Love, Peace and Happiness:
Rezension Musical „Hair“ in Jagsthausen
27.06.2018 - Langhaarige Gestalten in eigenwilliger Kleidung bevölkern die altehrwürdige Götzenburg in Jagsthausen. Es wird geliebt, gekifft und gesungen. Vom Zeitalter des Wassermanns, von Haaren und von der nie endenden Suche nach Love, Peace and Happiness in einer Welt, in der so manches im Argen liegt. Damals in den späten 1960ern ebenso wie heute. „Hair“, das Musical von Gerome Ragni und James Rado (Libretto) sowie Galt MacDermot (Musik), ist Auflehnung gegen überholte gesellschaftliche Normen, Krieg und Gewalt. Und deshalb heute ebenso aktuell wie bei der Uraufführung am Broadway im Jahr 1968.
Insofern ist auch die Entscheidung von Regisseur Franz-Joseph Dieken plausibel, die Handlung über eine Art Zeitraffer in die Gegenwart zu ziehen: Man hört Martin Luther Kings berühmten Satz „I Have A Dream“, erlebt den ersten Schritt eines Menschen auf dem Mond – und sieht sich dann unvermittelt einem 12-fach duplizierten Donald Trump gegenüber. Der Aha-Effekt nutzt sich durch Wiederholung im Lauf des Stücks ein wenig ab, wenngleich Rüdiger Hellmann als amtierender US-Präsident und vor allem Isa Weiß als Trump-Gattin Melania in Gestik und Gebaren herrliche Karikaturen der Originale abgeben. Was jedoch neben der etwas bemüht wirkenden Modernisierung der Jugendsprache wirklich stört, ist die Vehemenz, mit der die Tribe-Mitglieder immer wieder gegen zu fettes Essen, Shoppingwahn und Umweltverschmutzung wettern. Die Intention des Regisseurs ist nachvollziehbar, doch leider geht mit dem überdeutlich erhobenen moralischen Zeigefinger viel von der fast mystischen Leichtigkeit verloren, die „Hair“ trotz des ernsten politischen Hintergrunds auszeichnet. Das „alles-ist-möglich-Gefühl“ wird erstickt von einer stellenweise fast bleiernen Schwere – und zu dichten Nebelschwaden bei „Air“.
Dass es letztlich doch gelingt, die Zuschauer mitzunehmen, liegt an der stark spielenden Band, die MacDermots rockige, vielseitige Kompositionen druckvoll umsetzt, und an den sehr guten Leistungen der Darsteller.
Die schwerste Aufgabe fällt Martin Markert als Berger zu. Mit unerschöpflicher Energie saust er von links nach rechts, ist stets präsent, aber nie zu dominant. Markert trifft mit seiner Interpretation den Rollencharakter absolut perfekt. Berger ist kein gewählter Anführer. Er wird von den anderen aufgrund seines lebhaften Charmes und seiner positiven Ausstrahlung als natürlicher Mittelpunkt wahrgenommen, bleibt aber immer ein Teil des Ganzen. So fügt sich Martin Markert in den Ensemblenummern harmonisch ein und überzeugt mit starkem Rocktenor in allen Soloparts.
Eine weitere schillernde Persönlichkeit des Tribe ist Hud. Ob mit weit aufgerissenen Augen im Drogenrausch oder in gerechtem Zorn angesichts der Unterdrückung der Afroamerikaner: Felix Frenken spielt mit der nötigen Portion Aggressivität und brilliert mit ausdrucksstarker Mimik vor allem im Antikriegssong „Three-Five-Zero-Zero“. Er propagiert die „United States Of Love“ und ist strikt gegen jede Form von Gewalt. Das gilt natürlich für den gesamten Tribe, auch für Woof. Sebastian Smulders begeistert mit lässiger Attitude und schöner Stimmfarbe, bei „White Boys“ zudem mit gelungenen Wechseln zwischen Kopf- und Bruststimme. Mit ausgesprochen angenehmer Stimme fällt auch Matias Lavall auf, dem man noch den einen oder anderen Gesangspart mehr gewünscht hätte.
Sichtlich wohl in seiner Rolle fühlt sich David Wehle als Claude. Claude, Sohn aus gutem Hause mit Musterungsbescheid in der Tasche, stößt auf die Gruppe. Seine lässig umhängende Gitarre signalisiert schon, dass zwar sein Äußeres deutlich konservativer als das der ausgeflippten Hippies ist, aber seine innere Einstellung sich womöglich gar nicht so sehr unterscheidet. Bei „Manchester, England“ greift er selbst in die Saiten und wird sogleich in die Gemeinschaft integriert. David Wehle überzeugt sowohl gesanglich als auch mit authentischem Spiel, das seinen Höhepunkt im gelungen interpretierten „Where Do I Go“ findet.
Die emotionalen Momente sind vor allem den Damen vorbehalten, die allesamt glänzende Leistungen abliefern. Elena Otten als Sheila singt mit klangschönem Sopran ein berührendes „Easy To Be Hard“, das sie mit intensiven Blicken unterstreicht. Melissa Holley greift zur Akustikgitarre und interpretiert mit Hingabe Chrissys Solo „Frank Mills“. Die hochschwangere Jeanie wird von Luisa Meloni mit einer bezaubernden Aura unschuldigen Charmes umgeben. Valerija Laubach gelingt es, Dionnes kämpferisches, emanzipiertes Wesen mit Nachdruck zu vermitteln. Kraftvoll und eindringlich klingen Lisa Huks Parts als Ronny bei „Aquarius“. Der Kopfschmuck mit blauen Federn passt in dieser Szene auch optisch prima.
Ansonsten sind die von Volker Deutschmann entworfenen Kostüme vor allem eins: bunt. Teils erinnern Fransenjacken, Blumenstickereien und Schlaghosen tatsächlich an Hippieoutfits, teils wähnt man sich angesichts von Pailletten, Gold und Glitzer eher in einer Diskothek. Bei „Be-in/Hare Krishna“ schleicht sich unter die orange gewandeten Glaubensanhänger ein farblich passender Müllmann, der zum Mantra mitschwingt. Der optischen Vielfalt der Hippies als Visualisierung von Individualität steht das einheitlich in Karo und gedeckten Farben gekleidete Establishment gegenüber, zu dem auch Claudes Eltern gehören. Die Parallelszenen, in denen sie auf den hinteren Bühnenpodesten auftauchen und mit Unverständnis auf Claudes Verhalten reagieren, werden durchbrochen, indem Tribemitglieder sie direkt ansprechen. Mehr Bühnenbild als diese mit Fransen eingefassten und mit teppichartigen Mustern bemalten Podeste gibt es nicht. Da „Hair“ ohne festen Handlungsstrang Szenen aneinanderreiht, wären ein paar Requisiten zur Verdeutlichung der verschiedenen Schauplätze sicher nicht verkehrt gewesen.
Wobei eine besonders schöne Szene auch ohne Bühnenbild wunderbar funktioniert: Als Claude vor seinem Eintritt in die Armee mit den anderen seinen „letzten Abend in Freiheit genießt“, werden am Lagerfeuer leise „California Dreamin‘“ und „Yesterday“ angestimmt. Eine entspannte, friedvolle Stimmung breitet sich aus. Die Ruhe vor dem Feuersturm, in dem Claude in Vietnam fällt.
„Hair“ bei den Burgfestspielen Jagsthausen punktet vor allem mit großartig gesungenen Ensemblenummern und einer durchweg starken Darstellerriege. Die Regie macht es dem Publikum nicht einfach, positive Grundstimmung aufkommen zu lassen. Aber im Finale singt man dann doch gemeinsam ein befreiendes „Let The Sunshine In“. „Hair“ ist ein Ruf nach Freiheit, nach Toleranz und einem friedlichen Zusammenleben aller Menschen. Möge dieser Ruf nie verstummen.
Text: Sylke Wohlschiess
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