Ganz einfach großartig:
Rezension Musical „Big Fish“ in Leinfelden
25.06.2019 – Musical-Rezension „Big Fish“ - Sommer 2019 - Open-Air im Theater unter den Kuppeln - Regie: Julia Brückner
„Wenn Du die Geschichten verstehst, verstehst Du den Menschen“. Bei Edward Bloom allerdings ist das gar nicht so einfach, denn in sein schrill-schillerndes Reich der Fantasie kann ihm kaum jemand folgen. Schon gar nicht sein schon als Kind durch und durch realistisch veranlagter Sohn Will. Erst als Edward im Sterben liegt, wagt auch Will den Sprung in die Welt der Hexen, Riesen und Werwölfe.
„Big Fish“ - der große Wurf am Theater unter den Kuppeln
Andrew Lippa (Musik und Songtexte) und John August (Buch) schufen auf Basis des Romans „Big Fish“ von Daniel Wallace im Jahr 2013 ein ungewöhnlich facettenreiches Musical, das nach seiner deutschsprachigen Erstaufführung im November 2016 nun als Open-Air-Produktion in Leinfelden-Echterdingen/Stetten zu sehen ist. Dass man im Theater unter den Kuppeln sehr gutes Musical von sehr guten Amateurdarstellern erlebt, ist inzwischen auch über die Region hinaus bekannt.
Mit „Big Fish“ ist der große Wurf gelungen. Man erlebt eine gleichermaßen faszinierende und berührende Inszenierung, vielleicht die bisher beste dieses engagierten Amateurtheaters, das man eigentlich gar nicht mehr als solches bezeichnen möchte. Grandiose Hauptdarsteller, ein stimmsicheres Ensemble, starke Tänzerinnen und ein hervorragendes Orchester: Der Leinfeldener„Big Fish“ schwimmt im ganz großen Teich. Oder anders ausgedrückt: Die Musical-Sommerproduktion 2019 im Theater unter den Kuppeln erreicht in weiten Teilen professionelles Niveau.
„Big Fish“ lebt von schnellen Wechseln zwischen Fiktion und Fakten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Drehbühne ermöglicht die dafür nötigen ebenso schnellen Wechsel der Schauplätze: Mit einer Umdrehung geht es vom Haus der Blooms in den Hexenwald, den Zirkus oder direkt in eine Rot-Weiß-Blaue Parade. An der Seite bleibt Raum für die Nebenschauplätze, wie Arztpraxen, Jenny Hills Haus und den Fluss, den Edward so liebt, vorne am Bühnenrand angedeutet durch ein blau beleuchtetes Fischernetz.
Das Team von Bühne, Requisite, Maske und Kostüm hat mit liebevoller Sorgfalt alle Szenen ausgestaltet. Auch an lustigen Details fehlt es nicht. So wackeln in Calloways von roten Vorhängen begrenzter Manege zwei riesige Elefanten-Hinterteile im Takt der Musik und der gefährliche Giftmörder Red Fang schleicht stilecht im knallroten Overall durch die Szenerie. Sich selbst übertroffen haben sich die TUDK’ler mit dem Schlussbild des ersten Aktes: Narzissen, soweit das Auge reicht. Auf einem riesigen Bild an der Mittelwand und als Treppenfolie. Wahre Blumenfluten in Körben und Gestecken. Durch die Luft wirbelnde und über die gesamte Bühnenfläche gestreute gelbe Pracht, verteilt vom komplett in Gelb gewandeten Ensemble. Ein wahrhaft magischer Theatermoment.
Darsteller auf Profiniveau
Warum gerade Narzissen ist schnell erklärt: Narzissen sind Sandras Lieblingsblumen. Als Edward ihr unzählige dieser gelben Blumen zu Füßen legt, hat er ihr Herz endgültig gewonnen. „Ich stelle mir so viele Sachen vor, ich wusste nicht, ob du real warst“ sagt die junge Sandra. Ohne viele Worte lassen die Autoren des Musicals so die Seelenverwandtschaft zwischen Sandra und Edward erkennbar werden. Mit fein dosiertem Schauspiel zeichnet Miriam Hernadenz das Bild einer starken Frau, die über all‘ die Jahre treu an Edwards Seite steht und in seinem Leben zum verlässlichen Ruhepol wird, zu dem er immer wieder zurückkehrt. Auch stimmlich überzeugt Miriam Hernandez. Im Solo „Es gibt zwei die wichtig sind“, lässt ihr gefühlvoller, sicher geführter Sopran sofort aufhorchen. Den Vergleich mit professionellen Sängerinnen braucht sie keinesfalls zu scheuen.
In ihrem Bemühen, zwischen Vater und Sohn eine Brücke zu schlagen, findet Sandra Bloom in Wills Ehefrau Josephine eine Verbündete. Josephine, mit großer Natürlichkeit von Irem Baskale dargestellt, erkennt die Poesie in Edwards Geschichten und den empfindsamen Menschen, der dahinter steckt. Irem Baskale verdeutlicht sehr gut, wie Josephine behutsam versucht, Will gegenüber seinem Vater nachsichtiger und verständnisvoller zu stimmen.
Für Will jedoch war und ist es nicht einfach, Edward zum Vater zu haben. Als Kind reagiert er mit fast gönnerhafter Herablassung auf Edwards Geschichten. Eigentlich hört der kleine Will ihm ja ganz gerne zu. Mehr allerdings wäre ihm daran gelegen, würde ihn sein Vater auch einmal bei einem Fußballspiel anfeuern. Will als Kind wird gespielt von Till Altmann, der zeigt, dass auch Kinderdarsteller perfekte Pointen setzen können. Mit bissigen Kommentaren, die Till mit übergroßer Brille und einer ebenso großen Portion Neunmalklugheit seinem Vater an den Kopf wirft, beweist er Edward gnadenlos, dass er sich so leicht kein X für ein U vormachen lässt.
Im Lauf der Jahre kippen Wills Gefühle für seinen Vater immer mehr ins Negative. Bei seiner Hochzeit entladen sich die aufgestauten Aggressionen in einem bitterbösen Streit. Colin Weitmann als erwachsener Will zeigt sich in Bestform: Reißt er sich zunächst um des Familienfriedens willen noch merklich zusammen, treiben ihn Edwards anmaßende Art und Uneinsichtigkeit fast gegen seinen Willen zur Weißglut. Mit vor Wut blitzenden Augen fährt er seinem egozentrischen Vater über den Mund. Der Streit wirkt geradezu erschreckend real. Weil er auch die ruhigen Momente mit großer Eindringlichkeit darstellt, gelingt es Colin Weitmann, die komplizierte Vater-Sohn-Beziehung aus Wills Sicht schauspielerisch klar herauszuarbeiten und letztlich auch sein Umdenken authentisch zu vermitteln. Auch stimmlich gefällt sein klarer, sehr hoher Tenor. Mit „Seltsam“ und „Was jetzt“ bringt Colin Weitmann Wills Gefühle hundertprozentig auf den Punkt.
Hundertprozentig überzeugend von der ersten bis zur letzten Szene ist auch Hauptdarsteller Matthias Tränkle. Die Rolle des Edward Bloom ist durch die ständigen Zeitwechsel auch für ausgebildete Musicaldarsteller eine Herausforderung. Matthias Tränkle steht den Profis in nichts nach und liefert eine geradezu sensationelle Leistung ab. Fast permanent auf der Bühne, wechselt er in Sekundenschnelle die Zeitebenen. Eben noch der junge Vater in rotem Hoodie, der seinem kleinen Sohn mit großer Geste die unglaublichsten Geschichten erzählt, schleppt er sich im nächsten Augenblick leidgeplagt als kranker, alter Mann über die Bühne.
Zur Höchstform läuft Tränkle als junger Edward Bloom auf. In Baskenmütze und Retro-Look wird er von einer Nixe geküsst, freundet sich mit Riesen und Werwölfen an und wagt unerschrocken einen Blick in die Kristallkugel der Hexe. Wunderschön spielt Matthias Tränkle die Vielschichtigkeit von Edward Blooms Charakter heraus: Zwar steht er gerne selbstverliebt als toller Hecht im Mittelpunkt, aber er bleibt dabei immer der sympathische Held, der das Herz am rechten Fleck hat. Zum ausgefeilten Schauspiel kommt brillanter Gesang: Tränkle weiß seinen klangschönen Bariton gezielt einzusetzen, hält lange und hohe Töne scheinbar völlig mühelos und versteht es zudem, seine vielen Gesangsparts sehr lebendig wirken zu lassen. Mit seiner bisher anspruchsvollsten Rolle beweist Matthias Tränkle erneut seine (nicht nur) für eine Amateurbühne herausragenden Fähigkeiten.
Musikalische Vielfalt bei „Big Fish“
Neben den Mitwirkenden auf der Bühne haben die Choreografinnen Nina Oelmann und Sara Crouch Rymer und natürlich Regisseurin und Musikalische Leiterin Julia Brückner großen Anteil an der gelungenen Umsetzung des inhaltlich und musikalisch wahrlich nicht einfachen Stückes. Julia Brückner führt das Ensemble mit sicherer Hand durch die Zeitlinien und Handlungsebenen, lässt die Hauptakteure glänzen und zugleich auch Chor und Tänzerinnen genügend Raum. Es gibt weder Brüche noch Pausen. Lange Spielszenen und kurze Einblendungen, mit denen man von der Bloom’schen Glitzerwelt wieder ins Hier und Heute geholt wird, greifen perfekt ineinander. Wenn Edward Bloom seinem zehnjährigen Sohn Will von Hexen und Werwölfen erzählt und diese Geschichten in groß angelegten bunten Bildern über den Bühnenboden rauschen, bleibt der kleine Will am Rand sitzen. Den Schlüssel der Stadt Ashton, den man dem jungen Edward für seine Verdienste um die Stadt übergab, finden der erwachsene Will und seine Frau Josephine, als sie Edwards Unterlagen sichten. Diese engen Verzahnungen halten den Ablauf trotz der rasanten Wechsel immer in der Spur.
Stets in der richtigen Tonspur sind auch die rund 20 Musikerinnen und Musiker, die Orchesterleiter Peter Pfeiffer sicher durch die unterschiedlichen Musikstile führt, die in „Big Fish“ charakterisierend für die einzelnen Szenen stehen: Marschmusik in Ashton Town, eine Walzermelodie bei der Hochzeit von Will und Josephine, „Rot-Weiß-Blau“ swingt, und das „Little Lamb from Alabama“ tanzt zu Country-Klängen.
Als Balladen oder Midtempo-Nummern im modernen, recht poppigen Musicalstil angelegt sind die großen Soli und Duette. Sie werden selten durchgesungen, sondern fast immer durch Spielszenen oder kurze gesprochene Passagen unterbrochen. Dann läuft entweder die andere Handlungsebene weiter oder – wie beim Duett „Stille“ – man schaut direkt in Edwards Gedanken. Hier friert die Szene ein, der Tanz stoppt und Edward erblickt zum ersten Mal seine spätere Frau Sandra. In anderen Szenen wiederum bauen Instrumentalparts wie in einem Kinostreifen Spannung auf. Besonders schön kommt dies zur Geltung, als Teenager Edward und die Price-Brüder die Hexe aufsuchen.
Don Price ist Edwards „bester Feind“ und wird von Sascha Zulott herrlich großmäulig und überzogen gespielt. Tom Funk spielt ebenso gelungen überspitzt Dons jüngeren, etwas trotteligen Bruder Zachy, der permanent sein großes Vorbild nachahmt und gar nicht merkt, wie lächerlich wirkt. Alex Schiller gibt einen honorigen Dr. Bennett, der sich sichtlich schwer tut, dem immer positiv auftretenden Edward Bloom mitzuteilen, dass es für ihn keine Hoffnung mehr gibt. Nixe Natalie Schleicher bezirzt den jungen Edward nach allen Regeln der Kunst und David Kovacs zeigt als frustrierter Fischer und später als Red Fang sein Schauspieltalent.
Rührend naiv verkörpert Emily Koch Edwards Jugendfreundin Jenny Hill. „Ein Mädchen hat nur eine wahre Liebe“, sagt sie und wartet Jahr um Jahr auf Edwards Rückkehr nach Ashton. Als er dann tatsächlich wieder da ist und wie nebenbei die Stadt vor dem Untergang in den Fluten eines neuen Stausees rettet, muss sie erkennen, dass ihr Warten vergebens war. Beim Wandel zur Jenny der Gegenwart gelingt es Emily Koch mit sehr gefühlsbetontem Spiel, die sanfte Wesensart ihres Bühnencharakters mit den Hauch langer, einsamer Jahre zu verbinden.
Einsamkeit kennt auch Riese Karl, mit akrobatischem Geschick auf Stelzen gespielt von Martin Buchau. Von allen wird er gefürchtet und verachtet. Nur Edward kennt keine Vorurteile. Er lockt den Riesen aus seiner Höhle und erkennt schnell, dass dieser weder gefährlich noch dumm ist. Der Kontrast zwischen Buchaus leierndem Tonfall, der einem tumben Riesen entsprechen würde, und den intellektuellen, ja philosophischen Aussagen, ergibt einen ganz besonderen Humor und stimmt zudem nachdenklich.
Auch Amos Calloway, seines Zeichens Zirkusdirektor und Werwolf, hält aus Furcht vor Ablehnung seine wahre Natur geheim. Marcus Field geht ganz in seiner Rolle auf. Er singt, tanzt und – logisch – heult mit ansteckender Spielfreude.
Und noch eine magische Figur begeistert: Leni Karrer als Hexe glänzt mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik. Furchteinflößend wirkt sie, wenn sie mit unheilvollem Blick in die Kristallkugel schaut. Auch an Schlagfertigkeit fehlt es ihr nicht. „Wie reich werde ich sein?“ fragt Don Price und erhält die bestechend-logische Antwort „einen Dollar ärmer als vorher“ – denn natürlich gibt’s den Blick in die Zukunft nicht umsonst.
Niemals verrät Edward Bloom, welchen Tod die Hexe ihm vorhergesagt hat. „Unerwartetes Ende, ich will die Pointe nicht verderben“ sagt er und bleibt so bis zum Schluss der Held seiner Geschichte. Seine Fantasie gibt ihm die Kraft und den Mut, sich den Widrigkeiten des Lebens zu stellen. Bis zum Ende.
Vorbei an seinem Grab defilieren seine Freunde, seine Familie, Jenny Hill und eine weißblonde junge Dame, die fast so ätherisch wie eine Meerjungfrau wirkt. Und dort – der Mann ist wirklich riesig. Dann diese Frau mit den schwarzen Haaren, ein bisschen unheimlich wirkt sie ja…
Wer weiß schon mit Sicherheit zu sagen, wo genau die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit verläuft?
Eines aber ist gewiss: „Big Fish“ im Theater unter den Kuppeln ist ganz einfach großartig.
Text: Sylke Wohlschiess
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