Charakterstudie:
Rezension „Sunset Boulevard" in Pforzheim
10086, Sunset Boulevard: eine richtig gute Adresse. Zumindest auf den ersten Blick.
Doch sieht man genauer hin, wirkt alles verlassen: Efeu überwuchert die Fassade, ein Isotta Fraschini steht abgedeckt in der Garage. Zufällig gerät der erfolg- und mittellose Drehbuchautor Joe Gillis auf dieses Anwesen, auf dem Stummfilmdiva Norma Desmond residiert. Verzweifelt hält sie an den alten Zeiten fest, lebt in Erinnerung an ihre Glanzrollen und glaubt, dass eine treue Fangemeinde auf ihr Comeback wartet.
Dass ihr Butler - gleichzeitig ihr früherer Regisseur und Ehemann - Max von Mayerling alle Verehrerpost selbst abfasst, weiß sie nicht. Gillis soll ein von ihr geschriebenes Drehbuch überarbeiten, damit es von Cecil B. DeMille verfilmt werden kann. Doch Norma Desmonds Ansinnen stößt bei Paramount Pictures auf keinerlei Gegenliebe. Längst feiert man mit Tonfilmen Erfolge und kaum noch jemand erinnert sich an ihren Namen. Nur wagt niemand, ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Gillis aber schafft den Absprung aus der irrwitzigen Welt der Norma Desmond nicht mehr, zu groß ist seine finanzielle Abhängigkeit von ihr. Erst als sich seine Gefühle für die Autorin Betty Schaefer verstärken, konfrontiert er Norma endlich mit der Realität. Ein tragisches Ende ist unvermeidlich: Norma erträgt es nicht, dass Joe sie verlassen will, erschießt ihn und driftet völlig in den Wahnsinn ab.
Andrew Lloyd Webber (Musik) sowie Christopher Hampton und Don Black (Libretto) nahmen Billy Wilders gleichnamigen Film aus dem Jahr 1950 als Basis für ihr 1993 in London uraufgeführtes Musical „Sunset Boulevard". Mit seinem Regiedebüt am Stadttheater Pforzheim wagt sich Kai Hüsgen an einen vielschichtigen Stoff. Seine gelungene Personenregie stellt Lilian Huynen als Norma Desmond in den Mittelpunkt, gibt aber gleichzeitig allen anderen Akteuren genügend Raum, ihre Bühnencharaktere klar zu zeichnen. Durch das harmonische Zusammenwirken gut gesetzter Lichteffekte, vielseitiger Kulissen und zeitgemäßer Kostüme gelingt es Hüsgen, die Atmosphäre der frühen 1950er Jahre lebendig und authentisch umzusetzen. Lediglich bei einigen Parallelszenen mit dem gesamten 26-köpfigen Ensemble wirkt die Bühne etwas überfüllt, vor allem, wenn die Hintergrundszene nicht nur in einem Freeze dargestellt wird, sondern die Handlung auch dort weiterläuft. Vielleicht hätte hier schon etwas mehr räumlicher Abstand Abhilfe geschaffen.
Garten, Filmstudio, Garage, Kneipe, Villa - vor allem zu Beginn wechselt das Bühnenbild in atemberaubendem Tempo. Dabei wird auch mit einfachen Mitteln die nötige Wirkung erzielt. Der Schriftzug „Paramount Pictures" über einem Eingangstor ist spiegelverkehrt zu sehen, wenn der Zuschauer den Blickwinkel des alten Pförtners einnimmt, der ganz im Gegensatz zu seinem jungen Kollegen die Diva noch kennt und passieren lässt. Dass als Luxuskarosse lediglich eine bemalte Pappe im Einsatz ist, unterstreicht das Bizarre der Situation. Als „Bild im Bild" fahren kleine, einfache Kulissen wie das Büro des Filmproduzenten oder das Gästezimmer auf die Bühne. Auf einen Gaze-Vorhang werden Schatten und die Fassade der Villa projiziert. Glanzstück des einfallsreichen Bühnenbildes von Verena Hemmerlein ist das Innere der Desmond'schen Villa. Eine breite, geschwungene Treppe aus schwarzem Marmor führt in den Salon. Die Wand ist geschmückt mit dem farbigen Filmplakat von Norma Desmond an der Seite von Rudolph Valentino in „The Son of the Sheik", um das sich unzählige, schon ins sepiafarbene verblichene Aufnahmen von Norma aus ihren vielen Filmerfolgen gruppieren.
Die ideale Szenerie für Lilian Huynen, um als Norma Desmond sowohl mit Grandezza die Treppe hinab zu schreiten als auch schwankend im Suff die Stufen hinauf zu stolpern. Anfangs, in schwarz-silbrigem Hausanzug, mit Perlenkette, Glitzerturban und knallrot geschminkten Lippen, gibt sie ganz die exaltierte Filmgöttin, die mit Vorliebe ihre eigenen Filme anschaut und sich für Geld alles kaufen kann, sogar die Illusion der Liebe. Denn dass Joe sie nicht wirklich liebt, ist ihr durchaus klar. Nie begriffen jedoch hat sie, dass ihre Glanzzeiten vorüber sind. Auf Joes erstauntes „Sie waren groß." antwortet sie „Ich bin groß. Nur die Filme wurden klein". Sehr eindringlich ist Lilian Huynens Mimik, ganz besonders vor jeder echten oder eingebildeten Filmkamera, der sich Norma gegenübersieht. Da wird gnadenlos überzogen, mit fast grimassenartigem Lächeln, so, wie es in der Stummfilmzeit einer guten Schauspielerin entsprach. Huynens sehr eigene, charaktervolle Stimme lässt bei den Soli wie „Nur ein Blick" und „Als hätten wir uns nie Goodbye gesagt" sofort aufhorchen: angenehm tief, oft mit rauem Timbre, aber auch sicher in den klaren, langgezogenen Schlusstönen. Lilian Huynen bleibt in jeder Szene exakt in der Rolle, singt und spielt mit Leib und Seele und macht aus ihrer Darstellung eine unter die Haut gehende Charakterstudie.
Als Joe Gillis wirkt Matthias Otte neben der schillernden Lady etwas blass, was aber ein Stück weit durchaus zur Rolle passt. Joe macht sich von Normas Geld abhängig, ordnet sich unter und wird sogar ihr Liebhaber, obwohl er sich von ihr eigentlich abgestoßen fühlt. Diesen Widerwillen hätte Otte mit eindrücklicherer Mimik noch mehr herausarbeiten können. In den Szenen mit Julia Klotz als gleichermaßen rührend-junger wie zielstrebiger Autorin Betty Schaefer dagegen vermittelt er die Emotionen glaubhaft. Besonders eindrucksvoll ist der für Joe bestürzende Moment, als er realisiert, dass er zwar jung im Vergleich zu Norma, aber doch wesentlich älter als Betty ist. Stimmlich lässt Matthias Otte nichts zu wünschen übrig, seine warme Stimme gefällt sowohl im Titelsong als auch bei den Duetten.
Andrea Matthias Pagani scheint der geborene Max von Mayerling. Ganz der honorige Butler, lässt er sich keinerlei Gefühle anmerken. Sogar von Normas Selbstmordversuch in der Silvesternacht berichtet er Joe am Telefon in seinem üblichen, neutralen Tonfall. Wenn er jedoch Joe im Garten abfängt, um ihn zu instruieren, wie er sich Norma gegenüber zu verhalten hat, wird klar, dass sie mehr für ihn ist, als nur seine Arbeitgeberin. Letztlich verrät er Joe auch seine eigentliche Beziehung zu Norma und wird hier sehr viel vehementer. Max verlässt seine Rolle als Butler – und Pagani bringt dies hervorragend auf die Bühne. Einer der gesanglichen Höhepunkte ist zweifellos „Kein Star wird jemals größer sein", das Andrea Matthias Pagani mit wunderbar warmer, volltönender Stimme sehr emotional interpretiert.
Auch die kleineren Rollen sind typgerecht besetzt. Vor allem Klaus Geber bleibt mit seinem zwar kurzen, aber bewegenden Auftritt als Regisseur Cecil B. DeMille im Gedächtnis. Im Gegensatz zum Star seiner früheren Filme ist DeMille immer noch mitten im Filmgeschehen zu Hause, kann aber nicht frei agieren und Norma einfach wieder engagieren. Zu sehr ist er an das Tempo der neuen, schnelllebigen Zeit gebunden, was er nur mit einem raschen Blick auf seine Armbanduhr verdeutlicht. Bei Normas Besuch in den Studios erinnert er sich voller Wehmut an die „Träume aus Licht", die die große Diva ihrem Publikum geschenkt hat und überzeugt mit gefühlvoller, sonorer Stimme.
Tobias Leppert führt die Badische Philharmonie Pforzheim routiniert durch die nahezu durchkomponierte Partitur, die durch viele Reprisen und sich wiederholende Motive geprägt ist. Durch die wechselnden Interpreten und Variationen bei der Instrumentierung – beispielsweise wird das Hauptmotiv „Sunset Boulevard" an einigen Stellen nur von einer Violine gezupft – bleibt es musikalisch aber trotzdem stets abwechslungsreich. Dass der Klang ab und zu etwas verwaschen ankommt, liegt nicht an den Musikern, sondern an der nicht optimalen technischen Anlage.
Dem Gesamterlebnis tut dies jedoch keinen Abbruch. Große Gefühle werden in großartigen, fast cineastischen Bildern visualisiert. So beweist das Pforzheimer Stadttheater erneut, dass es eine richtig gute Adresse für hochkarätige Musicalproduktionen ist. Und das nicht nur auf den ersten Blick.
Text: Sylke Wohlschiess
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