Medicus 2.0 – Die Reise geht weiter:
Rezension "Der Medicus" in Fulda
Kann ein Musical, das bei seiner Uraufführung auf ganzer Linie begeistert hat, durch Änderungen überhaupt gewinnen?
Dies mag sich manch' einer gefragt haben, war doch im Vorfeld angekündigt, dass man "Der Medicus" in überarbeiteter Fassung auf die Bühne bringen werde. Aber schnell ist klar: Dem Kreativteam um Autor und Komponist Dennis Martin und Regisseur Holger Hauer ist es gelungen, das Historienmusical mit Fingerspitzengefühl und enormer Sorgfalt gekonnt zu verfeinern.
Im Vergleich zur Aufführung des Jahres 2016 (wir berichteten ausführlich) gibt es einige Änderungen an Bühnenbild und Projektionen: Auf einer riesigen Weltkarte verläuft Rob Coles Reiseroute von London mittels roter Linie quer durch die Welt bis Isfahan, eine stimmige Illustration zu Rob Coles Solo "Mein Weg", das mit teils neuem Text seine Aufbruchsstimmung klarer zum Ausdruck bringt. Eine neue Projektionstechnik bewirkt mehr räumliche Tiefe. Dies zeigt sich besonders eindrucksvoll an der Wegstrecke vom Winterlager nach Isfahan: Kamelkarawane, Dünen und Sandsturm erscheinen unglaublich real. Das lebhafte Treiben im Wirtshaus (wieder dabei als schwungvoll-fröhlicher Wirt: Thomas Christ) entfaltet sich nicht mehr nur vor gemalter Fläche, sondern in der Kulisse einer bühnenfüllenden Holzkonstruktion mit mehreren Zugängen und Ebenen, die das Flair des Wirtshauses am Weg sehr authentisch vermittelt.
Minimale inhaltliche Ergänzungen - oftmals reicht ein Satz aus - schaffen bessere Szenenübergänge oder schärfen die Charaktere. Nach Robs entsetztem Aufschrei "er wird sterben", als er einen Patienten berührt, schaltet sich nun sofort der gestrenge Quandrasseh in die Diskussion ein und verweist mit Nachdruck auf die alleinige Allwissenheit Allahs. Sebastian Lohse klingt hier drohend, seine Miene verheißt nichts Gutes für alle, die sich nicht fügen. Als Bader demonstriert Lohse wieder Universal-Spezifikum und gute Laune. Zugleich ist er für den heranwachsenden Rob der einzige Halt. Als der Bader Rob zum Abschied beinahe umarmt, sich aber doch wieder in seine kumpelhafte Art flüchtet, ist dies eine Geste, durch die ohne Worte eine verstärkte emotionale Tiefe entsteht. Solche Beispiele gibt es in der überarbeiteten Fassung noch einige.
Die wichtigste Weiterentwicklung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Musical: Rob Coles Motivation für seine lebenslange Suche nach der Ursache der Seitenkrankheit wird jetzt noch präziser herausgearbeitet.
Dorothea Maria Müller, die wieder als Robs Mutter auf der Bühne steht, verleiht ihrem neu arrangierten Solo "Verliert den Glauben nicht" mit großartigem stimmlichen Ausdruck schon die Ahnung von Agnes' Sterben und dem harten Schicksal, das ihre Kinder erwartet.
So kniet der junge Rob nach ihrem Tod verzweifelt auf dem Boden, die Hände hilflos vors Gesicht geschlagen, machtlos gegen das Sterben, das er voraussehen, aber nicht verhindern kann. Beim ebenfalls neu arrangierten "Ich muss es tun" findet sich der erwachsene Rob in exakt der selben Haltung wieder. Regisseur Holger Hauer kreiert hier eines der vielen nachhaltigen Bilder, die das Musical " Der Medicus" auszeichnen.
Schweren Herzens verzichtet Rob auf eine gemeinsame Zukunft mit Mary, der innere Zwang, endlich die Krankheit zu besiegen, die ihm die Mutter nahm, ist stärker als alles andere, steigert sich später an der Madrassa fast bis zur Besessenheit.
Unzählige Tote sind während der Pest zu beklagen. Immer wieder versucht Rob, Ibn Sina davon zu überzeugen, dass es für den Fortschritt in der Medizin zwingend nötig ist, sich Klarheit über den Aufbau des menschlichen Körpers zu verschaffen. Reinhard Brussmann gibt erneut mit Charisma und grandioser Stimme den würdevollen "Arzt aller Ärzte". Das Duett der beiden, "Die Gabe" punktet ebenfalls mit neuem Arrangement. Über Robs Ansinnen lässt er nicht mit sich diskutieren, was beileibe nicht nur an Quandrassehs strenger Oberaufsicht über die Schule, sondern auch an Ibn Sinas eigenen Ansichten liegt.
Rob unterwirft sich, wenn auch widerwillig, zunächst dem religiösen Tabu. Aber als auch an der Madrassa eine Patientin an der Seitenkrankheit stirbt, gibt es für ihn trotz des Risikos für sein eigenes Leben nur eine logische Handlungsweise.
Mit dem neuen Lied "Kein Zurück mehr", das den zweiten Teil von "Wenn wir jetzt nicht weitergeh'n" ersetzt, erhält man unmittelbaren Einblick in Robs Gedanken. Durch die direkte Verbindung mit der aus dem Off erklingenden Stimme der Mutter, die nie vergessene Worte aus Kindertagen wiederholt, wird klar, warum es ausgerechnet jetzt kein Zaudern, keine Grenzen und keine Rücksichtnahme auf die eigene Sicherheit mehr gibt.
Friedrich Rau, der auch in diesem Jahr wieder die Erstbesetzung der Titelrolle übernimmt, zeigt mit dem fulminanten Schlusston des aufschlussreichen neuen Songs Stimmvolumen und pure Emotion zugleich. Seine gesamte Rolleninterpretation wirkt noch intensiver und direkter, eine durch und durch brillante Leistung.
An Robs Seite als Mary Cullen steht in diesem Jahr Johanna Zett. Zu Recht belohnt minutenlanger Szenenapplaus ihre zu Herzen gehende Interpretation der Ballade "Kilmarnock". Johanna Zetts wunderschöne Stimmfarbe lässt innehalten. Auch ihr differenziertes Spiel gefällt über alle Maßen. Als Mary noch unter dem Schutz des Vaters reist, vermittelt Zett die optimistische Wesensart eines jungen Mädchens, das trotz vieler Widrigkeiten das Leben positiv sieht. Bei der Wiederbegegnung in Isfahan wird nur mit einem Blick in Johanna Zetts Gesicht klar, dass nun eine Frau vor Rob steht, die so viel erlebt und erlitten hat, dass alles Leichte, Mädchenhafte von ihr abgefallen scheint. Hilflose Empörung und ehrliche Wut angesichts ihrer verzweifelten Lage bestimmen Marys ganzes Sein. Im Lauf nur weniger Szenen gelingt es Johanna Zett, Marys Verbitterung schauspielerisch wieder aufzulösen. Zum Vorschein kommt der gefestigte Charakter einen starken und zugleich sensiblen Frau.
Auch Christian Schöne, der alternierend den Part des Karim und späteren Schah übernimmt, überzeugt mit einer eigenen, sehr gut ausgearbeiteten Rolleninterpretation. "Wenn Du wüsstest, wie egal mir das Leben am Hof meines Onkels ist." Christian Schöne nimmt man diese Aussage sofort ab. Als junger Karim ist er trotz einer gewissen sympathischen Großspurigkeit darauf bedacht, von seinen Freunden als ihresgleichen akzeptiert zu werden. Auch, wenn er "nur ein mittelmäßiger Arzt geworden wäre", mit energischer Stimme und großer Körperspannung spielt Schöne bei der Pestszene heraus, dass die Medizin nicht nur ein Zeitvertreib für den tanz- und trinkfreudigen Lebemann ist. Zwar ist er kein Getriebener wie Rob und auch keiner, der vom Willen zu helfen geprägt ist wie Mirdin, aber er hat große Achtung vor dem, was an der Madrassa geleistet wird und ist bestrebt, seinen Teil beizutragen. Die Geste, mit der er seinem früheren Lehrer Gold für die Madrassa überreicht, ist beinahe demutsvoll, gepaart natürlich mit ein klein wenig Selbstgefälligkeit. Immerhin kann er, Schah Karim, nun weitere Studien finanzieren.
Beispielhaft ist Christian Schönes glasklare Artikulation. Diese verleiht zum einen Karims fast entsetzter Erkenntnis, dass er als Schah unzähligen Zwängen und Spielregeln unterworfen ist, eine besondere Dimension und sorgt zum anderen auch bei den Gesangsnummern für hundertprozentige Textverständlichkeit. Auch bei den anspruchsvollen, dynamisch umgesetzten Tanznummern bleibt Schönes Stimmführung stets vollkommen sicher, sein Gesang energetisch und kraftvoll.
Ehepaar Askari, Mirdin und Fara, ist mit Kristian Lucas und Lisandra Bardél ebenfalls neu besetzt. Mit seinem Blick auf Rob, den Mirdins Aufforderung, doch das Gebet zu sprechen, schwer ins Schleudern bringt, lässt Kristian Lucas ahnen, dass Mirdin Robs Identität als Jude zumindest anzweifelt. Aber es ist nicht Mirdins Art, aus Rob mehr herauszukitzeln, als dieser preisgeben will. Schauspielerisch arbeitet Lucas den zurückhaltenden, selbstlosen Charakter des jüdischen Arztes sehr gut heraus und singt mit viel Gefühl sein "Jüdisches Gebet". Es wurde mit mehr Hall unterlegt, was die sakrale Bedeutung unterstreicht.
Eine emotionale Kehrtwende in kürzester Zeit meistert Lisandra Bardél als Fara: Kaum ist das fröhliche Duett "Ein Arzt in der Familie" mit Johanna Zett verklungen, haucht Mirdin sterbend Faras Name und sie bricht weinend in Marys Armen zusammen.
Zwischen all' den bewegenden Momenten lockern nach wie vor viele unterschiedliche Elemente und Einfälle die ernste Handlung auf: schillernd bunte orientalische Kostüme, kreative Choreographien, hektisch schwadronierende Händler und vieles mehr. Immer wieder erkennt man an gut gesetzten kleinen Gesten, an Blicken und Worten die ungewöhnliche Hingabe und Spielfreude, mit der alle Ensemblemitglieder bei der Sache sind, ganz egal, ob die Rolle groß oder weniger groß ist.
Dies spricht für ganze Team von Spotlight Musicals, dem es ohne jeden Zweifel gelungen ist, das schon bei seiner Uraufführung überzeugende Musical noch runder, noch emotionaler zu machen. Genau durchdachte und behutsam eingefügte Anpassungen zeichnen "Der Medicus" 2017 aus. Man erlebt die fantastische Bühnenadaption eines Weltbestsellers, eine perfekte Symbiose aus anspruchsvoller Handlung, wunderbarer Musik, Spannung und Gefühl, umgesetzt von einer durchweg hervorragenden Cast. Bravo!
Text: Sylke Wohlschiess
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