Lohnenswert:
Rezension „Joseph" in Leinfelden-Echterdingen
Nicht immer braucht es die große Bühne, um großartiges Musical zu machen. Was die ambitionierten Laiendarsteller im Theater unter den Kuppeln in Leinfelden-Echterdingen in der aktuellen „Joseph"-Inszenierung auf die Bühne bringen ist so gut, dass die Akteure den Vergleich mit so manch professioneller Produktion nicht zu scheuen brauchen.
Den ernsten Kern des Musicals „Joseph" – die Geschichte um Missgunst, Verrat und Verzeihen, basierend auf der Josephs-Erzählung aus dem Alten Testament – verpacken Andrew Lloyd Webber (Musik) und Tim Rice (Text) in ein fast durchkomponiertes temporeiches Werk, in dem sich bissig-ironische Texte mit einfühlsamen Balladen abwechseln. Von Anfang an springt der Funke über und die Besucher im Theater unter den Kuppeln lauschen ebenso fasziniert wie auf der Bühne die Schulkinder, denen die Erzählerin die eigentliche Geschichte vorträgt:
Unter der Regie von Joachim Riesch entsteht ein knallbuntes Spektakel, das bei aller Quirrligkeit niemals unruhig, sondern bis ins Detail durchdacht ist. Auch bei den großen Ensembleszenen mit bis zu 90 Akteuren wirkt die Bühne nie überfüllt. Dazu tragen die rundum gelungenen Kostüme bei, die die Darsteller optisch gruppieren. So tragen die Brüder Kleidung in braun-gestreift und beige, die Frauen des Pharao sind grün gewandet. Weitere Ägypterinnen erstrahlen in Weiß und die Chorkinder in unterschiedlich bunten, aber unifarbenen Shirts.
Der Kinderchor wird von Riesch unmittelbarer ins Bühnengeschehen integriert, als man es beispielsweise aus der Essener Inszenierung kennt: Statt am Bühnenrand singen sie ihre Parts oft inmitten derer, die die eigentliche Geschichte darstellen. So verschmilzt der Erzählrahmen fast unmerklich enger mit der Handlung und die Aussage des Stückes wird dramaturgisch in die heutige Realität transportiert.
Besonders liebevoll sind die Tierkostüme geschneidert: ob Kamel, Schaf oder die 14 Kühe aus dem Traum des Pharao, die beim „Song des King" durch das Publikum stürmen - stimmige Details geben ein verblüffendes Abbild lebendiger Tiere. Besonders die Schlange, die geradezu unsterblich in Joseph verliebt scheint und ein herrlich zischelndes „Ssssklave musssst Du sssein" intoniert, schlängelt einen meterlangen Schlangenkörper über die Bühne. Weitere Gimmicks bringen zusätzlichen Pfiff: Der Butler, der an den hungernden, aber billigen Fusel saufenden Brüdern ein überfülltes Tablett vorbeischleppt und am Ende der Szene die abgenagten Knochen zurück trägt, das Plakat „Sklaven-Sommer-Schluss-Verkauf" oder die Museumsstücke, von denen eines sogar zum Leben erwacht.
Der Szenenablauf ist absolut professionell aufgebaut: Ohne Brüche oder Stockungen geht es fast unmerklich in Sekundenschnelle von turbulenter Massenszene zu ruhigen Momenten. Überraschenderweise verfügt das kleine Laientheater sogar über eine Drehbühne, was den schnellen Szenenwechseln zugute kommt. Während das Bühnenbild im ersten Akt teils noch etwas handgestrickt aber dabei durchaus charmant wirkt, überrascht im zweiten Akt eine imposante Sphinx inmitten von Tempelsäulen, die blau und rot illuminiert als phantastische Kulisse für den Pharao im Elvis-Look dient. Applaus bekommt das Szenenbild zur Hungersnot-Sequenz in Kanaan: Eine Wand, behängt mit Tüchern und ausrangierten Gebrauchsgegenstände, veredelt durch Metallfolie und Lackfarbe und viel Rauch auf der Bühne schaffen die Atmosphäre eines verkommenen Hinterhofs. Bühnenbild, Licht und Kostüme verschmelzen zu einer Einheit.
Julia Brückner als Erzählerin glänzt mit klarem, sicheren Sopran und bleibt rollenbedingt im Schauspiel angenehm zurückhaltend. Ganz anders die elf Brüder Josephs: von Zurückhaltung keine Spur. Da wird gegen den kleinen Bruder intrigiert, und als sie ihn endlich losgeworen sind, unter – natürlich vorgetäuschten - Tränen dem Vater von dessen angeblichem Tod berichtet. Herrlich zu sehen, wie gekonnt alle Darsteller Trauer heucheln, während sie sich doch eigentlich vor diebischer Freude über ihre geglückte Aktion kaum auf den Beinen halten können und in wildes Feiern ausbrechen, kaum dass sich der gramgebeugte Jakob (Patriarch von Kopf bis Fuß: Roland Illersperger) zurückgezogen hat.
Dramaturgisch als Einheit in Szene gesetzt, werden auch die Soloparts der Brüder durchweg gut gesungen. Besonders klangvoll: Christoph Blessing als Ruben mit „Ein Engel mehr schwebt am Himmel". Die beißende Ironie in der Stimme wird unterstützt mit perfekt eingesetzter Mimik und Gestik. Auch Steffen Schwarz gefällt stimmlich und schauspielerisch als überdrehter Pharao.
Die Leistungen der aller Darsteller verdienen durchweg höchsten Respekt: Wie klein die Rolle auch sein mag, jeder ist mit spürbarer Spielfreude und voller Konzentration bei der Sache, ob als Schaf oder Bäcker, als Schlange oder Ägypterin. Und auch die raschen Kostumwechsel der Tänzerinnen würden wohl auch im Profitheater nicht schneller und reibungsloser funktionieren.
Unter dem Dirigat von Peter Pfeiffer passt auch das Zusammenspiel von Orchester, Solo-, Ensemble- und Chorgesang auf den Punkt. Die zwölf Musiker spielen Sylvio Zondlers frische Arrangements der teils doch schon etwas angestaubten Songs in bester Livemanier. Da tönt der Rocksound beim „Song des King" satt, die karibischen Calypsoklänge beschwingen und bei „Hoedown" möchte man am liebsten genau wie die Tänzerinnen den Westernrock überwerfen und mittanzen.
Gänzlich vergessen, dass man hier immer noch einer Amateurvorstellung beiwohnt, lässt einen der Hauptdarsteller: Matthias Tränkle ist als Joseph so gut, dass man fast nicht glauben kann, dass er zwar professionellen Gesangsunterricht hat, aber seinen Lebensunterhalt nicht mit Singen bestreitet. Das Können dazu hat er allemal. Sein Bariton klingt wunderbar warm, ganz ohne Druck lässt er die Töne fließen und bringt so seine einprägsame Stimmfarbe aufs Beste zur Geltung. Er berührt bei den leisen Stellen und überzeugt ebenso bei den Passagen, bei denen mehr Stimmvolumen gefordert ist. „Schließt jede Tür vor mir" wird zum gesanglichen Höhepunkt einer durchweg gelungenen Aufführung.
In Leinfelden-Echterdingen stimmt zudem nicht nur die künstlerische Leistung, sondern auch alles andere: kostenlose Parkplätze, eine nette Gartenwirtschaft, äußerst bequeme Sitze im gut überdachten Theater, ein ausführliches Programmheft und nicht zuletzt ein mehr als faires Preis-Leistungs-Verhältnis. Schön, dass es noch Menschen gibt, die aus purer Freude an der Sache ihre Freizeit dem Theater widmen, auf sehr hohem Niveau agieren und gleichzeitig eine wohltuend herzliche Atmosphäre schaffen. Ein Besuch lohnt sich.
Text: Sylke Wohlschiess