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Brillant:
Rezension Musical „West Side Story“ in Bonn

06.10.2019 – Musical-Rezension „West Side Story“ - Theater Bonn - u.a. mit Jan Rekeszus, Sybille Lambrich, Lucas Baier, Amani Robinson und Andreas Wolfram - Regie: Erik Petersen

Als sie sich das erste Mal begegnen, scheint die Zeit stillzustehen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Tony und Maria leben in unterschiedlichen Welten und die Uhren ticken unaufhaltsam weiter. Immer schneller. Bis die Situation schließlich eskaliert.

bonn theater

Fast genau 62 Jahre ist es her, dass Leonard Bernsteins Musical „West Side Story“ als moderne Version des Shakespeare’schen Romeo-und-Julia-Stoffes in New York City uraufgeführt wurde. Zeitlos berührend, zeitlos aktuell und zeitlos beklemmend: Komponist Bernstein, Arthur Laurents (Buch) und Stephen Sondheim (Liedtexte) haben mit der „West Side Story“ eines der ganz großen Werke des Genres geschaffen, das landauf, landab immer wieder gerne gezeigt wird.

Allerdings trifft man wohl nur selten auf eine dermaßen herausragende Inszenierung, wie sie Regisseur Erik Petersen am Theater Bonn auf die Bühne gebracht hat. Das Kunststück gelingt, eng an der bekannten Geschichte zu bleiben und sie gleichzeitig so ins Hier und Heute zu transferieren, dass sie den Nerv des Publikums trifft. Quer durch alle Altersstufen zollt es stürmischen Szenenbeifall, man hört Bravo-Rufe und beim Schlussapplaus hält es niemanden im ausverkauften Theatersaal auf dem Sitz.

„West Side Story“ in Bonn: Grandiose Neuinszenierung

Großen Anteil am Erfolg hat mit Sicherheit der Musikalische Leiter Hermes Helfricht, der mit seinem Beethoven Orchester einen geradezu epischen Klangteppich ausrollt. Vehement trumpft das Orchester bei den explosiven Begegnungen der verfeindeten Gangs auf, schmeichelnd erklingen die Töne bei den Balladen und mit feinen Nuancen hinterlegen die Musikerinnen und Musiker die Sprechszenen. Die schnellen Tempo- und Dynamikwechsel stützen und führen die Handlung. Großartig, wie bei der Party die wirbelnde Tanzmusik langsam in den Hintergrund tritt, als sich die Blicke von Maria und Tony zum ersten Mal treffen. Fast wie eine Traumsequenz mutet die Szene an, bevor die Musik wieder einsetzt und die Realität die beiden einholt. Musiknummern mit der komplexen, oft nicht sofort eingängigen Dynamik des Modern Jazz begleiten die amerikanischen Jets. Ihre Gegenspieler, die puertoricanischen Sharks, bewegen sich zu den leidenschaftlichen lateinamerikanischen Klängen ihrer Heimat.

west side story bonn 01Sabine Arthold hat eine bemerkenswerte, moderne Choreographie geschaffen, die lebensnah und ungekünstelt wirkt. Hart zur Sache geht es beim Prolog. Fast artistische Einlagen nehmen aber einen Teil der Brutalität wieder aus der Szene heraus. So kommt der Tanz als erzählerisches Mittel zur Geltung. Dies ist möglich, weil die durchweg grandiosen Akteure nicht nur gesanglich, sondern auch tänzerisch vollkommen überzeugen. Ob Kampf, neue Elemente oder die klassischen Schrittfolgen von Jerome Robbins‘ Originalchoreographie, die in keiner „West Side Story“ fehlen: Das gesamte Ensemble tanzt mit bestechender Präzision und zugleich unglaublicher Leichtigkeit durch eine U-Bahn Station in New York City.

Dort führen von der obersten Ebene mit dem Brautmodengeschäft, in dem Anita und Maria arbeiten, Treppen mit Stahlgeländer nach unten, vorbei an Plakaten, die für eine Salsa Bar werben. Am Abgang zur unteren Plattform ist rechts ein kleines Büro des NYPD untergebracht, mit Fenstern zur Treppe. So können Sergeant Krupke und Lieutenant Schrank die ständig vor Docs Kiosk und der Pommesbude auf der anderen Seite herumlungernden Jets im Auge behalten. Dass diese Station Jet-Revier ist, wird unmissverständlich durch ein Graffiti klar: „You are entering Jets territory“. Die gesamte Ausgestaltung wirkt durch viele Details extrem realistisch. Dirk Hofacker ist hier ein echtes Meisterstück gelungen. Der Clou: Auf der Bühne fahren tatsächlich zwei U-Bahnen. Das ermöglicht simple und zugleich geniale Szenenwechsel: Tony, Maria und die Gangs steigen einfach in die Bahn, um von A nach B zu kommen. Für die Szenen, die vor Marias Zuhause spielen, deckt eine bühnenbreite Leinwand mit Hausfront und Feuertreppen die U-Bahn-Kulisse ab. Für Anitas Auftritt mit „Somewhere“ umrahmen von drei Seiten lange rote Vorhänge das Werbeplakat, das so zum Namensschild des Clubs wird.

Mit der Verlagerung der Handlung in den Mikrokosmos einer Underground-Station gelingt auch die zeitliche Verschiebung von den 1950er Jahren in die Gegenwart ohne unnötige Kapriolen: Es genügen dem Slang der Jugend von heute angepasste Dialoge und moderne Klamotten (Kostüme: ebenfalls Dirk Hofacker), immer noch rot-schwarz für die Sharks und jeansblau für die Jets, um den Aktualitätsbezug herzustellen.

Tanz, Gesang, Schauspiel: Perfekter Dreiklang an der Bonner West Side

In spannungsgeladener Atmosphäre begeistert das knapp 30-köpfige Ensemble vom ersten bis zum letzten Moment. Regisseur Erik Petersen macht durch differenzierte Personenführung aus allen Bühnencharakteren eigenständige Persönlichkeiten mit einer Bandbreite an Verhaltensweisen und Emotionen. Niemand ist ausschließlich „gut“ oder „böse“.

Obercoole Jet-Gangmitglieder sitzen nach dem verhängnisvollen Ende des Kampfes weinend am Boden, der sonst so sanfte Kioskbesitzer Doc (Josef Michael Linnek) rastet förmlich aus, als er die Eskalation des Bandenkriegs miterleben muss, hartgesottene Sharks starren zu Tode erschrocken durch die blutverschmierte Scheibe des U-Bahn-Wagens, in dem Tony leblos am Boden liegt.

Anybodys, energisch dargestellt von Beatrice Reece, der man angesichts ihrer verzweifelten Versuche als Mädchen in die Gang aufgenommen zu werden, anfangs mit Sympathie begegnet, verspielt sich das Wohlwollen, als sie die Gang bei dem völlig grundlosen Übergriff auf Anita anfeuert, anstatt ihr zu helfen. Subtil und stimmlich auf den Punkt vermittelt Roy Goldman als Action dessen Wunsch nach Anerkennung, wird aber von Riff immer wieder unbewusst zurückgewiesen. Nach dem Tod des Bandenchefs ist der Job frei für Action. Das Entsetzen angesichts der Ereignisse lässt Goldman erst in der Schlusssequenz an den vor Grauen erstarrten Gesichtszügen erkennen.

west side story bonn 02Den einzigen humorigen Part der „West Side Story“ übernimmt mit Bravour Stefan Viering. In rosa Glitzeranzug und Sonnenbrille gibt er einen Elton John recht ähnlichen Glad Hand, der auf der Party vergeblich versucht, die verfeindeten Banden zu einem harmlosen Tanzspielchen zu bewegen. Daniel Berger als Lieutenant Schrank wirkt mit langen grauen Zotteln und Bandana weniger wie ein Police Officer, sondern eher wie ein ehemaliges Gangmitglied. So versucht er auch, mit plump-vertraulichem Gehabe den Jets Informationen zu entlocken, die ihm helfen, die Morde an Riff und Bernardo aufzuklären.

Riff hat einst mit Tony zusammen die Jets gegründet. So nah wie Brüder waren sich beide, bis Tony aus der Gang ausstieg – was Riff nicht wirklich nachvollziehen kann. Lucas Baier spielt den coolen Bandenchef mit aller Härte und lässt gleichzeitig auch dessen verletzliche Seite durchschimmern. Warum sonst würde er seinen Frust so vehement an einem Bahnhofsmitarbeiter auslassen, als Tony trotz Riffs „wir waren wie Brüder, Alter“ immer noch nicht beim großen Kampf dabei sein möchte? Eine glänzende Figur macht Baier bei den Kampfszenen. Seine druckvolle Stimme kommt vor allem im „Jet-Song“ bestens zur Geltung.

Ein besonderer Genuss ist es, Andreas Wolfram tanzen zu sehen. Kraftvolle Eleganz und immense Ausdrucksstärke beweist der ehemalige Tanzsportler mit jedem Schritt. Dass er auch ein hervorragender Sänger ist, kann er in der Rolle des Bernardo aufgrund fehlender großer Soli leider nicht umfassend zeigen, durchaus aber sein schauspielerisches Können. Als Anführer der Sharks gibt er sich unnachgiebig, über seine kleine Schwester Maria wacht er mit Strenge – zu ihrem Besten, davon ist er ehrlich überzeugt. Klar spielt Andreas Wolfram heraus, dass Bernardo nicht per se aggressiv ist, sondern mit seinem Verhalten auf die ständige Feindseligkeit reagiert, die ihm und seinen Landsleuten im freien Amerika entgegenschlägt. Dabei ist Tony ja auch nur „der verdammte Polacke Anton“.

Seine Freundin Anita ist es, die ihm den Unterschied erklärt: Tony ist in Amerika geboren, also Amerikaner. Bernardo nicht. An dieser Stelle kommt die Sinnlosigkeit von Rassenvorurteilen ganz ohne erhobenen Zeigefinger zum Ausdruck. Dazu trägt auch das nuancierte Spiel von Amani Robinson bei, das Anitas innere Konflikte greifbar macht: Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zu helfen und der unumstößlichen Meinung, dass Tony und Maria sowieso keine Chance haben, lässt sie sich überreden, Tony zu warnen, während Maria von Lieutenant Schrank verhört wird. Dies wird Anita zum Verhängnis. In der recht heftigen Vergewaltigungsszene, die in einem U-Bahn-Abteil spielt, spiegelt sich in Amani Robinsons Mimik der Wechsel von Wut zu purer Angst hervorragend wider. Stimmlich liefert Robinson ebenfalls auf ganzer Linie ab: Sprühend vor Lebensfreude bei „America“, melancholisch bei „Somewhere“ oder im versöhnlich endenden Streitduett mit Sybille Lambrich als Maria bei „A Boy Like That/I Have A Love“.

west side story bonn 03Selten, dass eine junge Künstlerin den Part der Maria so wunderbar ausfüllt wie Sybille Lambrich. Ihr Sopran gefällt bis in die Höhen mit weichem, klaren Klang. Im Duett „Tonight“ mit Jan Rekeszus harmonieren die Stimmen perfekt. Zudem lässt Sybille Lambrichs gut ausgearbeitetes Schauspiel Maria in jeder Phase authentisch wirken. Ist ihr Aufbegehren gegen hochgeschlossene Kleider und den für sie auserkorenen künftigen Ehemann Chino (Reginald Holden Jennings) zunächst eher mädchenhaft-verhalten, pocht sie zunehmend energisch auf ihre Eigenständigkeit, als sie sich unsterblich in Tony verliebt hat. Zur Höchstform läuft Lambrich auf, als dieser sterbend in ihren Armen liegt: Am ganzen Körper zitternd, steht ihr das fassungslose Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als sie wie von Sinnen zur Pistole greift.

Für Jan Rekeszus ist der Part des Tony wie geschaffen. Aus strahlendem Lächeln und leuchtenden Augen sprechen seine Gefühle für Maria. Hundertprozentig glaubhaft agiert Rekeszus als Frischverliebter, der mit einem simplen „ich liebe dich“ alle Hindernisse wegwischt. Er lässt aber auch immer wieder aufblitzen, dass dieser fröhlich-verliebte junge Mann zu den Anführern der Jets gehörte. Wütend brüllt er Riff an, der ihn unbedingt überreden möchte, beim Kampf dabei zu sein, mit erhobenen Fäusten geht er letztlich doch auf Bernardo los, nachdem dieser ihn immer weiter provoziert. Rekeszus‘ Mimik spiegelt in diesen Situationen alle Facetten zwischen dem Versuch Ruhe zu bewahren und purer Aggression. Neben der schauspielerischen Umsetzung punktet Jan Rekeszus vor allem mit einer Stimme, die wohl zu den schönsten der Musicalszene zählt. Seine Stimmführung ist exzellent, sein Stimmumfang beeindruckend. Ohne jegliche erkennbare Mühe singt er von sanften baritonalen Tonlagen bis in enorme Höhen. Zudem verfügt Jan Rekeszus über eine ausnehmend schöne Stimmfarbe und die Fähigkeit, Emotionen zum Klingen zu bringen. In Jan Rekeszus‘ Interpretation erstrahlt das oft gehörte Solo „Maria“ in völlig neuem Glanz. Ein Highlight in einer durchweg überzeugenden Produktion!

Cast, Orchester und Kreativteam machen gemeinsam die Bonner „West Side Story“ zu einem funkelnd-brillanten Theatererlebnis. Chapeau!

Text: Sylke Wohlschiess

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