Fantasie verleiht Flügel:
Rezension „Peter Pan“ in Klingenberg
Tinker Bell braucht Peter Pan gar nicht vorzustellen. „Ich hab‘ den schon ganz oft gesehen“. „Ich auch, ich auch“. Die kleinen Besucher sind vor Aufregung ganz aus dem Häuschen und vom ersten Moment an voll dabei. „Peter Pan“, das neue Familienmusical von Franck Thomczyk (Libretto) und Larissa Schories (Musik), das bei den Clingenburg Festspielen seine Uraufführung feiert, kann man aber auch als Erwachsener mit viel Freude anschauen.
James Matthew Barries Geschichte um den Jungen, der nie erwachsen wird und mit seinen „verlorenen Jungs“ auf der Insel Nimmerland lebt, ist aus zahlreichen Bühnen- und Filmadaptionen bekannt. Auf der Suche nach seinem Schatten lernt Peter Pan die Darling-Geschwister Wendy und John kennen und nimmt sie mit auf eine fantastische Reise nach Nimmerland.
Dass kein Orchester live vor Ort spielt, stört nicht. Ton und Textverständlichkeit stimmen und der Musikalische Leiter Ralph Scheiner setzt die Gesangsstimmen so ein, dass sie den kindgerechten, jedoch keineswegs anspruchslosen Melodien bestens gerecht werden. Isa Mehnert hat detailreiche Kostüme entworfen, die die Charaktere der Figuren betonen. Jeans, Nietengürtel und kurzes Jäckchen im Militärlook für Peter Pan, ein lila und rosa schimmerndes Zipfelkleid für Tinker Bell.
Unter der einfühlsamen Regie von Marcel Krohn entfaltet sich der ganze Zauber der Ereignisse. Die Naturbühne der Clingenburg bietet Bühnenbildner Christian Baumgärtel eine ausgezeichnete Kulisse. Bäume und Felsen sind schon da. Ein Leichtes, hier das dreistöckige Piratenlager aufzuschlagen, mit Strickleiter, Hängematte und „Betreten verboten“-Schild, selbstverständlich mit Totenkopf. Als Zuhause der Familie Darling dient ein einfaches Klappelement, das durch die liebevolle Gestaltung mit bunten Vorhängen und blauer Schmetterlingstapete ein hübsches Kinderzimmer abgibt. Wenn die Reise auf die Zauberinsel geht, wird die Rückseite der Wand flugs zum Todesfelsen. Captain Hook segelt auf seinem Piratenschiff vor die Bühne, verfolgt vom tickenden Krokodil, das ihm letztlich den Garaus macht.
Verwilderte Locken und Schnauzbart, knallroter Anzug und Dreispitz: Werner Wulz gibt mit grimmigem Blick sehr überzeugend den Piratenkapitän, der seine Feigheit hinter Drohgebärden versteckt und lieber seiner Mannschaft das Kämpfen überlässt. Er fürchtet sich nicht nur vor dem Krokodil, sondern flieht auch vor Peter Pan, nachdem seine Mannschaft (herrlich trottelig: David Krohn als Starkey und Loraine Dere als Smee) meutert und sich mit den Nimmerland-Bewohnern verbündet.
Peter Pan kann Hooks Gehabe keine Sekunde lang schrecken. Als Freund von Feen und Anführer der „verlorenen Jungs“ agiert er mutig und zugleich besonnen. „Das Leben ist schön“ rappt Alessandro Nania Pacino denn auch voller Schwung. Gänzlich unerfahren jedoch mit den ersten Schritten ins Erwachsenendasein, lässt er sich von Wendy bei deren verlegenen Annäherungsversuchen auch gerne mal einen Kuss für einen Fingerhut vormachen. Alessandro Nania Pacino spielt die Facetten der Rolle durch seine akzentuierte Darstellung deutlich heraus. Pacinos Peter Pan ist zum einen der ungestüme, kindlich unerschrockene Held, dessen Charisma ihn zum unumstrittenen Anführer auf Nimmerland macht und zu dem auch Wendys Bruder John bewundernd aufblickt. Zum andern ist er der schüchterne Junge, der mit Wendy das erste zaghafte Annähern zwischen Mann und Frau erlebt. „Die sind verliebt“, erklärt ein Knirps im Publikum dann auch gleich seiner Mutter.
Richtig. Wendy verliebt sich schon auf den ersten Blick in den fremdartigen Jungen und zögert nicht lange, als sie hört, dass die Kinder auf Nimmerland keine Mutter haben. Nahezu unmerklich rutscht sie dort in diese Rolle, was durch die Reprise von „Zu Haus“ verdeutlicht wird, der wunderschönen Ballade der Mutter, die Loraine Dere zu Beginn des Stücks mit angenehm warmer Stimme interpretiert. Franziska Lißmeier als Wendy schließt hier an und singt auch die folgende jazzig angehauchte Nummer „Ich kann nicht schlafen“ mit viel Ausdruckskraft. Auch schauspielerisch überzeugt sie mit viel Gefühl und sicherer Balance zwischen Noch-Kind und Fast-Frau. Kindlich ungelenke Gesten und verlegenes Grinsen in Peters Nähe gehen einher mit einer bereits spürbaren emotionalen Reife.
Dagegen ist Wendys jüngerer Bruder John in gestreifter kurzer Hose mit Hosenträgern noch ganz Kind. Mit ausgeprägtem Lausbubencharme spielt Patrick Miller den anfangs eher ängstlichen Jungen, der unter Peter Pans Fittiche sichtlich lockerer und mutiger wird. Dass er seinen Vater (Emrah Demir) um gut einen Kopf überragt, gibt Regisseur Marcel Krohn Raum für gelungene Situationskomik. Wenn John seine Unschuldsmine aufsetzt und von seinem Vater ermahnt wird, dieser dazu aber erst auf einen Stuhl steigen muss, hat Miller die Lacher auf seiner Seite.
Die einzige, die anfangs gar nicht lachen kann und alles andere als begeistert ist über die Anwesenheit der Geschwister auf Nimmerland, ist Tinker Bell. Richtig zickig reagiert sie auf die erwachenden Gefühle zwischen Peter und Wendy. Mariyama Ebels zierliche Gestal und ihre unbekümmerte, erfrischende Spielweise machen sie zur idealen Tinker Bell. Herrlich, wie sie eingeschnappt das Gesicht verzieht, als sie sich von Peter zu wenig beachtet fühlt. Ebenso glaubhaft spielt Ebel aber auch Tinker Bells Reue über ihre anfängliche Boshaftigkeit gegenüber Wendy und die beginnende Freundschaft zu ihr. Gemeinsam mit den anderen retten sie Tiger Lilly (Catherin Joos als hinreißendes Indianermädchen) aus Captain Hooks Fängen, gemeinsam singen alle „Stark“, den Song über Freundschaft und Charakterstärke. Ronny Bartsch choreographiert diese Szene wie ein Ringelreihen-Spiel, schickt die Akteure durchs Publikum und lässt so die kleinen Zuschauer direkt an den Abenteuern teilhaben.
Als Wendy und John nach überstandenen Gefahren wieder nach Hause zurückkehren, sind nicht nur die Eltern überglücklich, sondern auch Hund Nana. Er legt die Pfote übers Gesicht, als könne er seinen Augen nicht trauen, und swingt glücklich im Takt der Lieder. Im Hundekostüm steckt Sandra Leitner, die ohne auch nur ein Wort zu sprechen der heimliche Star der Show ist.
„Ich glaube an Feen“ erklärt Peter Pan. Und die Kinder im Publikum wiederholen die Worte begeistert. Wenn just in diesem Moment ein Schmetterling wie inszeniert über die Clingenburg-Bühne flattert, könnte man auch als Erwachsener fast wieder an eine magische Feenwelt glauben.
Text: Sylke Wohlschiess