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Rezension „Der Medicus“ in Fulda
15.08.2016 - Musical „Der Medicus“ - Weltpremiere in Fulda
Regen in London und sengende Sonne über der Wüste. Orientalische Tänze und jüdische Gebete. Eine tödliche Seuche und ausschweifende Feste. Ein Christ, der vorgibt, Jude zu sein, um bei einem muslimischen Gelehrten Medizin studieren zu können: In der Musical-Uraufführung „Der Medicus“ fügt sich diese bunte Bilderflut zu einer faszinierenden Reise durch Orient und Okzident.
Mit der weltweit ersten Bühnenadaption von Noah Gordons Beststeller ist Dennis Martin (Libretto und Musik) und dem gesamten Kreativteam, zu dem auch Christoph Jilo (Libretto), Marian Lux (zusätzliche Musik) und Wolfgang Adenberg (zusätzliche Texte) zählen, ein richtig großer Wurf gelungen. „Der Medicus“ ist ein Musical, bei dem alles stimmt: die mitreißenden Lieder unterschiedlicher Stilrichtungen mit sich elegant an den Melodielauf fügenden Texten, eine ausgezeichnete dramaturgische Umsetzung der vielschichtigen Handlung und innovative Choreographien.
Im Mittelpunkt der Ereignisse steht der junge Engländer Rob Cole. Als Kind spürt er in seinen Händen den nahenden Tod der Mutter. Robs Gabe weckt das Interesse eines fahrenden Baders, der den Jungen aufnimmt und ihn alles lehrt, was er über das Heilen von Krankheiten weiß. Doch Rob ist dies nicht genug. Als er von einer Ärzteschule im fernen Persien erfährt, macht er sich auf die Reise, um dort als Medicus ausgebildet zu werden. Das allerdings ist noch weit gefährlicher als angenommen.
Das Libretto hält sich nah an der Romanvorlage, lediglich eine gravierende Änderung wurde vorgenommen, die sich aber als geradezu genialer Schachzug herausstellt: Im Roman sind der Schah und Karim, Mitstudent von Rob und Mirdin an der Ärzteschule in Isfahan, zwei Personen. Im Musical wird Karim zum Neffen des Schahs, der nach dem Pesttod seines Onkels selbst zum Herrscher über das Persische Reich aufrückt. So werden zwei wichtige Handlungsstränge verschmolzen und die dreistündige Umsetzung als Musical ermöglicht, ohne auf wichtige Aspekte zu verzichten.
Die Cast findet sich unter Holger Hauers Regie zu einer Einheit zusammen, die „Der Medicus“ als grandiose Gesamtleistung mit meisterhaft getanzten Choreographien und großartigen Ensemblegesängen umsetzt. Zwar ist es schade, dass kein Live-Orchester spielt, aber für das Durchschnittsohr erkennbar ist diese Tatsache dank der einwandfreien Tonqualität im Saal und der mit großem Orchester unter dem Dirigat von Michael Reed eingespielten Musik nicht.
Pia Virolainens atmosphärisches Lichtdesign setzt Christoph Weyers Bühnenbild und Petr Hlouseks ergänzende Projektionen effektvoll in Szene. Beim Angriff der Seldschuken zucken Lichtstrahlen Richtung Bühne, Getötete fallen in rotem Spots zu Boden. Sanftes Licht und auf eine Wand aus Gaze projizierte Regenschauer lassen das schottische Kilmarnock entstehen, Spots zeichnen die Felder des Schachbretts und Rob umgibt flirrendes Schwarzlicht, wenn er die Hände eines Todgeweihten ergreift. Auf der kleinen Bühne ermöglichen pfiffige Lösungen schnelle Kulissenwechsel. Ein sandgelber Belag wird nach hinten weggezogen und gibt den Blick auf rote Treppenstufen frei, seitlich erscheinen Hausfronten – die Wüste wird zu den Straßen Isfahans. Eine Klappe in der bühnenbreiten Treppe dient als Einstieg in den Keller der Madrassa. Durch ein sternförmig gebrochenes Gitter, das die Bühne für diese Szene in zwei Spielebenen teilt, fallen helle Lichtstrahlen auf Robs verbotenes Tun, während Mary in tiefer Nacht zum Schah gebracht wird.
Andreas Wolfram in der Rolle des Karim und späteren Schahs gelingt es, mit fein dosiertem Spiel die gesamte Spanne der charakterlichen Entwicklung dieser schillernden Figur überzeugend zu vermitteln. Karim lässt seine Studien recht entspannt angehen und glänzt lieber mit sarkastischen Bemerkungen als mit Wissen. Trotz offensichtlicher Selbstherrlichkeit lässt Wolfram den leichtfertigen Partygänger sofort sympathisch erscheinen. Bei „Das Herz dieser Stadt“ passt Andreas Wolfram seine Modulation exakt an die Melodiebögen der orientalisch orchestrierten Tanznummer an und gibt so auch stimmlich perfekt den verführerischen arabischen Lebemann. Parallel zum Sologesang führt er das Tanzensemble mit exakt ausgetanzten Bewegungen von faszinierender Eleganz und zeigt Körperspannung bis in die Fingerspitzen. Nach seiner Krönung wird Karims Lebensleichtigkeit zunehmend durch die Herrscherbürden erdrückt. Wolframs Stimmklang wird fast unmerklich härter, seine Mimik entschlossener. Seltsam distanziert erscheint er bei Marys Schändung, mit der er letztlich das Leben seines Freundes Rob rettet, der den Fauxpas beging, seinen Calaat abzulehnen – eine fabelhafte schauspielerische Leistung von Andreas Wofram. Im Duett „Alles nur ein Spiel“ prallen die unterschiedlichen Lebenseinstellungen der ehemaligen Freunde aufeinander, was durch die Choreographie eindrucksvoll visualisiert wird: Schwarz und weiß gekleidete Tänzer agieren mit ruckartigen Bewegungen als kämpfende Schachfiguren, Karim und Rob – ebenfalls in schwarz und weiß – fügen sich auf dem Schachbrett in die Reihen ihrer Figuren ein.
Überhaupt sind die Tanzszenen von Kim Duddy nicht nur ausgesprochen einfallsreich choreografiert, sondern auch mit viel Liebe zum Detail ausgearbeitet. Gleiches gilt für Ulli Kremers Kostüme, die mit Material- und Farbvielfalt bestechen. Die Zimmerleute, alle in gedeckten Tönen, schwingen den Hammer und zeigen mit bedrohlich gespreizten Fingern auf Agnes Cole. Beim Bader geht’s dagegen lustig zu: Ob hinkend oder mit Zahnschmerzen, am Ende tanzen alle übermütig mit einem Fläschchen Universal-Spezifikum. Besonders schön wird das Miteinander der Kulturen im Winterquartier dargestellt: Jüdische Kaufleute in langen weißen Gewändern und Gebetsschal bewegen sich synchron zu Klezmerklängen, in die sich orientalische Töne und leicht bekleidete orientalische Damen mischen, dazu gesellen sich Reisende aus aller Herren Länder, die beim Wirt die Krüge heben – voller Elan zuerst, und dann, als der Winter lang wird, nur noch in Zeitlupe.
Zögerliche Schritte sind auch alles, was Mirdin sich beim Fest auf dem Maidan traut. Herrlich, wie Lutz Standop zwischen all‘ den leichtfüßigen Tänzern verlegen an Karims Seite herumstolpert und dabei mit grandioser Mimik erkennen lässt, dass der strebsame Student das ungewohnte Treiben doch sichtlich genießt. Energisch und selbstsicher zeigt Mirdin sich stets, wenn es gilt, jemandem zu helfen. Standops Darstellung ist geprägt von Authentizität und großer Natürlichkeit, auch Mirdins Tod spielt er mit kraftloser, brechender Stimme ergreifend realistisch. Obwohl das „Jüdische Gebet“ nur kurz ist, wird dieses Solo durch Lutz Standops klaren und hervorragend geführten Tenor zu einem außergewöhnlich berührenden Moment. Ebenfalls ein gesanglicher Glanzpunkt ist die sofort ins Ohr gehende Midtempo-Nummer „Unter diesem Dach“, in der sich die Stimmen von Andreas Wolfram, Lutz Standop und Friedrich Rau zu einem fulminanten Terzett vereinen.
In der Titelrolle zeigt Friedrich Rau eine auf ganzer Linie fantastische Leistung. Durch sein stimmiges Spiel und seinen energiegeladenen Gesang macht Rau alle Entscheidungen und Handlungen des Rob Cole nachvollziehbar. Mit jungenhaftem Charme jongliert er als Badergehilfe mit Äpfeln und den Herzen der Patientinnen und renkt nebenbei mal eben eine ausgekugelte Schulter ein. Doch mit der „Gabe“, die der ausgefuchste Bader als medizinische Garantieleistung nutzt, kann Rob sich nicht abfinden. Rau durchleidet mit leidenschaftlicher Mimik und Gestik Robs ganzes Entsetzen, seine Hilflosigkeit und die zunehmende Wut angesichts dieser Fähigkeit. Mit dem Schlüsselsong „Mein Weg“ lösen sich diese Emotionen für Rob in der Erkenntnis, dass nur mehr Wissen ihm inneren Frieden geben wird. So trifft er die Entscheidung, sich auf den Weg nach Isfahan zu machen. Friedrich Raus Poptenor passt ideal zur Komposition, mit seiner gekonnten Phrasierung verleiht er sowohl „Mein Weg“ als auch „Ich muss es tun“ noch mehr Intensität: ein sich stetig steigerndes Crescendo, das unterbrochen wird von leisen Passagen, die wie ein kurzes Innehalten wirken. Diese Sanftheit kommt auch im Duett „Wenn die Sterne mit uns sind“ mit Sabrina Weckerlin zum Ausdruck. Beide Stimmen harmonieren glänzend.
Sabrina Weckerlin als Mary Cullen versteht es, jede Sekunde ihrer eher knappen Bühnenzeit zu nutzen. Die fürsorgliche Tochter spielt sie ebenso vortrefflich wie das fröhlich-ausgelassen tanzende junge Mädchen oder später die als Sklavin verkaufte Frau, die dennoch stets ihre Würde wahrt. Die aufkeimenden Gefühle zwischen ihr und Rob vermitteln beide ohne Pathos und gerade dadurch sehr glaubhaft. Sabrina Weckerlins unverwechselbare Stimmfarbe und ihre ausdrucksstarke Interpretation machen „Kilmarnock“ zu einem Lied, das nachhallt. Ihre humorvolle Seite kann Weckerlin im Duett mit Devi-Ananda Dahm zeigen, die als Mirdins Frau Fara sofort mit ihrer heiteren Ausstrahlung und schöner Stimme für sich einnimmt. Beim Backen der Challot versichern sich die jungen Frauen gegenseitig, dass „Ein Arzt in der Familie“ einfach unbezahlbar ist.
Solche fröhlichen Sequenzen lockern den ernsten Plot ab und zu angenehm auf. Regisseur Holger Hauer versteht es zudem, augenzwinkernde Kleinigkeiten einzubauen, wie die in rasantem Tempo „persisch“ parlierenden Teppichhändler Hassan und Abdul (klasse: Chadi Yakoub und David Rodriguez-Yanez) oder Mirdins kräftiger Schluck aus dem Weinbecher, genau in dem Moment, als Karim die Bedeutung der Blut schlürfenden Rukh-Krieger beim Schach erklärt. Hier zeigt sich die Liebe zum Detail und die Sorgfalt, die in der gesamten Inszenierung spürbar ist und nicht zuletzt in der bemerkenswert gut gewählten Besetzung auch kleinerer Rollen Ausdruck findet.
Sebastian Lohse verkörpert zunächst den nach außen hin recht grob gestrickten, aber herzensguten Bader. Beim schwungvollen „Für Leib und Seele“ punktet Lohse mit seiner speziellen „Mischung aus Magie und Medizin“ und überzeugt sowohl stimmlich als auch schauspielerisch. Seine enorme Wandlungsfähigkeit beweist er später als Quandrasseh, dem furchteinflößenden Mullah, der sich als Wächter über die muslimischen Gesetze sieht und mit unheilverheißender Donnerstimme alle verflucht, die auch nur daran denken, diese zu übertreten.
Léon van Leeuwenberg meistert mit Bravour drei unterschiedliche Rollen: Marys Vater, den schottischen Schafzüchter Cullen, den fiesen Bukerel und den intriganten Großwesir. Thomas Christ gibt den geschäftstüchtigen Wirt im Winterquartier und Martin Ruppel, Farid Halim und Claus Opitz die nicht minder geschäftstüchtigen Juden. Eine wunderbare Ballade singt Dorothea Maria Müller als Robs Mutter Agnes. „Verliert den Glauben nicht“ ist ein eindringlicher Appell an ihre Kinder, der vor ihrem Tod beginnt und danach auf einer zweiten Bühnenebene beendet wird.
Auffallend anders inmitten der eher pop-orientieren Stimmen klingt der weise Ibn Sina. Reinhard Brussmann singt den „Arzt aller Ärzte“ geradezu sensationell, mit klassisch geschultem Bariton, der eine einmalig schöne Klangfarbe aufweist. Brussmanns „Nimm die Last von meinen Schultern“ ist an tiefer, echter Emotionalität, die frei von jeglicher Rührseligkeit bleibt, kaum noch zu überbieten. Würdig schreitet Brussmann durch die Madrassa, entschlossen und mutig nimmt er die Schuld auf sich, als die geöffneten Leichen entdeckt werden. So billigt er letztlich Robs eigenmächtiges Handeln und findet in ihm seinen würdigen Nachfolger, der „die Wahrheit durch die Zeit“ trägt.
„Der Medicus“ ist großes Musiktheater, in dem sich Musik, Tanz und Schauspiel zu einer spannenden und zugleich anspruchsvollen Geschichte um Toleranz, Freundschaft und Selbstfindung verbinden. „Dies ist mein Weg“ wird es beim Musicalpublikum wohl auch 2017 heißen: A7, Ausfahrt Fulda. Die Wiederaufnahme ist bereits beschlossen. Und das ist gut so.
Text: Sylke Wohlschiess
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