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Schicksalsmomente:
Rezension „Fate & Failure“ in Ettlingen

Das Schicksal. In welchem Maß kann man es beeinflussen? Und an welchem Punkt endet die Macht der eigenen Entscheidungen? Diese Fragen lässt Autor und Komponist Johannes Günther die Personen in seinem Musical „Fate & Failure“ durchleben. Mit einem Ensemble fast ausschließlich aus Laien und semiprofessionellen Darstellern bringt Günther eine dramatische Geschichte auf die Bühne der Ettlinger Stadthalle.

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Im Jahr 1835 lebt Jonathan mit seinen Freunden Megan und Andrew in einem Londoner Waisenhaus. Er wird von einem wohlhabenden Ehepaar adoptiert, das um seinetwillen den leiblichen Sohn Cedric vernachlässigt.

Auf seiner Verlobungsfeier trifft Jonathan nach Jahren zufällig wieder auf Megan, die als Dienstmädchen engagiert wurde. Die ewige Freundschaft, die sich die beiden als Kinder geschworen haben, wird zu einer Leidenschaft ohne Zukunft. Jonathan fügt sich in eine arrangierte Ehe, um seine Karriere nicht durch eine Heirat unter seinem Stand zu gefährden. Megan bleibt die Freundschaft zu Andrew, von dessen tiefer Liebe zu ihr Megan aber nichts ahnt.

Diese Dreiecksgeschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, die in der Gegenwart spielt: Weil Samuel sich mehr für Bücher als für ihre Beziehung begeistert, wirft Linda ihn hinaus. Er vergisst das jüngst erstandene alte Tagebuch, in dem Linda laut zu lesen beginnt. Allmählich übernimmt eine männliche Stimme, eine schreibende Feder wird an die Bühnenrückwand projiziert und ein alter Mann, mühsam am Stock gehend, betritt die Szenerie. Er blickt auf drei im Vordergrund spielende Kinder: Megan, Andrew und er – Jonathan – selbst.

Diese Rückblende als Übergang zur eigentlichen Geschichte wirkt durch exakte Tonführung und Ausleuchtung fast wie eine filmische Überblendung. Auch Jonathans Tagebuch wird gekonnt immer wieder in die Handlung eingebaut und durch die Jahre weitergereicht. Weniger gelungen ist im ersten Akt die Aneinanderreihung unnötig vieler Einzelszenen aus einer relativ kurzen Lebensphase der Protagonisten – dies führt zu erheblichen Längen. Dann wiederum werden Jahrzehnte nur im Zeitraffer aus dem Tagebuch vorgelesen, was etwas überstürzt wirkt. Besser verteilte „Haltepunkte“ auf den Lebenswegen der Figuren hätten den Ablauf stimmiger gestaltet. Auch wenn der Autor aufzeigen möchte, dass die eigene Lebenseinstellung eine entscheidende Rolle spielt, so sind die Charaktere doch sehr schablonenhaft gezeichnet und erfahren im Verlauf der Geschichte keine nennenswerte Weiterentwicklung.

Jonathan, durch Adoption in ein Leben in Wohlstand katapultiert, wird trotzdem nicht glücklich. Zeitlebens bleibt er angepasst, entscheidungsschwach und depressiv, was sich in Texten wie „Wird mir mein Leben am Ende zu viel?“ manifestiert. Er wird in eine standesgemäße Ehe mit Elisabeth gedrängt, für die er nichts empfindet, die ihn aber ehrlich liebt. Dieser Tochter aus gutem Haus verleiht Aline Münz mit ihrer Darstellung die perfekte damenhafte Haltung. Erst nach Jahren zieht Elisabeth die Konsequenzen und beschließt mit dem von Münz schön gesungenen „Wenn Liebe vergeht“, Jonathan zu verlassen. Doch auch Megan ist nicht mehr bereit, auf ihn zu warten. So verliert er durch Zaudern und Zögern beide Frauen. Johann Günther spielt seine Hauptfigur mit schmerzvoller Leidensmiene und flehend erhobenen Händen. Als Autor, Komponist und Hauptdarsteller in Personalunion hat er offensichtlich die Lieder Jonathans exakt seinem Stimmumfang angepasst. Günther gefällt in den mittleren Tonlage mit angenehm warmem Klang, viel tonaler Spielraum bleibt aber nicht.

fate02Deutlich mehr Vielfalt in Stimme und Schauspiel zeigt Patrick Nitschke als Andrew. Als Kind schon der Dritte im Bunde, bleibt er Megan zeitlebens in unglücklicher Liebe verbunden, versinkt jedoch im Gegensatz zu Jonathan nicht in Selbstmitleid, sondern versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Er bewahrt sich eine lebenslange Freundschaft zu Megan. Andrews Gefühlswelt spiegelt sich in Nitschkes sicher geführtem Bariton ebenso, wie in seiner wohl gesetzten Mimik und Gestik. Seine Soloballaden „So sehr lieb‘ ich dich“ und „Tief in mir liegt ein Schatz verborgen“ zählen zu den musikalisch schönsten Momenten. Dass er auch die aggressivere Gangart beherrscht, zeigt Patrick Nitschke bei „Dreck“, einer Ensembleszene, bei der er von einer Empore aus einen Aufruhr unter den Bürgern anstachelt. Staging, Kostüme, Choreographie und Musik erinnern hier überdeutlich an „Milch“ aus „Elisabeth“. Die Ohrfeige, die Andrew völlig entnervt am Schluss dem ewig jammernden Jonathan (fast möchte man sagen endlich) verpasst, macht klar, wie sehr Andrew missbilligt, dass Jonathans Charakterschwäche auch Megans Leben erschwert hat.

Denn Megan liebt Jonathan, obwohl er sich nie zu ihr bekennt und sie das gemeinsame Kind in ärmlichen Verhältnissen alleine großzieht. Die Entschlossenheit, mit der Megan schon in der Kinderzeit den Freunden zur Seite stand und ihnen Lesen und Schreiben beigebracht hat (wunderbarer Text: „Dem der schreiben kann, gehört die ganze Welt“), behält sie bei. Ausgesprochen authentisch spielt Gitte Pleyer diese selbstbewusste und selbstbestimmte Frau, die nicht an ihrer unglücklichen Liebe zerbricht, sondern durch ihre positive Einstellung trotz aller Widrigkeiten ein zufriedenes Leben führt. Im fröhlichen „Zu leben ist schön“ kommt dies auch stimmlich gut zum Ausdruck. „Wenn die Nacht kommt“ - der Moment, als Megan nach vielen Jahren letzlich doch eine Entscheidung von Jonathan fordert - intoniert Gitte Pleyer leicht und anmutig, mit klaren, sicher gehaltenen Tönen.

Regisseur Werner Köhler leistet hervorragende Arbeit und überzeugt mit schlichten und gerade dadurch besonders eindrücklichen Akzenten. So trägt Megans Tochter Sarah das gleiche Kleid wie Megan als Kind. Zu Beginn des zweiten Aktes, als das gesamte Ensemble auf der Bühne steht und Linda vom Tod einzelner aus dem Tagebuch vorliest, drehen sich die gestorbenen Personen mit dem Rücken zum Publikum. Kreativ der Einfall, Jonathan auf der Bühne von den „Schicksalen“, die deutliche Parallelen zu den Todesengeln in „Elisabeth“ aufweisen und wie diese in entscheidenden Momenten am Rand des Geschehens auftauchen, schminken und dadurch altern zu lassen.

fate01Gut gemacht ist auch der Kontrast zwischen der pompösen Trauerfeier für Jonathans Vater Arthur (ganz der keinen Widerspruch duldende Patriarch: Rüdiger Günther) mit einem grandios vom ganzen Ensemble gesungenen Requiem, und der schnellen Beerdigung von Cedric. Dessen Verzweiflung und Verlassenheit bringt Patrick Rittershofer in einer ergreifenden Interpretation von „Mein Gott warum“ zum Ausdruck, stimmlich transportiert er die Emotionen, die in seinem Schauspiel eher verhalten bleiben. Das Buch thematisiert in keiner Weise, warum Cedric als leiblicher Sohn so massiv hinter Adoptivsohn Jonathan zurückgesetzt wird, dass er sich letztlich sogar das Leben nimmt. Sicher einer der Punkte, die man überarbeiten könnte.

Gleiches gilt für die Songtexte, die vor allem in den Endsilben nicht immer harmonisch mit dem Melodiefluss einhergehen, sondern des Öfteren eher zwanghaft gereimt wirken. Trotz einzelner schöner Sprachbilder geraten die Texte der Lieder mehrheitlich eher beschreibend. Gefühle werden mit Worten wie „Wenn Liebe vergeht, steht man hilflos da“ erklärt, statt sie mit poetischeren Bildern zu visualisieren.

Die variantenreichen Kompositionen sind eine Stärke des Musicals und reichen von fröhlichen, fast hüpfenden Melodien wie „Wasser schmeckt so gut wie Wein“ über harmonische Duette bis zu Uptempo-Nummern und Balladen mit Ohrwurmcharakter. Schade nur, dass ab und an der musikalische Spannungsbogen unvermittelt abbricht, um sofort die nächste Szene anzuschließen. Etwas mehr Ruhe im szenischen Ablauf würde die eingängigen, sehr schönen Melodien noch besser zur Geltung bringen.

Liebevoll ausgearbeitet und zeitgemäß sind die Kostüme. Durch unterschiedliche Farbgebung werden verschiedenen Stimmungen oder Situationen verdeutlicht. Schwarze, braune und graue Kopftücher und Röcke bei „Dreck“ vermitteln die aus Trostlosigkeit entstehende Wut, Frauen in bunten Kleidern wirbeln ausgelassen über die Bühne, als die Braut eingekleidet wird. Edles Tuch, Spitze und Perlen schmücken die bessere Gesellschaft, die Waisenkinder tragen etwas zerlumpte, aber ordentliche Kleidung.

Die rund 20 Kinder sind mit allergrößtem Eifer bei der Sache und spielen so unbefangen und frei, dass man sich direkt ins London des 19. Jahrhunderts versetzt fühlt. Auch die Chorgesänge gelingen hervorragend. Dass die einzelnen Stimmen (noch) keine Solopartien tragen und in der Musik etwas untergehen, ist nicht weiter tragisch. Mit einem ein Live-Orchester mitzuhalten, ist natürlich auch nicht so einfach, zumal die achtköpfige Band unter Musikalischer Leitung von Patricia Sander am Piano alles gibt und mit viel Druck und Tempo spielt.

Nicht vergessen darf man, dass es sich um eine Laienproduktion handelt, unterstützt lediglich durch einige Profis. Die Macher können dem eigenen hohen Anspruch vielleicht noch nicht in allen Facetten hundertprozentig gerecht werden, aber „Fate & Failure“ ist als eigenständiges, neues Drama-Musical mit eigens erdachter Handlung und gelungenen Kompositionen auf jeden Fall eine willkommene, interessante Bereicherung des Genres.

Text: Sylke Wohlschiess

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