Musiktheater par excellence:
Rezension „Jesus Christ Superstar“ Tour / München
Die großen Themen der Menschheit verlieren niemals an Eindringlichkeit. Als die „größte Geschichte, die je erzählt wurde“ bezeichnen Komponist Andrew Lloyd Webber und Autor Tim Rice die biblische Darstellung des Lebens- und Leidenswegs Christi, dessen letzte sieben Tage sie in ihrem Musical „Jesus Christ Superstar“ aus Judas‘ Sicht erzählen. In unzähligen Spielstätten stand die komplett durchkomponierte Rockoper seit ihrer Uraufführung 1971 auf dem Programm, unzählige Besucher haben die unterschiedlichsten Umsetzungen erlebt.
BB Promotion präsentiert die offiziell autorisierte Neuinszenierung von Produzent Bill Kenwright und Regisseur Bob Tomson in Deutschland, als bisher letzter Tourstation am Deutschen Theater in München. Wer kann, sollte sich noch ganz schnell auf den Weg machen, denn was man dort erlebt, ist Musiktheater par excellence.
Die Darsteller aus dem Londoner West End singen und spielen auf einem Niveau, das seinesgleichen sucht. Auch kleinere Rollen sind mit großartigen Künstlern besetzt. So sind denn auch nicht nur die Soli, sondern auch die Ensemblenummern von herausragender gesanglicher Qualität. Durch die glasklare Intonation und die saubere Aussprache versteht man den Text problemlos auch ohne perfekte Englischkenntnisse, erklärende deutsche Übertitel werden aber seitlich eingeblendet.
Die Regie verzichtet auf krampfhafte Modernisierungsversuche, sondern vertraut auf die Faszination der Geschichte und die Kraft der zeitlos genialen Kompositionen, die von den durchweg grandiosen Akteuren zu einem Gesamterlebnis mit unglaublicher emotionaler Wucht potenziert werden.
Eine überdimensionale, höhenverstellbare Dornenkrone schwebt über der Bühne. Monumentale, ornamentverzierte Säulen ragen seitlich ins Bild und flankieren eine Metallkonstruktion, die aus verschiebbaren Treppenelementen und einen schmalen Steg besteht, der als zweite Spielebene dient. Paul Farnsworths Set Design ist angenehm schlicht und funktional, keine unnötigen Spielereien lenken vom Geschehen ab. Dazu kreiert Nick Richings charakterisierende Lichtstimmungen: Jesus erscheint in einem Strahlenkranz aus weißem Licht, auch in düstersten Momenten hebt seine stets hell gleißende Kleidung ihn aus jeder Menge ab. Maria Magdalena wird mit sanften, warmen Goldtönen ausgeleuchtet, ebenso die friedlich-freudige Stimmung beim Einzug in Jerusalem. Aggressives Rot und kaltes Blau dominieren die Szenen im Tempel bzw. bei der Kreuzigung.
Requisiten mit klarer religiöser Symbolik werden gezielt eingesetzt. Die Jünger entwirren ein Fischernetz, beim Einzug in Jerusalem werden Palmwedel geschwenkt, am Fuß des Kreuzes würfeln Soldaten um Jesus‘ purpurnen Mantel - eher ein Fetzen, der ihm umgeworfen wird, um ihn als „König“ zu verspotten. Ansonsten ist Jesus in das „klassische“ weiße Gewand gehüllt und geht barfuß. Herodes‘ Lidschatten glitzert mit seiner Weste und Pluderhose um die Wette, ähnlich schrill und bunt geht es bei den wüsten Gelagen im Tempel und später bei Jesus‘ Halluzination eines in Elvis-Manier posenden Judas zu. Maria Magdalenas Kleid ist - natürlich - rot, aber ansonsten dominieren gedeckte Farben. Die Jünger tragen unauffällige braun-graue Kutten und Sandalen. Alle, außer Judas, der sich mit knöchelhohen Stiefeln in seiner undankbaren Rolle als Verräter durch die Szenerie bewegt.
Tim Oxbrow zeichnet ein vielschichtiges Bild eines innerlich zerrissenen Menschen. „Listen, Jesus to the Warning I give, please remember that I want us to live” singt Oxbrow in „Heaven on their Minds“ mit einer Eindrücklichkeit, die Judas’ Standpunkt schon gleich zu Beginn klarmacht. Mal rotzt er die Töne aggressiv und laut nur so heraus, mal klingt er verzweifelt mahnend. Oxbrows Stimmvolumen scheint grenzenlos, perfekt setzt er seinen Rock-Tenor ein und punktet mit jeder Note. Neben der gesanglichen Meisterleistung brilliert er auch im Schauspiel. Bravourös, wie er den Priestern in „Damned for all Time“ die Motivation für seinen Verrat klarmachen will. Auf Knien erfleht er Verständnis für sein Handeln, doch die angedeutete segnende Geste des Priesters Annas wird unvermittelt zu einem rohen Stoß, der Judas vollends zu Boden wirft.
Auf den Punkt sind dank Tomsons exzellenter Regiearbeit stets alle Akteure präsent. Egal, ob sie für ein großes Solo oder nur für einen kurzen Moment im Fokus stehen, wie Alistair Lee als Annas oder Steve Fortune mit seinem unheilvoll klingenden Bass in der Rolle des Hohepriesters Kaiaphas. Auch braucht Judas‘ Selbstmord dank Oxbrows Darstellung keine bühnentechnischen Hilfsmittel. Gebrochen liegt er am Boden, mit letzter Kraft zieht er sich rückwärts die Stufen hinauf, legt sich einen Strick um den Hals – und mit dem letzten Ton erlischt das Licht.
Hier zeigt sich auch, wie gut das Zusammenspiel von Licht, Musik und Bühnengeschehen gelingt. Die Band unter der Musikalischen Leitung von Keyboarder Tim Whiting spielt die druckvollen Rocknummern mit gleichermaßen hörbarer Freude und Präzision, wie die sanften Balladen, stets mit Dynamik und Power, aber nie den Gesang übertönend. Auch Carole Todds Choreographie ist exakt auf die Musik abgestimmt, Arme strecken sich taktgenau zu Jesus empor, Peitschenhiebe knallen zu harten Riffs. Bei den Shownummern zeigen die Apostle Women Molly McGuire, Dani Acors und Lizzie Ottley synchrone, schmissige Tanzeinlagen, was für einige Momente das richtige Maß an Leichtigkeit in den ersten Stoff bringt.
Immer wieder visualisieren kleine Gesten tiefgründige Inhalte, lassen effektvolle Pausen innehalten. Wenn Judas versucht, Maria wegzuziehen, als Jesus von äußerst bedrohlich wirkenden Kranken bedrängt wird, reicht ein Blick von Oxbrow, um ahnen zu lassen, dass Judas Maria womöglich nicht ganz so gleichgültig gegenübersteht wie er vorgibt. Maria aber bleibt am Ort des Geschehens und fragt sich, warum nur sie sich von Jesus so angezogen fühlt.
Bei „I don’t know how to love him“, der großen Ballade der Maria Magdalena, kommt Rebekah Lowings auffallend schönes Timbre so richtig zur Geltung. Wohl selten hat man eine so ergreifende Interpretation gehört, anmutig und sanft, aber zugleich mit enormer Ausdrucksstärke. Einer der musikalischen Höhepunkte ist zweifellos das Duett „Could we start again please“. Lowings harmoniert glänzend mit Carl Lindquist als Petrus. Dessen weicher Bariton klingt nicht nur unglaublich gefühlvoll, sondern überzeugt auch mit schöner, fließender Stimmführung. Da hätte man Petrus durchaus noch das eine oder andere Solo gewünscht.
Auch Tom Gilling hat als Herodes Antipas nur einen großen Song. Speziell diese Szene, die ja eigentlich von todernster Thematik ist, gerät oft zu einer geschmacklosen Lachnummer. Nicht so in dieser Produktion. Schrill, bunt, mit aufreizenden Bewegungen und Beifall heischenden Worten ans Publikum: Gilling holt alles aus „Herod’s Song“ heraus und agiert bei aller offensiven Gestik und gewollt überzogener Dramatik nicht nur stimmstark, sondern auch schauspielerisch stilsicher.
Ebenso überzeugt Christopher Jacobsen als Pontius Pilatus. Noch ganz in seinem Alptraum gefangen, wankt er im weißen Nachtgewand mit rotem Gürtel die Stufen hinab und singt mit fast brechender Stimme, immer wieder gequält innehaltend, von einem Galiläer, den er in den Tod schicken wird. Als ihm dann tatsächlich Jesus zur Verurteilung gebracht wird, trägt er mit weißer Toga und roter Schärpe ähnliche Kleidung, die auch visuell die Verbindung zwischen seiner unheilvollen Vorahnung und der Realität schafft. Jacobsen versteht es, Pilatus‘ ambivalente Lage ausgesprochen authentisch zu vermitteln. Mit allem Nachdruck versucht er Jesus dazu zu bringen, sich zu verteidigen. Doch dieser weigert sich und die – vorherbestimmten? – Ereignisse nehmen ihren Lauf.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Glenn Carter als Jesus Christus. Carter spielte die Titelrolle bereits am West End, am Broadway und in der englischen Bühnenfassung aus dem Jahr 2000, die auch auf DVD erschien. Wenn er sich mit segnend ausgebreiteten Armen dem Volk zuwendet oder inmitten seiner Jünger das Brot beim Abendmahl bricht – das frontal dem Publikum zugewandte Szenenbild erinnert sofort an Leonardo da Vincis berühmtes Gemälde - , lässt er eine Aura des Göttlichen spürbar werden. Hauptsächlich aber zeichnet Carter ein sehr menschliches Bild von Jesus und macht dessen inneren Konflikte, seine Ängste und Zweifel nachvollziehbar. Sein „Gethsemane“ ist ein intensiver Dialog mit Gott, bei dem sich alle Emotionen ihre Bahn brechen: Trauer, wilde Aggressionen, Verzweiflung, Angst und letztlich doch die Ergebenheit in seinen gottgewollten Opfertod. Ob auf Knien mit fast schluchzend hinausgepresster Klage oder in höchstem Falsett mit sich überschlagenden Tönen: Glenn Carter versteht es, seiner Stimme eine phänomenale schauspielerische Dimension zu verleihen. Die sehr lang ausgedehnte Kreuzigungsszene zeigt Carter dann in absoluter Höchstform. So erschreckend echt ist wohl noch kaum jemand den Bühnentod gestorben. Nägel werden durch Hände und Füße geschlagen und Carters Kehle entringen sich in Todesqualen kaum noch menschliche Schmerzenslaute. Dann donnern Gewitterschläge über den Berg Golgatha, mit letzter Kraft presst Jesus „I'm thirsty“ zwischen den Lippen hervor – voller Gehässigkeit wird ihm ein essiggetränkter Schwamm gereicht. Er bäumt sich auf, gemartert bis über alle Grenzen des Erträglichen und stirbt mit den Worten „Father, into your Hands I commend my Spirit.“ Glenn Carter liefert eine über alle Maßen eindrucksvolle Darbietung ab, die durch die unbeschreibliche Intensität auch vom Publikum einiges abverlangt.
Gut deshalb, dass Jesu‘ Auferstehung zumindest noch kurz visualisiert wird, bevor diese letzte Szene nahtlos in den Schlussapplaus übergeht. „Jesus Christ Superstar“ in dieser Produktion ist Musiktheater, das man nicht einfach nur anschaut, sondern miterlebt. Und ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die wirklich großen Werke in ihrer ursprünglichen Form niemals an Eindringlichkeit verlieren.
Text: Sylke Wohlschiess
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