Für Frieden und Freiheit:
Rezension Musical „Hair“ in Stuttgart
03.01.2019 - Wogende
Gräser empfangen die Besucher im Alten Schauspielhaus Stuttgart. Kaum geht das Licht im Saal aus, wiegen sich langhaarige Gestalten unter Spruchbändern und Peace-Symbolen selbstvergessen im Takt der Musik. Mit dem Musical „Hair“ geht es zurück in die wilden Sechziger, zu freier Liebe, Antikriegsdemos und Aufbruchsstimmung.
Im Dezember 2018, im Jahr des 50-jährigen Jubiläums der Broadway-Uraufführung, starb „Hair“-Komponist Galt MacDermot. Das Musical, das er gemeinsam mit den Librettisten Gerome Ragni und James Rado schuf, bleibt als ein wichtiger Teil seines musikalischen Erbes. MacDermot studierte Komposition in Kapstadt und arbeitete in seiner kanadischen Heimat als Kirchenmusiker und Jazzpianist. So inspirieren ganz unterschiedliche Welten sein Schaffen. Für „Hair“ verbindet MacDermot eine breite Palette musikalischer Einflüsse aus Jazz, R&B, Gospel, westlichen Kirchenchorälen und traditionellen südafrikanischen Klängen zu facettenreichen Rocksongs, von denen einige provozierend disharmonisch, andere mitreißend eingängig klingen.
In Stuttgart führt der Musikalische Leiter Clemens Rynkowski die fantastische Band nicht nur mit Verve durch die ca. 40 Songs, sondern wartet mit einer echten Rarität auf: dem Theremin. Rynkowski ist einer der weltweit ganz wenigen Künstler, die dieses berührungslos zu spielende Instrument beherrschen. Die sphärisch anmutenden Klänge passen perfekt zu Trancezuständen und LSD-Trips und haben den großen Vorteil, dass man dem Lebensgefühl der Hippies von damals auch ohne bewusstseinserweiternde Substanzen gut nachspüren kann.
Folgerichtig wirken auch Mario Marianos Choreographien weniger wie einstudierte Schrittfolgen als vielmehr wie spontan entstehende Bewegungen, fast wie „Happenings“, die sich bestens ins Szenenbild einfügen.
Die Hippies tanzen in wildem Mustermix, Wickelblusen und ausgefransten Schlaghosen. Die bunten, aber nie zu schrillen Outfits kommen ohne jegliche Kinkerlitzchen aus und wirken so echt, als seien sie aus den 1960er Jahren übrig geblieben. Zusammen mit wenigen Bühnenelementen - drehbare Großformat-Bilder, ein Tisch bei der Musterungsszene, ein paar Sitzblöcke – und szenisch hundertprozentig treffend gewählten Projektionen erschafft Barbara Krott ein authentisches Ambiente. Die flimmernden Bilder entfalten ihre Wirkung, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Da gibt es Naheliegendes, wie die UK-Flagge bei „Manchester, England“ und Beklemmendes wie das endlos scheinende Gräberfeld des US-Soldatenfriedhofs in der Normandie. Aber auch Hoffnung wird transportiert, wenn zu Huds resignierten Worten „es wird nie einen schwarzen Präsidenten geben“ das Bild von Barack Obama erscheint.
Regisseur Klaus Seiffert lässt „Hair“ in seiner Zeit und verzichtet auf alles, was krampfhaft modernisierend wirkt. Mit einem ebenso einfachen wie effektvollen Kniff gelingt ihm ein wahres Kunststück: Bei der Demonstration gegen den Vietnamkrieg sind Protestschilder von damals bis heute zu sehen. „Make Love Not War“ steht da neben „Trump – nicht mein Präsident“, das Antikriegsplakat mit dem sterbenden Soldaten und der Anklage „Why?“, das von einer Aufnahme des Fotografen Robert Capa inspiriert wurde, neben „Flüchtlinge willkommen“. So zieht Seiffert ohne Worte und vor allem ohne herablassende Belehrungen einen roten Faden von den politischen Ereignissen aus der Entstehungszeit des Musicals über die Friedensbewegung der 1980er Jahre und weiter zu aktuellen Themen, regionale Aufreger wie Stuttgart 21 eingeschlossen.
Seiffert hat sich für die durchgängig deutsche Version (Dialoge: Nico Rabenald, Songtexte: Walter Brandin) entschieden. Wenn man jedes Wort versteht, ist es sicher einfacher, sich mit dem Stück auch inhaltlich auseinanderzusetzen. Aber da vor allem bekannte Titel wie „Aquarius“ oder „Good Morning Starshine“ auch hierzulande in den englischen Originalfassungen wesentlich geläufiger sind, fehlt ein stückweit trotz der gelungenen Übertragung ins Deutsche das Identifikationsmoment. So dauert es auch etwas, bis die Atmosphäre im Publikum von wachem Interesse in echte Begeisterung umschlägt. Aber letztlich reißen nicht zuletzt die durchweg grandiosen jungen Darsteller die Besucher mit.
„Hair“ weist keinen durchgehenden Handlungsstrang auf, was zur Entstehungszeit des Musicals fast revolutionärer war, als die Nackten auf der Bühne. „Hair“ ist eine aus Einzelszenen, Rückblenden und Traumsequenzen gewebte Collage aus den Wünschen und Ängsten ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten. Die strikte Ablehnung von Krieg und das Aufbegehren gegen die festgefahrenen Normen der gutbürgerlichen Gesellschaft verbindet Claude, Berger, Sheila, Hud, Woof und all‘ die anderen zu einer Gemeinschaft, dem Tribe. Oft gehen solistisch beginnende Titel in Ensemblenummern über, was die Bedeutung des Ensembles gerade bei diesem Stück unterstreicht.
Charlotte Irene Thompson eröffnet in der Rolle der Ronny mit einem glasklaren „Aquarius“. Julia Waldmayer singt als Sheila ein ergreifendes „Nein sagt sich so leicht“ (Originaltitel: „Easy To Be Hard“), während das Ensemble sich in Zeitlupe um sie herum bewegt. Ebenfalls sehr emotional wird es bei „Frank Mills“, wunderschön gesungen von Friederike Kury als Crissy. Jeanie, verliebt in Claude aber schwanger von einem One-Night-Stand, strahlt in Katrin Merkls frischer Darbietung mädchenhaft-naive Unschuld und gleichzeitig eine eigenwillige Überspanntheit aus. Mit „Air“ wird ziemlich sarkastisch – und von Merkl sehr ausdrucksstark interpretiert – die Umweltverschmutzung angeprangert.
Tim Müller schraubt seinen Tenor bei „Meine Meinung“ (Originaltitel: „My Conviction“) bis ins höchste Falsett und hat die Lacher auf seiner Seite, als er sich das Frauenkleid vom Leib reißt und plötzlich in Superman-Unterwäsche auf der Bühne steht. Komödiantisches Talent beweist auch Lukas Haiser, der als Woof seine zynische Art des Protests mit weit aufgerissenen Augen und herrlich überzogener Mimik untermalt. Huds unterschwellige Aggressivität, die von ständiger Diskriminierung herrührt, wird von Anthony Curtis Kirby schauspielerisch und gesanglich differenziert herausgearbeitet. Im Tribe gehört der dunkelhäutige Hud genauso zur Gemeinschaft, wie Dionne und alle anderen. Amani Robinson ist als Dionne eine weitere starke Stimme bei „I'm Black/Ain't Got No“, die auch mit durchweg authentischem Spiel auf sich aufmerksam macht.
Mit einem Zeitsprung beginnt der 2. Akt. Berger sitzt vor einem schrottreifen Wohnwagen, vor sich auf einem wackeligen Campingtischchen ein Laptop, aus einem alten Radiorekorder plärrt „We Shall Overcome.“ Wir befinden uns 50 Jahre nach der Hippiezeit (also ungefähr im Jahr 2018/19), Berger hält noch immer an seinen Idealen von Frieden und Freiheit fest und verwehrt sich der Konsumgesellschaft. Vielleicht ein Fingerzeig des Regisseurs, dass Bergers Werte damals wie heute sowohl wichtig als auch zerbrechlich sind? Die Szene geht mit dem „Elektrischen Blues“ wieder in die Hippiezeit zurück. Berger, der als Anführer des Tribe gilt, wird von Rocktenor Dennis Weißert als frech-forscher, aber zugleich ausgesprochen sympathischer Rebell positioniert. Weder die Damen der Flower-Power-Zeit, noch die Besucher in Reihe 1, von denen er gleich zu Anfang erst einmal eine Spende erbettelt, können seinem lässigen Charme widerstehen.
Eine Glanzleistung zeigt Fin Holzwart als Claude. Er zweifelt, leidet und träumt sich mit Leidenschaft in seinen Bühnencharakter, singt grandios und spielt über die Maßen ausdrucksstark. Beinahe mit Händen greifen kann man in Holzwarts Darstellung Claudes inneren Konflikt, als er den Einberufungsbefehl bekommt. Hin- und hergerissen zwischen seiner Überzeugung, dass Krieg kein Mittel ist, um Probleme aus der Welt zu schaffen und dem unbestimmten Gefühl, handeln zu müssen, trifft er letztlich eine Entscheidung. Sein Solo „Wo geh‘ ich hin“ (Originaltitel: „Where Do I Go“) wird zum eindrücklichsten Moment einer Inszenierung, die mit starken Darstellern, kluger Regie und durchdachter Ausstattung überzeugt.
Text: Sylke Wohlschiess