Hass, Rache, Liebe:
Rezension "Shylock!" in Pforzheim
Das muss man sich mal vorstellen: Da nimmt jemand einen Kredit auf, kann das Geld nicht zurückzahlen und schon zückt der Gläubiger das Messer, um vertragsgemäß ein Pfund Fleisch aus der Brust des Schuldners zu schneiden.
Genau das blüht Antonio, dem rechtschaffenen venezianischen Kaufmann. Sein Ex-Lover Bassanio hat sich in eine Frau verliebt. Um sie heiraten zu können, braucht er Geld. Antonio fungiert als Bürge beim Kreditgeschäft mit dem jüdischen Wucherer Shylock, seine Handelsschiffe dienen als Pfand. Das Unerwartete geschieht: Antonios Schiffe sinken, der grausame Geldverleiher besteht auf seinem Recht. Doch wieso liegt Shylock so viel an der Einhaltung des Vertrags? Ist er einfach der "böse Jude"? Oder gibt es womöglich dunkle Flecken auf Antonios weißer Weste?
Im Mai 2012 feierte "Shylock!" Weltpremiere am Tiroler Landestheater Innsbruck, im Theater Pforzheim ist das Musical nun in Deutscher Erstaufführung zu sehen. Brigitte Fassbaender (Musik) und Stephan Kanyar (Libretto) erzählen die Geschichte von William Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" aus der Perspektive des jüdischen Geschäftsmannes.
Unter bewährter Leitung von Tobias Leppert spielen sich die Musiker der Badischen Philharmonie Pforzheim mit Perfektion durch die vielfältige Partitur. Die getragene Ouvertüre geht über in rockige Parts. Jüdische Klezmer-Klänge und spanische Tänze ergänzen die musicaltypischen Melodien. Die Verbindung unterschiedlicher Stilrichtungen ist kompositorisch interessant, wenn auch einige Titel recht sperrig anmuten. Schade ist auch, dass die Texte zumindest von den seitlichen Plätzen nicht immer gut verständlich sind.
Gelungen ist Isabelle Kittnars Bühnenbild. Unzählige Schließfächer bilden die Wände von Shylocks Geschäftsraum, einige sind ausziehbar, dienen als Sitz oder Stehpult, andere entpuppen sich als Tür. Die Perspektive verschiebt sich, wenn das Kontor durch eine im Boden eingelassene Falltür betreten wird. Ein weiteres Ausziehelement bildet Jessicas Zimmer, eine eigene kleine Welt mit Blümchentapete und Vogelkäfig, das die beklemmende Atmosphäre bitterer Erinnerungen angenehm unterbricht. Die Decke von Shylocks Raum ist nach vorne absenkbar, verdeckt diesen komplett und wird zur schiefen Ebene. So entsteht eine zweite Bühnenfläche, deren Bodenmuster sich exakt in Portias Kleid und einem Ornament an der hinteren Wand wiederfindet. Dreidimensionale Bühnenmalereien und Projektionen vervollständigen die Szenerie.
Einschneidende Erlebnisse aus Shylocks Leben werden in Rückblenden beleuchtet - im wahrsten Sinne des Wortes. Regisseur Alexander May lässt Shylocks Erinnerungen als farbig ausgeleuchtete Schattenspiele lebendig werden. Hauptdarsteller Chris Murray wird in diese Projektionen integriert und interagiert mit den schattenhaften Figuren aus der Vergangenheit. Diese Umsetzung impliziert die enge Verzahnung von Ursache und Wirkung, von den Demütigungen, die Shylock im Lauf seines Lebens erdulden muss und seinem erbarmungslosen Verhalten.
Dabei zeigt sich einmal mehr die enorme Wandlungsfähigkeit des stimmgewaltigen Künstlers. Shylock kniet auf dem Schulhof, schützend hält er die Arme vors Gesicht, seine angstvollen Blicke sprechen Bände. Angesichts der aggressiven Klassenkameraden wird der erwachsene Shylock durch Chris Murrays realistische Darstellung vor den Augen des Zuschauers wieder zu dem verängstigten Kind, das er einmal war.
Trotz bester Qualifikation findet Shylock keine Arbeit und schließlich stirbt sogar seine Frau im Kindbett, weil der dringend benötigte Arzt lieber feiert. Mit Antonio, der immer wieder an erster Stelle steht, wenn es gilt, "dem Juden" das Leben schwer zu machen. Chris Murray spielt und singt sich durch die gesamte Bandbreite von Shylocks Gefühlen. Nach außen hin fast devot gegenüber seinen Kunden, äfft er sie mit hasserfüllter Miene nach, sobald sie sich abwenden. Das Solo "Antonio ist ein guter Mann" veranschaulicht Shylocks Gründe. Nach einem kurzen, ruhigen Intro über eine ironische Phase steigert sich der Song fast bis zur Raserei.
Chris Murray begeistert mit immensem Stimmvolumen, das in Verbindung mit seiner klassischen Prägung immer wieder ein besonderer Hörgenuss ist und seinem Gesang eine sehr individuelle Ausrichtung mit hohem Wiedererkennungswert verleiht. Durch die Vielzahl dieser kraftvollen Soli werden die ruhigeren Titel etwas in den Hintergrund gedrängt. Dabei ist beispielsweise "Leah" als Blick in Shylocks Innerstes nicht nur immens wichtig für das Verständnis der Figur, sondern auch eine wunderschöne Ballade, die die anhaltende Trauer um den Verlust seiner Frau in schlichten, schönen Worten beschreibt. Shylocks ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich auf seine Tochter Jessica. Mit viel Einfühlungsvermögen interpretiert Murray auch Shylocks Vaterliebe, mit der er ungewollt seine Tochter mehr und mehr erdrückt. Jessica weiß: Ihre Liebe zu dem Christen Lorenzo wird er niemals tolerieren.
Caroline Zins besingt als Jessica mit glockenklarem klassischen Sopran im Solo "Ich sitze hier" ihre Gefühle. An der Schwelle zum Erwachsenwerden ist sie zwischen ihrer Liebe zu Lorenzo und der Zuneigung zu ihrem Vater hin- und hergerissen. Deutlich spielt Zins heraus, dass Jessica keine aufsässige Rebellin, sondern eine verständige junge Frau ist, die eigentlich viel lieber ihrem Vater gehorchen möchte, als sich aufzulehnen, die aber andererseits nicht bereit ist, ihre Beziehung zu Lorenzo grundlos der Verbitterung ihres Vaters zu opfern. Das kurze, floral gemusterte Kleid, dessen Optik sich in der Tapete ihres Mädchenzimmers wiederholt, passt wunderbar zum Rollencharakter.
Dass sie, ebenso wie Tobias Bode als galanter Lorenzo im leuchtend blauen Jackett, ständig ihr Handy zückt, erscheint dagegen eher unnötig. Die Aktualität der Thematik um Ausgrenzung und Intoleranz erschließt sich in dieser Inszenierung auch ohne künstlich modernisierende Details. Ensemble und Solisten tanzen die von Janne Geest choreografierten Schrittfolgen einwandfrei, aber die eine oder andere etwas alberne Tanzeinlage hätte es nicht unbedingt gebraucht.
Zwar hat die Liebesgeschichte zwischen Lorenzo und Jessica kein typisches Happy End – sie fliehen gemeinsam -, aber sie bringt dennoch eine versöhnliche Note in die ernste Grundstimmung. Das gilt auch für das zweite Liebespaar, Portia und Bassanio. Im melodiösen Quartett "In dieser wundersamen Nacht" fügen sich alle vier Stimmen zu äußerst klangvollen Harmonien.
Tenor Philipp Moschitz pendelt als Bassanio gekonnt zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Seine euphorisch-verliebte Gemütsverfassung setzt enorme Überzeugungskraft frei. Es gelingt ihm sogar, den von ihm verlassenen Antonio zu überreden, ihm die Hochzeit mit der reichen Jura-Absolventin Portia durch seine Bürgschaft zu ermöglichen.
Wenn Danielle Rohr als Portia im ausladenden blau-silbern gemusterten Kleid beim Solo "Ich bin verliebt" ausgelassen über die Bühne wirbelt und mit sicher geführtem Mezzosopran auch gesanglich die positive Ausstrahlung der lebensfrohen Portia zum Ausdruck bringt, versteht man, was Bassanio so an ihr fasziniert.
Bassanio will keinem etwas Böses. So ist er auch tief entsetzt, als es vor Gericht zunächst scheint, als würde Shylock Recht bekommen und Antonio mit seinem Fleisch – also mit seinem Leben – für den Freundschaftsdienst bezahlen müssen. Anwältin Portia rettet durch ihre Kenntnis der Gesetzeslage Antonios Leben: Beim Einlösen eines Pfandes darf der Schuldner nicht zu körperlichem Schaden kommen. Danielle Rohr und Philipp Moschitz spielen auch diese ernsten Szenen eindringlich und glaubhaft. So hat Shylock zwar Recht, aber keinen Nutzen davon. Antonio zieht den Kopf aus der Schlinge und ist wieder einmal obenauf.
Paul Jadach als Antonio überzeugt mit wunderschönem klassischen Bariton und differenzierter Ausarbeitung des Charakters seiner Bühnenfigur. Schon als Kind ist es für Antonio täglicher Zeitvertreib, "den Juden" zu hänseln. Als Erwachsener setzt er dies fort und begegnet Shylock mit Herablassung und Häme. Eigentlich dürfte nicht erstaunen, dass Shylock auf der Einlösung seines Schuldscheins beharrt. Antonio ist sich jedoch gar keines Fehlverhaltens bewusst, so normal ist für ihn diese Haltung gegenüber Juden. Paul Jadach gelingt es hervorragend, den auffällig blonden Antonio eigentlich ganz sympathisch wirken zu lassen, was dessen moralisch bedenkliche Geisteshaltung um so gefährlicher macht.
Diese Gesellschaftskritik findet sich auch in der befremdlichen, ja abstoßenden Art und Weise, das Ensemble als Riesenratten durch alle Gassen und Winkel Venedigs huschen zu lassen. Mit rot geschminkten Augen und schäbigen Lumpenoutfits fuchteln diese Gestalten dann auch gerne mal mit bedrohlich gekrümmten Fingern direkt vor Zuschauern herum. So entsteht zwar keine angenehme Theateratmosphäre, aber das lag in diesem Fall sicher auch gar nicht in der Absicht von Regisseur Alexander May. Die Ratten als Überträger der Pest waren eine große Gefahr im damaligen Venedig. Doch auch Sensationsgier und Mitleidlosigkeit können eine menschliche Gemeinschaft vergiften. Die Pest haben wir ja heutzutage glücklicherweise überwunden...
Text: Sylke Wohlschiess
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