Ein Muss:
Rezension „Show Boat" in Bad Hersfeld
Flirrende Hitze. Die Luft so drückend, dass man kaum atmen kann. Unbarmherzig brennt die Sonne auf... nein, nicht auf die Baumwollfelder am Mississippi. Obwohl man am Premierenabend in Bad Hersfeld nicht nur wegen des subtropischen Klimas denken könnte, der „Old Man River" fließe gleich hinter der Stiftsruine vorbei. Unter der Regie von Melissa King zeigt die grandiose Cast eine packende Umsetzung des Musicalklassikers „Show Boat".
Nichts von ihrer Aktualität verloren haben die Themen, die Jerome Kern (Musik) und Oscar Hammerstein II (Buch und Liedtexte) schon im Jahr 1927 in „Show Boat" verarbeiten: Es geht um Willkür und Rassendiskriminierung, gescheiterte Beziehungen und den teils ernüchternden Blick hinter die Kulissen des Showgeschäfts. Aber es geht auch um Hoffnung, Freundschaft und große Gefühle.
Die Liebesgeschichte zwischen dem Spieler Gaylord Ravenal und Magnolia, der Tochter des „Show Boat"-Kapitäns Andy Hawks, beginnt in den 1890er Jahren. Der Sezessionskrieg ist zu Ende, aber die Rassendiskriminierung dauert an. Wie selbstverständlich greift jeder ins „richtige" Wasserfass, das für „whites only" oder das für „colored only". Wie selbstverständlich nehmen die Schwarzen im Zuschauerraum des Theaterschiffs Cotton Blossom hinten auf Baumwollballen als improvisierten Sitzgelegenheiten Platz. Bühnenbildner Knut Hetzer benötigt nur wenige Requisiten, um die Stimmung greifbar zu machen. Ein Schiff sucht man vergeblich, nur das Oberdeck wird durch einen seitlichen Metallsteg angedeutet, unter dem riesige, drehbare Leuchtbuchstaben das Wort „Show" bilden. Auf vier einzelnen, frei beweglichen Kästen in Bühnenmitte sind vorne die Lettern B, O, A und T zu lesen. Dreht man diese Boxen um, klappen sie zu separaten kleinen Bühnenbildern aus, die Küche oder Kartenhäuschen darstellen. Ob es nötig ist, den Titel der Show so plakativ abzubilden, sei dahingestellt. Ein geschickter bühnenbildnerischer Kniff sind diese Buchstabenwürfel aber allemal, denn sie vermeiden große Umbauarbeiten, die in der Stiftsruine aufgrund der örtlichen Gegebenheiten schwierig sind.
Die zeitgemäßen Kostüme (Judith Peter) passen hervorragend ins Bild. In Chicago, nördlicher gelegen und etwas später im zeitlichen Ablauf, tanzen Schwarze und Weiße gemeinsam in rot-schwarzen, detailreich ausgestalteten Showkostümen vor Spiegeln und roten Vorhängen in den Nachtklubs. Vorher jedoch agiert das Ensemble streng getrennt. In gedeckten Braun- und Blautönen arbeiten die Schwarzen in sengender Hitze auf den Feldern und am Hafen. Die Weißen dagegen flanieren in entspanntem Nichtstun, mit Rüschenschirmen und in weißer Kleidung, die durch die stimmige Lichtregie (Ted Meier) noch zusätzlich zum Strahlen gebracht wird.
Besonders eng mit der Regie von Melissa King verzahnt ist die Nutzung der Apsis als Baumwollfeld. Die Rassentrennung ist tief in Fleisch und Blut übergegangen. Der kleinste Anlass kann offene Feindseligkeiten provozieren. Selbstjustiz ist weit verbreitet. Dies wird durch den weit hinten in der Apsis platzierten Galgen mit zwei Gehängten visualisiert, unterschwellig – die eigentliche Handlung läuft immer vorne auf der Bühne ab – und zugleich nachdrücklich. So schafft es Melissa King, die Situation der immer noch missachteten schwarzen Bevölkerung präsent zu halten und gleichzeitig das Hauptaugenmerk auf die Schicksale der Menschen auf dem „Show Boat" zu lenken.
Jede Rolle ist passend besetzt. Petter Bjällö und Nini Stadlmann als Frank Schultz und Ellie Mae Chipley, das komödiantische Paar, das später Filmkarriere macht, überzeugen stimmlich und schauspielerisch ebenso wie Siggy Davis als schwarze Schiffsköchin Queenie. Durch ihren starken Akzent leidet zwar die Textverständlichkeit erheblich, ihrer Leistung tut dies jedoch keinen Abbruch.
Michael Schanze brilliert als gutmütiger Kapitän Andy Hawks, der alle Mitglieder der Truppe als seine Familie betrachtet. So steht er nicht nur als Theaterchef vor einem Problem, sondern zeigt sich auch menschlich getroffen, als er seine Hauptdarstellerin Julie La Verne und ihren Ehemann, den „jugendlichen Helden" Steve Baker (Andreas Christ) verliert. Julies Mutter war eine „Negerin" und „Mischehen" sind verboten. Zwar entgehen beide einer Verhaftung - Steve saugt aus einem kleinen Schnitt in Julies Hand ihr Blut und hat durch diesen Trick nun selbst „Negerblut" in sich - sie müssen jedoch die Cotton Blossom verlassen. Gemeinsame Bühnenauftritte von Schwarz und Weiß werden keinesfalls geduldet. Hawks muss sich dem massiven Druck der Polizei beugen. Schanze meistert die ernsten Momente seiner Rolle hervorragend und verdeutlicht durch seine äußerst natürliche Darstellung, dass auf der Cotton Blossom Rassenunterschiede unwichtig sind. Ebenso gut gelingen die komödiantischen Szenen. Herrlich, wie er den gestelzten Gang seiner Frau Parthy nachäfft oder eine echte Prügelei als Teil einer Bühnenshow verkauft. Und als Käpt'n Andy kurzerhand alle Rollen selbst im Schnelldurchgang nachspielt, weil ein Zuschauer das dargestellte Theaterstück für bare Münze hält und den Bösewicht mit Gewehrschüssen verjagt, hat Michael Schanze vollends die Lacher auf seiner Seite.
Ihm zur Seite steht Inez Timmer als Hawks' sittenstrenge, konservative Ehefrau Parthy, die sich ins Leben auf einem Theaterschiff nur höchst widerwillig fügt. Sie unterbindet gnadenlos alles, was auch nur ansatzweise die Moral von Tochter Magnolia gefährden könnte. Auch der Käpt'n hört auf ihr Kommando. Wenn sie mit schriller Stimme „Andyyyy" heranpfeift, um ihn entrüstet über das Vorleben des schönen Gaylord zu informieren und für jeden eine bissige Bemerkung hat, zeigt sich das Können einer erfahrenen Schauspielerin, die ihre Rolle mit spürbarer Spielfreude ausfüllt. Dass die nach außen hin so unnachgiebige Parthy eine verborgene sanfte Seite hat, kann Timmer mit samtweicher Altstimme bei „Warum lieb ich Dich" zeigen. Diese Ballade, die zunächst Parthy für ihre Enkelin Kim singt, greifen Milica Jovanovic als Magnolia Hawks und Jan Ammann als Gaylord Ravenal im Duett auf, einer der berührendsten gesanglichen Momente.
Jan Ammann gelingt es, den facettenreichen Charakter des Gaylord Ravenal in jeder Phase glaubhaft darzustellen. Ravenal ist und bleibt ein Spieler. Aber während er anfangs mit jugendlichem Leichtsinn alle Schwierigkeiten einfach ignoriert – nicht einmal ein Mordverdacht scheint ihn wirklich zu beeindrucken - und seinen Charme gezielt immer und überall einsetzt, leidet er später zusehends unter seiner Spielsucht. Nicht einmal für seine große Liebe Magnolia kann er das Glücksspiel aufgeben. Er sieht den einzigen Ausweg darin, seine Familie zu verlassen. Besonders emotional spielt Ammann, als Ravenal seine Tochter Kim ein letztes Mal in der Klosterschule besucht. Man nimmt ihm die Verzweiflung über sich selbst und die Ausweglosigkeit seiner Situation sofort ab. Dass Kim ein fast identisches Kleid trägt, wie Magnolia bei der ersten Begegnung mit Gaylord, gibt der Szene zusätzlich Gewicht. Gesanglich kehrt Jan Ammann zur klassischen Technik zurück und kann so seine wunderbare Stimmfarbe aufs Beste zur Geltung bringen. Locker und fließend perlen die Töne, sein lyrischer Bariton ist unverwechselbar und fasziniert mit seiner Klangschönheit und Leichtigkeit.
Milica Jovanovic durchlebt als Magnolia Hawks die Entwicklung vom jungen Mädchen, das von Bühnenkarriere und großer Liebe träumt, hin zur erfahrenen Frau, die trotz bitterer Enttäuschungen an ihrer Liebe festhält und später tatsächlich zum Star im Rampenlicht wird. Magnolias Theaterlaufbahn beginnt auf der Cotton Blossom. Während sie noch den Verlust ihrer Freundin Julie betrauert, hat ihr Vater schon kurzerhand Gaylord Ravenal, in den sie sich bei einer zufälligen Begegnung am Pier augenblicklich verliebt hat, als neuen „jugendlichen Helden" engagiert. Sie selbst darf trotz der Missbilligung ihrer Mutter als Hauptdarstellerin einspringen. Für das Liebespaar ist es kein Problem, die Theaterküsse echt wirken zu lassen. Sie werden vom Publikum gefeiert, heiraten und ziehen bald nach der Geburt von Tochter Kim nach Chicago. Dort beginnt Gaylord wieder zu spielen. Abwechselnd lebt die Familie in Nobelherbergen und billigen Zimmern. Es kommt zur Trennung, Magnolia muss sich und Kim alleine durchbringen. Milica Jovanovic gelingt es hervorragend, die verschiedenen Lebensphasen zu zeichnen. Bei der ersten Begegnung mit Gaylord, das Duett „Du bist Glück" inszeniert als romantische Balkonszene, klingt ihre Stimme klar und heiter, ihr Schauspiel wirkt mädchenhaft-unschuldig. Die vielen bitteren Erfahrungen, die Magnolia im Lauf der Jahre machen musste, kommen in einer wunderbaren Akustik-Reprise von „Ich liebe meinen Mann" zum Ausdruck. Jovanovic legt alle Melancholie in ihre Stimme, greift selbst zur Gitarre und gibt dem Vorsingen im Trocadero so eine sehr direkte und bewegende Prägung.
Die erste, flotte Version singt Julie la Verne, sehr zur Verwunderung von Queenie, die dieses Lied „noch nie von einer Weißen gehört hat". Sophie Berner vermittelt wunderbar mit Tanz und Gesang die sprühende Lebensfreude des gefeierten „Show Boat"-Stars. Dass Julie wegen ihrer Herkunft die Cotton Blossom verlassen muss, wird zum alles verändernden Moment. Ihre letzte Probe im Trocadero - sie ist inzwischen alkoholabhängig und hat den früheren Elan völlig verloren - bringt sie nur mit großer Anstrengung hinter sich. Zufällig wird Julie Zeuge, wie Magnolia nach ihr vorsingt und ohne deren Wissen verzichtet sie, damit Magnolia ihren Job bekommt. Fantastisch, wie Sophie Berner eine zwischen Sarkasmus und Verbitterung gefangene Julie darstellt. Auch ihre Stimme klingt beim Song „Bill" rauher, wie von zuviel Rauch und Alkohol verbraucht.
Auch nach Jahren harter Arbeit kaum verbraucht, sondern anscheinend unverwüstlich wie der Mississippi selbst, ist Joe, der schwarze Schiffsarbeiter. Der Gehstock in seiner Hand zittert, die Haare sind grauer, aber seine würdevolle Ausstrahlung ist ebenso stark wie in seinen jüngeren Jahren. Walter Reynolds ist ohne jeden Zweifel der perfekte Mann für diese Rolle. Wenn er mit markanter, einprägsamer Baritonstimme das weltbekannte „Ol' Man River" intoniert und dabei fast reglos auf der riesigen Bühne steht, hat Reynolds eine geradezu unglaubliche Bühnenpräsenz. Die zahlreichen Reprisen des Liedes ziehen sich durch das Stück wie der Mississippi durch das Land. Ohne jemals pathetisch zu werden, vermittelt Reynolds eine emotionale Tiefe, die aus tiefster Seele zu kommen scheint. Eine Leistung, die nur als grandios bezeichnet werden kann.
„Show Boat" überzeugt mit wunderbaren Melodien, die vom 24-köpfigen Orchester unter Leitung von Christoph Wohlleben ihre volle Klangbreite entfalten. Das Musical hat im Gegensatz zu Edna Ferbers gleichnamiger Romanvorlage sogar ein Happy-End. Nach 20 Jahren kommt es auf der Cotton Blossom inmitten aller Freunde aus früheren Tagen zu einem Wiedersehen zwischen Gaylord und Magnolia. In Bad Hersfeld wird jegliche kitschige Tendenz des Schlusses durch die Ereignisse im Hintergrund sofort relativiert: Während auf dem „Show Boat" alle glücklich vereint sind, jagen Mitglieder des Ku-Klux-Klan Schwarze durch das Baumwollfeld. Geradezu gespenstisch wirkt, wie fast nebenbei ein drittes Opfer am Galgen stirbt. Durch dieses mutige Schlussbild bleibt das Hersfelder „Show Boat" sicher besonders nachhaltig in Erinnerung. Aber es wird auch deutlich, dass nicht auf Charme und Humor verzichtet werden muss, wenn es gilt, eine ernste Botschaft zu vermitteln. „Show Boat" in Bad Hersfeld ist ein Muss nicht nur für Genreliebhaber, sondern für alle, die gut gemachtes Theater und hervorragende schauspielerische und gesangliche Leistungen zu schätzen wissen.
Text: Sylke Wohlschiess
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