Lohnenswerte Seereise:
Rezension "Die Schatzinsel" in Hameln
Finstere Piraten, eine geheimnisvolle Karte und die gefährliche Suche nach einem verschollenen Schatz – das allein verspricht schon gute Unterhaltung. Dennis Martins Musical „Die Schatzinsel“ ist jedoch weit mehr als nur eine Seeräubergeschichte. Durch die Verflechtung des Schatzinsel-Abenteuerromans mit der Biographie des Autors Robert Louis Stevenson entsteht eine zweite Handlungsebene und dadurch eine ausgesprochen spannende Dramaturgie.
Drehkonstruktion, außen ein Holzgerüst, das mit Leitern und Steuerrad als Schiffskulisse dient, innen eine Projektionsfläche. Dort erscheinen szenisch passend Kneipenwand, der Blick durch ein Fenster in Fontainebleaus Gärten oder eine Hafenkulisse. Davor führen drei Stufen auf eine Plattform, die als kleine zweite Spielebene dient. Der gezielte Einsatz von Requisiten wie Schiffsnetzen, Kneipenmobiliar oder Modellschiffen, die Stevensons Elternhaus schmücken verbindet Projektionen und Bühnenbild.
Dass sich auf der kleinen Bühne im Theater Hameln Piraten und Literaten nicht in die Quere kommen, dafür sorgt Regisseur Christoph Jilo mit klar strukturierten Abläufen. Egal, ob der anfangs (vermeintlich) erschossene Ben Gunn in der Folgeszene als Louis Stevenson in seinem Edinburgher Zuhause aufwacht, oder dieser den Schreibblock in die Tasche steckt und gemessenen Schrittes als Dr. Livesey in Mrs. Hawkins‘ Kneipe ankommt, die Übergänge sind klar herausgearbeitet. Halb aufgezogene Vorhänge geben den Blick auf neue Schauplätze frei, eingefrorene Szenen erwachen zum Leben. Gerade noch steht Louis in hellem Scheinwerferlicht schreibend an der Seite, dann wird der bühnenbreite Vorhang mit der Projektion einer riesigen Schatzkarte beiseite gezogen und man erlebt den Fortgang der Piratengeschichte.
Durch exaktes Timing in Zusammenspiel mit David Kachlirs Lichtdesign und Petr Hlouseks Videoanimationen gelingen elegante Wechsel zwischen den Handlungsebenen. Im Verlauf des Stücks geht es immer schneller zwischen Realität und Fiktion hin und her, Lieder reichen oft nicht nur über verschiedene Szenen, sondern über beide Zeitlinien. Personen aus Stevensons Lebensumfeld dienen als Vorlage für seine Romanfiguren, Doppel- oder sogar Dreifachrollen entstehen, denen man die „Verwandtschaft“ deutlich anmerkt.
Besonders schön gelingt dies mit Vater Stevenson, dessen Credo „Ich bin das Kommando“ auch bestens zu Kapitän Smollett passt. Norbert Lamla gibt durch seinen charaktervollen Bass-Bariton sowohl den Liedern als auch den Sprechpassagen beider Rollen eine unverwechselbare Prägung: kompromisslos, unnachgiebig, nicht besonders tolerant, gleichzeitig aber auch rechtschaffen, zielstrebig und fair. Mit wie zufällig wirkenden schauspielerischen Nuancen - einer Hand auf der Schulter des Sohnes oder einem nachdenklichen Blick - lässt Lamla sehr gekonnt stets unterschwellig durchklingen, dass Louis‘ Vater tief im Inneren weit weniger streng ist, als er sich ihm gegenüber gibt.
Den Part mit der größten Bandbreite hat sicherlich Friedrich Rau zu meistern. Als Autor Louis Stevenson verliebt er sich in die verheiratete Fanny Osbourne. Über das gemeinsame Faible für Piratengeschichten gewinnt er das Herz ihres Sohnes Lloyd – für ihn schreibt er „Die Schatzinsel“. Schon auf der Biographie-Ebene spielt Friedrich Rau Stevensons verschiedene Charakterzüge klar heraus: Den gegen den Vater aufbegehrenden Sohn mit trotzig verschränkten Armen, den weltoffenen Künstler mit lockeren Sprüchen und geradezu entrücktem Gesichtsausdruck, sobald er zum Schreibblock greift. Mit jungenhaftem Charme nimmt er nicht nur Lloyd für sich ein, sondern auch Fanny. Dennis Martins Kompositionen nehmen in ihrer Dynamik die jeweilige Lebenssituation auf. Stimmlich zeigt Friedrich Rau sich auffallend locker, souverän interpretiert er sowohl das schwungvolle Solo „Es lebe die Bohème“, als auch die gefühlvollen Duette.
Als Dr. Livesey behält er Louis‘ Wesensart, seine angeschlagene Gesundheit und natürlich seine Verliebtheit in Fanny, die in der Piratengeschichte zu Mrs. Hawkins wird. Ihr gegenüber nimmt er – wohl analog zu Louis‘ Wunschdenken – eine Art Beschützerrolle ein. Der Übergang wird nur deutlich durch eine etwas steifere Körperhaltung und den Wechsel der Jacke. Sehr viel drastischer verläuft die Transformation in den auf der Schatzinsel zurückgelassenen Ben Gunn. Friedrich Rau besingt mit „Gestrandet“ zunächst Louis‘ Verzweiflung über Fannys Zurückweisung: Vergebens ist er um die halbe Welt gereist, Fanny will an ihrer Ehe festhalten. Trauer wandelt sich in Wut, mitten im Song wechselt die Handlungsebene und die realen Gefühle finden in dem durchgeknallten, von Rachedurst zerfressenen und vor Einsamkeit fast wahnsinnig gewordenen Ben Gunn ein Ventil. Friedrich Rau macht „Ich bin der Herr der Insel“ mit grandiosem Rock-Tenor und expressivem Spiel inkulsive irrem Gelächter, wild rollenden Augen und blutbeschmiertem Oberkörper zum absoluten Highlight.
Ebenso beeindruckend schreitet Long John Silver alias Andreas Lichtenberger durch Bristols Hafen und die Planken der „Hispaniola“. Sein Holzbein lässt ihn nicht etwa gebrechlich, sondern nur noch furchteinflößender wirken. Andrea Kucerová und Elke Quirmbach haben hier mit Kostüm und Maske ganze Arbeit geleistet. Lichtenbergers Bühnenpräsenz ist raumfüllend, sein Stimmvolumen ebenso. Ob er mit dröhnendem „Hihoo“ das Ensemble anführt oder wild entschlossen „Alles auf eine Karte“ setzt, Andreas Lichtenberger verfügt über einen auffallend voluminöse und perfekt geführten Bariton. Er mimt den Anführer der Piraten mit einer guten Portion Sarkasmus und herrischen Kommandos, die er auch gerne mit einem Wink seiner Krücke unterstreicht. Dass Silver auch eine andere, verborgene Seite hat, zeigt sich im Umgang mit Jim. Hier wird der Ton väterlich-rau, die Gesten beschützend. „Das ist mein Junge“ singt Silver – und erst ganz zum Schluss findet auch diese Rolle ihre Entsprechung in der Wirklichkeit und Silver wird zu Sam Osbourne, Lloyds Vater.
Lloyd Osbourne ist fasziniert von Louis‘ Erzählkunst. Er findet in Louis einen väterlichen Freund, von dem er sich verstanden und ernst genommen fühlt. Paula Weber spürt sich von Minute zu Minute mehr in die Rolle hinein. Ihr gelingen auch die Übergänge in ihren Schatzinsel-Part, in dem Lloyd zu Jim Hawkins wird, der durch einen Zufall in den Besitz der Schatzkarte kommt und unerschrocken mit zur Insel segelt. Ob Jim oder Lloyd, Paula Webers Spiel wirkt sehr natürlich. Mit klarer Stimme und gut gesetzter Betonung spricht sie einen bewegenden Schlussmonolog. Auch gesanglich lässt das Können der Dreizehnjährigen nichts zu wünschen übrig. Ihre Soloparts interpretiert sie sicher und vor allem bei „Irgendwo am Ende der Welt“ beweist sie im Duett mit Friedrich Rau auch viel Gefühl. Die Kinderrolle in der „Schatzinsel“ verlangt den jungen Nachwuchskünstlern einiges ab. Paula Weber meistert nicht nur die Herausforderung, sondern hat auch sichtlich Freude auf der Bühne.
Lloyds Mutter hat es als von ihrem Mann getrennt lebende Frau nicht gerade leicht. Sie fühlt sich zu Louis hingezogen, will aber ihrem Sohn nicht den Vater zu nehmen. Anna Thorén gibt ihrer Bühnenfigur Substanz und Tiefe. Sie verdeutlicht mit großem Einfühlungsvermögen Fanny Osbournes Konflikt zwischen Konvention und Gefühl. Der Rollenanteil, der in der Schatzinsel-Ebene spielt, ist gering, die Unterschiede zwischen Fanny und ihrem Roman-Ebenbild Mrs. Hawkins werden durch einen forscheren Schritt und einfachere Sprache klar. Eingängige Balladen wie „Haben wir noch den Mut zu träumen“ und „Übers weite Meer“ prägen die Rolle musikalisch. Anna Thorén macht diese mit sanfter, warmer Stimme und wunderschöner Klangfarbe zu großartigen Momenten.
Auch in den kleineren Rollen überzeugen die Darsteller. Frank Logemann mimt den Piraten Bones, der sein stotterndes Herz mit Rum und Schlägen wieder antreibt und später den sich ständig mit Silver streitenden Hands. Tamina Ciskowski gibt eine warmherzige, mitfühlende Mutter Stevenson. Marcus G. Kulp ehrt als Bürgermeister von Edinburgh den erfolgreichen Autoren und weiß nicht, dass er als Vorbild des trotteligen, reichen Squire Trelawney in die Schatzinsel-Geschichte eingegangen ist. Und dass unter der Maske des blinden alten Pew ein junger Darsteller wie Sascha Kurth steckt, würde man nicht annehmen, so gekonnt schleicht er gebeugt und schleppenden Schrittes durch Mrs. Hawkins Kneipe.
Nicht ganz so gekonnt erscheinen einige Ensemblenummern. „Dass sie sich nicht schämt“ greift das Geschnatter von Tratschweibern lautmalerisch auf, was zwar eine kreative Idee ist, aber nicht unbedingt zu einem schön anzuhörenden Lied führt. Bei „Bristol City“ wundert man sich über Countryklänge und -tänze. Michal Matejs Choreographie, die insgesamt eher einfallslos und nicht besonders gut ausgearbeitet wirkt, gerät hier gänzlich unpassend. Jederzeit stimmig sind dagegen Maske und Kostüme, die Piraten in rot-schwarz und mit wilden Mähnen, die Damen bodenlang mit Reifrock und Hochsteckfrisur. Dass die Musik nicht live gespielt wird, fällt durch Frank Hollmanns differenzierte Orchestrierung nicht allzu sehr ins Gewicht.
„Die Schatzinsel“ begeistert vor allem durch die fabelhafte Cast und die überaus gelungene Verzahnung der beiden Handlungsebenen. So wird aus einer bekannten Piratengeschichte ein neues, äußerst spannendes und unterhaltsames Musical, das durch das vielschichtige Beziehungsgeflecht auch inhaltlich Anspruch beweist. Eine Seereise, die sich lohnt.
Text: Sylke Wohlschiess
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Fotogalerie "Die Schatzinsel"
Interview mit Andreas Lichtenberger: "Es gibt für jeden eine Geschichte", zu seiner Rolle als Silver, Oktober 2016
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Darstellerprofil Anna Thorén
Darstellerprofil Friedrich Rau