Musikalisches Experiment:
Rezension „Ein Sommernachtstraum" in Karlsruhe
Als wäre die Liebe per se nicht schon kompliziert genug. Nein, da mischt sich auch noch Kobold Puck ein. Im Auftrag des Elfenkönigs Oberon schleicht er durch den nächtlichen Zauberwald und erwischt mit seinen Liebestropfen prompt den Falschen. Was folgt sind verwirrende Begierden und ein Aufruhr der Gefühle, denen das Publikum im Badischen Staatstheater Karlsruhe teils ebenfalls verwirrt, teils höchst belustigt folgt.
Musical-Mainstream ist es beileibe nicht, was Musiker, Schauspieler und Kreative der Karlsruher Inszenierung geschaffen haben.
Das liegt zunächst einmal an den 15 neuen Liedern, die der Musikalische Leiter Clemens Rynkowski eigens komponiert und geschickt in Shakespeares literarische Vorlage eingewoben hat. Während es im ersten Teil, bei den Duetten der Liebenden und den Liedern der Nicht-Geliebten noch recht melodiös und vertraut klingt, wird im zweiten Teil, analog zur Handlung, auch die Musik zunehmend dissonant und aggressiver. Mit seinen intelligenten, tief gehenden Liedtexten fügt der 23-jährige Poetry Slammers Tobias Gralke moderne, erfrischend ungewöhnliche Formulierungen in das historische Versmaß ein. So wird dem Schauspiel aus dem späten 16. Jahrhundert mit dem zeitlosen Thema der Suche nach der wahren Liebe eine neue Aktualität zu eigen.
Vor allem aber die Instrumentierung und die Einbeziehung der Musiker in die Handlung macht den Karlsruher „Sommernachtstraum" zu einem experimentellen und äußerst eigenwilligen Stück Musiktheater. In den ersten Szenen sitzen die sieben Musiker gut sichtbar rechts und links am Bühnenrand und spielen ganz gewöhnliche Instrumente. Später im Zauberwald tauchen nicht nur äußerst merkwürdige Instrumente auf, sondern zugleich auch seltsame Gestalten in bunten, im Licht changierenden Glanzleggins, Motorradstiefeln, hoch aufgetürmten weißen Perücken und rosenübersäten Trägerhemden: Elfen.
Und als solche spielen die Musiker dann nicht nur Geige und Tuba, sondern in fliegendem Wechsel auch Nagelorgel, Blechschnecke, Sperrholzschrein und Stahl-Sputnik. Diese von den drei Rynkowski-Brüdern, die auch die Stimmen der Elfen singen, selbst erdachten und aus Schrott und Fundstücken gebauten Instrumente klingen anders als alles, was man bisher gehört hat. Sie erschaffen keine Tonfolgen, sondern einen vollkommen eigenen Klangkosmos. Lang gehaltene, silbern verklingende Töne vermischen sich mit tiefem, geheimnisvollem Raunen. Eben so, wie es im Elfenwald klingen muss.
Deshalb ist auch nicht entscheidend, dass die gesanglichen Leistungen zwar für ein reines Schauspielensemble passabel, aber teilweise doch eher mittelmäßig sind. Vor allem den Damen fehlt es in den höheren Tonlagen durchweg an Stimmvolumen, so dass einige Passagen zwar sauber gesungen werden, aber leider recht dünn klingen. Mit einschmeichelnden Stimmen fallen Matthias Lamp als Lysander und Robert Besta als Klaus Zettel positiv auf. Aufhorchen lässt der als Gast am Badischen Staatstheater engagierte Tim Grobe. Sein klassischer Bassbariton tönt voll und energiegeladen, und auch seine schauspielerische Darstellung des Oberon ist akzentuiert und auf den Punkt. In der Streitszene mit Antonia Mohr als Titania, in der sich höfische Verbeugungen und wutverzerrte Grimassen zu einer eigenartigen Symbiose verbinden, zeigen beide eine sehr gute Leistung.
Auch den vier Liebenden gelingt die schauspielerische Umsetzung ihrer Rollen hervorragend. Florentine Krafft gibt eine zwischen Verzweiflung und Wut schwankende Helena, die sich nach Demetrius verzehrt, der wiederum nur Augen für Hermia hat. Sophia Löffler himmelt in dieser Rolle absolut überzeugend ihren Lysander an. Dieser erwidert die Anbetung, bis er durch Pucks Irrtum den für Demetrius bestimmten Zaubernektar abbekommt und fortan von Helena wie besessen ist. Jan Andreesen als Demetrius verhält sich Helena gegenüber unglaublich mies und abweisend. Dennoch wird er sie nicht los. Alle vier agieren in passender Dosierung überspitzt und strahlen eine gewisse ironische Distanz zu ihren dargestellten Charakteren aus.
André Wagner, als Egeus eingehüllt in einen schwarzen Mantel mit Goldapplikationen, die sich in Hermias Kleid wiederfinden (ein Beispiel für die gleichermaßen fantasievollen und durchdachten Kostüme von Janine Werthmann), verwandelt sich in Oberons Gehilfe Puck, indem er einfach den Hut abnimmt und den Mantel auszieht. Jetzt hat auch er, wie alle anderen Figuren des Elfenwaldes, nach hinten gegeltes Haar und trägt ein weißes, wie angemalt wirkendes Hemd und eine ebensolche Hose. Kriecherisch-unterwürfig gibt er sich Oberon gegenüber, aber kaum ist er allein, stolziert er durch den Wald, als wäre dies sein Königreich. Stets unsichtbar bleibend setzt er den vier im Wald Umherirrenden zu und verwandelt zudem Handwerker Zettel in einen Esel. Die Dualität der Rolle – Puck einerseits als hilfreicher Geist, andererseits als finsterer Dämon – bleibt im Ansatz stecken. Wagner spielt solide, aber bleibt für diese vielschichtige Rolle zu eindimensional.
Dagegen rücken mit sprühendem Witz, bezaubernder Tollpatschigkeit und grandios überzeichneter Darstellung ihrer richtig schlechten Theaterproben Gunnar Schmidt, Robert Besta, Michel Brandt, Daniel Friedl und Andreas Ricci sofort in den Fokus. Ursprünglich Handwerker, werden sie unter Daniel Pflugers Regie kurzerhand zu Bühnenarbeitern. Ein genialer Kniff, denn so können die Fünf den Umbau der in Athen-Kulisse zum Elfenwald gleich selbst erledigen. Das Licht im Saal wird heller für die „Umbaupause", der Bodenbelag wird abgezogen, die Leinwand mit dem aufgemalten Wald aufgerollt. Mehr braucht es im genial-spartanischen Bühnenbild von Flurin Borg Madsen nicht. So proben die Amateur-Schauspieler dann in Oberons Zauberreich das Stück im Stück, „Pyramus und Thisbe".
Schmidt als Autor und Regisseur Peter Squenz hat Mühe, seiner Truppe ihre Rollen nahe zu bringen und hält sich verzweifelt an seinem Textbuch fest. Er überzeugt auf ganzer Linie. Daniel Friedls Mimik und Gestik als Wand lösen wahre Lachsalven aus: Er streicht sich übers Gesicht und lässt alle Gesichtsmuskeln zu einem unschlagbar dümmlichen Gesichtsausdruck erschlaffen, zwei gespreizte Finger sind die Mauerritze, durch die Michel Brandt im Tüllröckchen als Thisbe verliebte Seufzer zur anderen Seite schickt. Kaum ein Wort zu sagen, aber das Publikum auf seiner Seite hat Ricci alias Robert Schlucker, der den Löwen mimt. Seine Rolle besteht nur aus einem Brüllen, aus dem letztlich nur ein verzagtes Miauen wird, das unweigerlich an den feigen Löwen aus dem „Zauberer von Oz" erinnert.
Star der Truppe ist Klaus Zettel, fantastisch dargestellt von Robert Besta. In grenzenloser Selbstüberschätzung, die er mit einem einzigen Augenrollen vermittelt, würde er am liebsten alle Rollen selbst über- und auch noch seinem Regisseur die Arbeit abnehmen. Puck kann das nicht mehr mitansehen und verwandelt den selbstherrlichen Möchtegern-Mimen in einen Esel. Seine Mitspieler fliehen in Panik, die von Oberon aus Rache mit den Zaubernektar geblendete Titania dagegen verliebt sich in Esel Zettel. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht und versucht verzweifelt mit lautem I-A, sich gegen die Annäherungsversuche zu wehren. Er scheitert. Und Titania tritt reichlich derangiert nach einer tierischen Liebesnacht wieder vor Oberon, der sie dann endlich vom Bann erlöst. Auch Zettel erhält seine eigene Identität zurück und überzieht bei der Abschlussvorstellung seine Rolle derart, dass er zum Schluss (fast) alle seine Kleider in Richtung des vermeintlich danach lechzenden Publikums wirft. Bestas überwältigende Spielfreude und Bühnenpräsenz machen seinen Part zum Highlight einer ungewöhnlichen Aufführung.
Im Gegensatz zu Shakespeares Original fehlt in Karlsruhe die Rahmenhandlung, die Hochzeit von Theseus und Hippolyta, zu der die Elfen am Schluss den Segen geben und die den Schauspielsequenzen der Handwerkertruppe einen ins Gesamtgeschehen einfügten Platz gibt. Aber dennoch ordnet sich Pflugers Regie der Handlung unter – nicht umgekehrt. Wer ein eingängiges Musical erwartet, wird sicher nicht glücklich in dieser Sommernacht. Aber wenn man sich auf das musikalische Experiment einlässt, ist der Lohn ein wahrhaft verwirrend-schönes Theatererlebnis.
Text: Sylke Wohlschiess
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