Gelungener Barrikadenkampf:
Rezension „Les Misérables" in Linz
Paris, Juni 1832: In der Bevölkerung wächst der Unmut, denn harte Arbeit für wenig Lohn bestimmt den Alltag der meisten Menschen. Als der volksnahe General Lamarque stirbt, wird der Trauerzug zu einer Demonstration gegen König Louis Philippe. Republikanische Studenten liefern der Armee heftige Kämpfe, rote Flaggen flattern auf eilends errichteten Straßensperren. Doch schon am nächsten Tag färben sich die Barrikaden blutig rot.
Vor diesem historischen Hintergrund spielt Victor Hugos Roman „Les Misérables", der Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alain Boublil (Buch) als Vorlage für ihr gleichnamiges Musical diente, das seit seiner Uraufführung im Jahr 1980 weltweit um die 65 Millionen Zuschauer gesehen haben. Nun erlebt man am Landestheater Linz das Leben und Leiden, die heftigen Gefühle und hehren Ideale des Jean Valjean, seines lebenslangen Widersachers Javert, der unglücklichen Éponine, des Studentenführers Enjolras und aller anderen.
Matthias Davids' Inszenierung ist bewusst zurückhaltend und lässt dem Stück genügend Raum, sich in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu entfalten.
Seine klare Personenführung ermöglicht den durchweg fantastischen Darstellern, den jeweiligen Rollencharakter authentisch umzusetzen. Im modernen Theatersaal mit seiner ausgezeichneten Akustik vereinen sich die grandiosen stimmlichen Leistungen der Gastsolisten, des Linzer Musicalensembles und des Opernchores unter der Musikalischen Leitung von Kai Tietje mit dem perfekten und zugleich einfühlsamen Spiel des Bruckner-Orchesters zu einem einmaligen Klangerlebnis, dem auch zwei kleine Mikrofonpannen keinen Abbruch tun.
Die Bühne wird dominiert von zwei riesigen schwarzen Elementen mit unterschiedlich großen Öffnungen, die flexibel positioniert und durch Projektionen ergänzt werden. So lässt Bühnenbildner Mathias Fischer-Dieskau auf der ansonsten fast leeren Fläche immer wieder neue Szenerien und Blickwinkel entstehen. Ein grünlich-grauer Himmel wabert um Fabrikschlote, beide Elemente ragen senkrecht am hinteren Bühnenrand in die Höhe und bilden so die Fabrikfassade. Separat platziert und durch Lichtbilder von geduckten kleinen Häusern verbunden, werden sie Teil der Pariser Straßenzüge, quer liegend entstehen aus den wuchtigen Rechtecken die Barrikaden vor effektvoll-rötlichen Wolkenwirbeln. Um die Kanalisation darzustellen, durch die Valjean mit dem verwundeten Marius flieht, werden die Barrikaden mittels Seilzügen einige Meter schräg angehoben, auf den Boden wird ein großes Gitter projiziert – schon blickt man direkt in die Pariser Kloake. Bis auf die doch etwas sehr schlicht wirkende Projektion bei der Hochzeit von Cosette und Marius schafft Fischer-Dieskau mit seiner schnörkellosen Bühnenausgestaltung ein ideales Umfeld, in dem auch die zeitgemäßen Kostüme bestens zur Geltung kommen.
Susanne Hubrich setzt ebenfalls auf Schlichtheit: die edlen Gewänder in hellen Stoffen ohne zu viel Zierrat, ansonsten größtenteils gedeckte Farben. Bei den Kostümen der „leichten Mädchen" und der Thénardiers kommt rollengerecht mehr Farbe ins Spiel. Oft lenkt die Farbwahl subtil die Aufmerksamkeit auf den tragenden Charakter einer Szene: So trägt Fantine ein malvenfarbenes Kleid unter ihrem grauen Arbeitskittel, die restlichen Arbeiterinnen dagegen Grün, Braun oder Grau. Gleiches gilt für die Barrikadenkämpfer; hier heben sich Enjolras in Rot und der kleine Gavroche in Blau aus der Menge heraus. Das gelungene Lichtdesign von Michael Grundner verstärkt diese Wirkung. Durch zwei Verfolgerspots über der Bühne stehen die Hauptfiguren nicht nur stets in richtigen Licht, sondern es entstehen eindrucksvolle Schatteneffekte. Wenn Javert in Uniform, den Zweispitz auf dem Kopf, mit festen Tritt die Bühne abschreitet, wirkt sogar seine Silhouette ehrfurchtgebietend.
Konstantin Zander personifiziert in kerzengerader Haltung, mit jeder Geste und jedem Gesichtsausdruck den verbissen-gesetzestreuen Inspektor, dessen einziges Credo „Ich bin hier das Gesetz, komm und gehorch" lautet. Mit seinem ausdrucksstarken Bariton, der für seine erst 26 Jahre eine überraschende Reife und Tiefe besitzt, wird „Sterne" zu einem der gesanglichen Höhepunkte. Javerts in Gut und Böse eingeteilte Weltordnung bricht auf einen Schlag in sich zusammen, als Valjean ihn während der Barrikadenkämpfe entkommen lässt. Diese für Javert verkehrte Welt wird durch die Kostüme optisch verstärkt: In „vertauschter" Kleidung stehen sich die Kontrahenten gegenüber. Javert hat seine Uniform abgelegt und sich mit ziviler Kleidung getarnt, Valjean dagegen trägt jetzt eine Uniform, mit der er unbehelligt hinter die Barrikaden gelangt, um dort für seine geliebte Ziehtochter Cosette auf die Suche nach Marius zu gehen. Nur schade, dass die szenische Umsetzung beim „Selbstmord" etwas einfallslos ist: Javert wird einfach auf einer kleinen Plattform im aufkommenden Nebel nach unten gefahren. Aber auf der fast völlig dunklen Bühne braucht Konstantin Zanders meisterhaftes Spiel keine zusätzlichen Effekte, um zweifelsfrei klarzustellen, dass dies der einzig gangbare Weg für Javert ist.
Ebenfalls eine Meisterleistung liefert Christian Alexander Müller als Jean Valjean ab. Während er anfangs als Sträfling 24601 etwas blass bleibt, passt Müllers zurückhaltende Spielweise im weiteren Verlauf der Handlung in bemerkenswerter Manier zur Rolle des Jean Valjean, der nicht nur seine Gedanken, sondern über weite Strecken seines Lebens auch seine wahre Identität vor der Welt geheim hält. Als er anfangs den Bischof von Digne (Ulf Bunde mit wunderschön gesungenem Solopart) bestiehlt und dieser ihm noch zwei Leuchter schenkt, anstatt ihn der Polizei zu überlassen, beweist Müller in „Valjeans Selbstgespräch", dass man nur mit Variationen im Gesangsstil die ganze Bandbreite an Emotionen vermitteln kann. Zuerst fast atemlos, mit abgehackten, verzweifelt hervorgestoßenen Worten, wandelt sich analog zur veränderten Gefühlslage auch der Gesang zu melodiösen Harmonien. Zu absoluter Höchstform läuft Christian Alexander Müller bei „Bring ihn heim" auf. Mit unglaublicher Leichtigkeit lässt er die Töne fließen, sein klarer Tenor klingt bis in die höchsten Noten sanft und warm. Der emotionalen Kraft seiner Darbietung kann man sich kaum entziehen, eine Gesangsleistung die tief berührt. Chapeau! Auch Müllers Darstellung des alternden Valjean, mit zittrigen Händen und Gehstock, wirkt zu jeder Zeit glaubhaft und wird von der äußerst gelungenen Maske (Mirela Muhovic) unterstützt. Valjeans Tod, bei dem die Verstorbenen auftauchen und ihn in ihr Reich geleiten, ist ein weiterer bewegender Moment, den die kluge Regie von Matthias Davids vor jeglichem Zuviel an Rührung bewahrt.
Für Thénardiersche Verhältnisse recht zurückhaltend agieren auch Rob Pelzer und Daniela Dett, was ihrer Glaubhaftigkeit aber nur gut tut. Etwas mehr Ausdrucksstärke hätte man sich bei Ariana Schirasi-Fard in der Rolle der Éponine gewünscht. Sie singt ein sehr schönes „Nur für mich", hätte aber ihre heimliche Liebe zu Marius vor allem in ihrer Sterbeszene noch mit mehr Inbrunst zum Ausdruck bringen können. Dass es zwischen Marius und Cosette funkt, wird dagegen sofort klar. Alen Hodzovic und Barbara Obermeier geben das perfekte verliebte Paar und machen „Mein Herz ruft nach Dir" zu einem wunderbar leichten, lebensbejahenden Moment inmitten all der Düsternis. Das „Dunkle Schweigen an den Tischen" holt Marius aber schnell ein. Alle seine Freunde sind auf den Barrikaden gestorben, auch Enjolras, den Riccardo Greco mit viel Leidenschaft und lässiger Anführerattitude darstellt. Marius versinkt in schwermütiger Erinnerung, seine Gedanken werden mit einer Wiederholung der Szene im ABC-Café am Bühnenhintergrund lebendig. Hodzovic gelingt sein großes Solo stimmlich einwandfrei und schauspielerisch überzeugend.
Mit der Leistung der Erwachsenen mithalten können auch die Kinderdarsteller: Dennis Mojsilovic spielt den mutigen Gassenjungen Gavroche ganz hervorragend und punktet vor allem mit seiner frechen, unbekümmerten Mimik. Auch Isabel Davies gefällt als verwöhnte kleine Éponine. Eine außergewöhnlich gute kleine Cosette gibt Emelie Trahan. Sie singt nicht nur die Partie erstaunlich sauber, ohne auch nur den allerkleinsten Kickser, sondern dosiert ihr Spiel so perfekt, dass die Qualen, denen die Kleine im Wirtshaus der Thénardiers ausgesetzt ist, erschreckend real aber in keiner Weise überzogen wirken.
Eine Besonderheit gab es noch am Premierenabend: Kristin Hölck stand zwar als Fantine auf der Bühne, hatte aber striktes Singverbot. Den Gesang übernahm vom Orchestergraben aus die extra aus Wien gerufene Carin Filipcic. Hölcks ergreifende szenische Darstellung lief exakt synchron mit Filipcics ebenso berührender Stimme. Zu keiner Zeit wirkte die umständehalber nötige Zweiteilung der Rolle störend, beide Künstlerinnen meisterten die ungewöhnliche Situation mit höchster Professionalität.
„Les Misérables" am Landestheater Linz ist Musiktheater wie es sein muss: Anspruchsvolle Handlung, mitreißende Musik, intelligente Umsetzung und – last but not least – Darsteller, die auf allerhöchstem Niveau agieren.
Text: Sylke Wohlschiess
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... und hier noch einige Szenenfotos aus "Les Misérables":