieder die „vierte Wand“ und wendet sich mit erklärenden Worten und ironischen Kommentaren ans Publikum.
Die Lacher hat er schon anfangs auf seiner Seite, als er einer sichtlich verdatterten jungen Dame in Reihe 1 mit süffisantem Blick einen Aperol-Spritz und Backstage-Pass anbietet. Henrik Wager punktet aber nicht nur mit exzellent gesetzten Pointen und Gesten, sondern auch mit starker Rockstimme. Emotional wird es im Duett „Can’t Fight This Feeling“, in dem Lonny Dennis seine Liebe gesteht, obwohl das Coming-Out der beiden sehr parodistisch dargestellt wird. Für eine ernste Auseinandersetzung mit dem Thema ist „Rock Of Ages“ wohl auch nicht der richtige Kontext.
Andreas von Studnitz, Dupree-Darsteller und Intendant am Theater Ulm, nimmt mit „Rock Of Ages“ nach 12 Jahren seinen Abschied vom Haus. Als Alice-Cooper-Verschnitt schwirrt er durch seinen Club, als Rockengel auf der Abrissbirne schwebt er im Finale über den Dingen. Der begnadetste Sänger unter der Sonne ist Herr von Studnitz wohl eher nicht, aber das macht nichts.
Für gesangliche Glanzleistungen sind andere zuständig, allen voran Sascha Lien als Drew Boley. Hundertprozentig authentisch, wie direkt aus den 80s auf die Ulmer Bühne gefallen wirkt er, wenn er in bester Rockstar-Manier das Publikum anheizt. Sascha Lien kann sich in puncto Stimmgewalt, Bühnenpräsenz und Ausstrahlung zweifellos mit den großen Rocksängern dieser Ära messen. Sein Rocktenor ist wandelbar und zugleich von hohem Wiedererkennungswert: Falsett, volle Dröhnung oder balladensanft, Sascha Lien beherrscht die ganze Palette. Er singt dicht am Original und gibt doch jedem Song eine eigene Note. Zudem überzeugt er auch schauspielerisch: Den verlegen stammelnden Frischverliebten nimmt man ihm ebenso ab, wie den coolen Rocker.
Drews Zuneigung gilt Sherrie, die von Navina Heyne großartig gesungen und gespielt wird. Sherrie ist die einzige Figur, die in „Rock Of Ages“ zumindest ansatzweise eine Entwicklung durchlebt: Ein Stück begleiten wir sie auf ihrem Weg vom unbedarften Blondchen zur jungen Frau, die sich über ihre wahren Träume klar wird. Vortrefflich gibt Heyne zuerst die kichernde Tussi, die mit aufgerissenen Augen von Stacee Jaxx‘ „magischen Händen“ schwärmt, dann das schüchterne Mädchen, das zwar von wildem Sex mit Noch-Barkeeper und Bald-Rockstar Drew träumt, aber dann doch lieber ein Stück von ihm abrückt, als der mit verzweifelter Coolness die „lockere Freundschaftskarte“ spielt. Letztlich findet sich Sherrie in der ganz und gar nicht magischen Umgebung des Venus-Club beim Poledance wieder. Durch die mit fantastischer Soulstimme von Christina Fry gesungene Lebensbeichte der Clubbesitzerin „Mama“ Justice Charlier erkennt Sherrie, dass die Glitzerwelt von Los Angeles auch Schattenseiten hat.
Genau das kann und will Stacee Jaxx bis zuletzt nicht einsehen. Der abgehalfterte Rockstar, auf den wirklich jedes Klischee zutrifft, wird von Thomas Borchert herrlich überzogen in Szene gesetzt. Mit obszönen Bewegungen, vulgärer Ausdrucksweise, inmitten von auf die Bühne fliegenden Höschen legt er reihenweise minderjährige Groupies flach, zofft sich mit seiner Band Arsenal, suhlt sich auch gerne mal publikumswirksam in Selbstmitleid – und findet sich selbst dabei am allerschärfsten. Mit Bon Jovis „Wanted“ bringt er das harte Tourleben eines einsamen Rockstars auch stimmlich bestens zu Gehör. Eine völlig ungewohnte Rolle für Thomas Borchert, die er mit geradezu überbordender Spielfreude ausfüllt.
Das selbe gilt für die gesamte Cast, auch für die Besetzung der kleineren Parts, die genau wie die Hauptrollen bewusst klischeehaft angelegt sind und sich dennoch oder vielleicht gerade deshalb viele Sympathien ertanzen und ersingen: John Davies als Frantz Klineman, Sohn des skrupellosen deutschen Bauunternehmers Hertz Klineman, klasse gespielt von Gunther Nickles. Frantz steht komplett unter der Fuchtel seines Vaters, bis er sich in Aktivistin - vormals Stadtplanerin – Regina (Maren Klein) verguckt, die mit Vehemenz und Hippie-Freundinnen durch einen Sitzstreik den Bourbon Room vor den Bulldozern retten will und mit ihrer energischen Art auch Frantz wachrüttelt. Mit einem Moonwalk auf Roller Skates, ein Leichtes für den „Starlight-Express“-erfahrenen Davies, rockt und rollt er sich mit „Hit Me With Your Best Shot“ direkt in die Herzen von Publikum und Angebeteter, die dann auch gleich mit einsteigt.
Spätestens gegen Ende gibt es auch bei den Zuschauern kein Halten mehr. Erstaunlich textsicher sind da einige im enthusiastisch feiernden Publikum, in dem neben schicker Garderobe auch Fanshirts von Aerosmith bis Guns n‘ Roses gesichtet werden. Journey-Sänger Steve Perry bringt es auf den Punkt: „Don't stop believin' - hold on to the feelin'“. Auch wenn die „Träume mit denen man kommt nicht immer die sind, mit denen man geht“, wichtig ist überhaupt zu träumen. Zu leben. Dinge zu wagen. So wie sich das Theater Ulm an die Deutschsprachige Erstaufführung von „Rock of Ages“ gewagt und einen Volltreffer gelandet hat. „Rock of Ages“ ist Rock pur. Und – kann man das schreiben? – einfach saugeil.
Text: Sylke Wohlschiess
Eine Bitte an alle jungen und immer noch jungen Rocker:
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