Schwarz-Weiß:
Rezension „Chess" in Pforzheim
Es ist die Zeit des Kalten Krieges. Kapitalismus und Kommunismus, Ost und West prallen aufeinander. Die „Chess"-Autoren - bestens bekannt als musikalische Köpfe der schwedischen Kultband Abba - Benny Andersson (Musik) und Björn Ulvaeus (Musik und Liedtexte), sowie Tim Rice (Buch und Liedtexte), lassen den weltpolitischen Konflikt auf dem Schachbrett weiterbrodeln:
Bei der Schachweltmeisterschaft in Meran will der US-Amerikaner Frederick Trumper seinen Titel gegen den Russen Anatoly Sergievsky verteidigen. Trumper provoziert einen Eklat. Seine Freundin, die Exilungarin Florence Vassy, verliebt sich bei einem Vermittlungsversuch in Sergievsky. Dieser gewinnt das Match und verlässt ihr zuliebe seine Heimat, um künftig für die USA anzutreten. Trumper arbeitet fortan als Kommentator. Ein Jahr später treffen bei der Weltmeisterschaft in Bangkok alle wieder aufeinander.
Genauso schwarz-weiß wie die Schachfiguren zeichnet Regisseur Wolf Widder die Kontrahenten Trumper und Sergievsky, da kommt kein Vorurteil zu kurz.
Dies entspricht zwar der Art und Weise, wie das Stück angelegt ist, verursacht aber angesichts der aktuellen politischen Parallelen ein gewisses Unbehagen.
Chris Murray spielt expressiv, mit ausladenden Gesten und leidenschaftlichem Minenspiel. Mit hasserfüllt verkniffenem Mund und fast irre rollenden Augen visualisiert er die Emotionen des völlig überdrehten, exzentrischen Selbstdarstellers Frederick Trumper. Ein wenig übertrieben wirkt, wenn Trumper mit offenem Hemd hüftwackelnd auf dem Tisch tanzt. Murray arbeitet den Charakter des Enfant terrible auch ohne solche Plattitüden deutlich heraus und lässt bei „Pity the Child" mit sanften Tönen auch Trumpers verletzte Seele aufblitzen. Rollengerecht überwiegen jedoch die lauten, teils fast ins Dissonante übersteuerten Töne.
Die Kostüme unterstreichen die gegensätzlichen Charaktere: Trumper auffällig, in weißem Nadelstreifenanzug, mit wild gemustertem, offenen Hemd und protzigen Ketten, Sergievsky dagegen dezent in schwarzem Anzug, weißem Hemd und Krawatte.
Anatoly Sergievsky bleibt äußerlich ruhig und gelassen und hält sich bei Trumpers Provokationen so gut wie möglich zurück. Er kann aber seinen Gefühlen nur schwer Ausdruck verleihen; nur wenn er allein ist, lässt er die Sehnsucht nach seiner russischen Heimat zu. Entsprechend wohldosiert legt Andrea Matthias Pagani seine Darstellung und auch seine stimmliche Interpretation an. „Anthem" wird mit Paganis samtweicher Stimme und herrlich fließender Stimmführung zu einem der bewegendsten Momente. Beim Duett mit Femke Soetenga als Florence Vassy harmonieren beide wunderbar.
Im schrillen lila-weißen 60er-Jahre-Hosenanzug an Trumpers Seite, später im edlen schwarzen Kleid als Anatolys Freundin: Femke Soetenga wird allen Facetten der zwischen zwei Männern und somit unversehends auch zwischen zwei Machtblöcken stehenden Frau voll gerecht. Sie bildet Willensstärke, Mut und Verletzlichkeit gesanglich und schauspielerisch gleichermaßen authentisch ab. Ihre kraftvolle Interpretation der anspruchsvollen Pop-Melodien lässt keine Wünsche offen, sie begeistert mit klaren Tönen und einer beeindruckenden Balance aus Leichtigkeit und Stimmpower.
Zusammen mit Yvonne Luithlen als Sergievskys Frau Svetlana wird das bekannte, wie alle anderen Lieder auf deutsch gesungene „I know him so well" zu einem musikalischen Glanzpunkt. Soetenga und Luithlen ergänzen sich aufs Beste, intonieren mit Emotion und Hingabe. Luithlen überzeugt als entschlossene Frau, die um ihren Mann kämpft, böse Blicke zur Nebenbuhlerin und Verbündung mit dem russischen Regime in Person von Alexander Molokov inklusive.
Klaus Geber spielt absolut glaubhaft Sergievskys Sekundanten, der ihn gleichzeitig bespitzelt. Groß, weißhaarig, mit sonorem Bass und rollendem R, wirkt Geber ehrfurchtgebietend und von einer würdevollen Autorität. Auch der namenlose Schiedsrichter, er wird stets nur „Arbiter" genannt, ist mit Benjamin Savoie gelungen besetzt. Er kann nicht nur tanzen, sondern macht mit arroganter Miene auch zweifelsfrei klar, dass er sich als höchste Instanz betrachtet.
Das gilt im übertragenen Sinn auch für das Orchester, das auf einem geschwungenen Podest hoch auf der Bühne platziert ist. Durch die dadurch verkleinerte Spielfläche wirken Ensembleszenen wie beispielsweise „One Night in Bangkok" recht gedrängt. Zudem agiert das Ballett hier nicht wie zuvor in schnörkellosem Schwarzweiß-Outfit, sondern in orientalisch anmutenden Glitzerkostümen, was zusätzlich optisch unruhig wirkt. Das Ballett des Theaters Pforzheim begeistert jedoch mit der Präzision, mit der die von James Sutherland und Tu Ngoc Hoang choreographierten Schachpartien getanzt werden. Wenn Trumper wütend seine schwarzen Figuren vom Brett fegt und zeitgleich alle schwarz gekleideten Tänzer in Reih und Glied zu Boden fallen, ist dies ein starker Moment, in dem Tanz und Handlung eng verwoben sind.
In Bühnenbild und Kostümen finden sich verschiedene Variationen des Schachbrettmusters, was natürlich stimmig, wenn auch nicht gerade innovativ ist. Störend sind die Geräusche, die beim Hereinfahren eines großen, halbrunden Elements entstehen, in dem viele Szenen stattfinden. Dass die Bühnenarbeiter dabei auch mal mitten auf der Bühne werkeln, fällt außerdem unangenehm auf. Da gäbe es sicher auch ohne viel Technik elegantere Lösungen. Eine gute Idee dagegen ist der überdimensionale TV-Monitor, der von der Bühnendecke herabfährt und den Kommentator der Weltmeisterpartien zeigt. So wird noch einmal betont, dass Trumper nicht mehr selbst spielt, sondern in neuer Funktion in Bangkok weilt.
„Chess" ist sicher kein Highlight unter den vielen überdurchschnittlichen Pforzheimer Musicalproduktionen, aber die Darsteller und das unter bewährter Leitung von Tobias Leppert gewohnt souverän spielende große Orchester sind allemal Grund genug für einen Besuch, zumal die Eintrittspreise mehr als fair gehalten sind.
Text: Sylke Wohlschiess
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... und hier noch einige Szenenfotos aus "Chess":