Rock-Spektakel um Liebe und Macht:
Rezension „Der Ring“ in Füssen
14.10.2018 - Rezension - Götter und Zwerge. Drachen und Helden, die sie bezwingen. Schöne Frauen. Und ein Ring mit unheilvollen Kräften: Die Nibelungensage, einer der ältesten germanischen Mythen, ist spannender als jeder Krimi. Ein bis heute unbekannter Autor hielt im Mittelalter die dramatische Geschichte im Nibelungenlied erstmals schriftlich fest. Über Jahrhunderte inspirierte der Stoff Dichter und Musiker. Richard Wagner hat für seine Operntetralogie „Der Ring des Nibelungen“ um die 18 Stunden veranschlagt, Frank Nimsgern braucht für „Der Ring – Das Musical“ nur knappe drei. Aber die haben es in sich.
Sein Musical ist keine abgespeckte Oper, sondern eine eigenständige Interpretation mit auf vier Hauptprotagonisten komprimierter Handlung: Zwerg Alberich gelangt in den Besitz des Ringes, lässt ihn sich aber von Göttervater Wotan wieder abluchsen. Daraufhin erschafft er Siegfried, der den inzwischen von einem Drachen bewachten Ring zurückholen soll. Dies gelingt. Aber auch der heldenhafte Drachentöter kann sich den Kräften des Rings nicht entziehen und sieht sich zwischen dem Reiz unbegrenzter Macht und seiner neu erwachten Liebe zu Wotans Tochter Brunhild hin- und hergerissen.
Frank Nimsgern, der als Musikalischer Leiter fungiert und zeitgleich selbst die E-Gitarre spielt, entwickelte das Konzept für das im Jahr 2007 an der Oper Bonn uraufgeführte Musical „Der Ring“ und komponierte die rockigen Songs, die vom ersten Moment an mitreißen und lange nachhallen. Druckvoller Beat und hämmernde Riffs, aber auch klangvolle Melodiebögen, deren Präsenz durch gut eingebaute Reprisen noch verstärkt wird. Wunderschöne Balladen, eingängige Uptempo-Nummern, auch mal ein Song im Folkrock-Stil und dazwischen der „Fisch-Rap“ – durchweg moderne Klänge, mit denen Nimsgern diese uralte Geschichte erzählt.
Song- und Sprechtexte stammen von Daniel Call. Passend zur Charakteristik der Figuren lässt er diese teils sehr einfache Reime sprechen. Für Wotan gibt es dagegen tiefgründige Formulierungen wie „Harmonie entsteht aus der Ferne, ist man sich nah, wird man gemein“ und Alberich punktet mit schonungsloser Offenheit: „Was die Macht aus den Menschen macht, hat mich richtig hochgebracht“ singt er – und legt damit den Finger in die Wunde.
Denn wie Menschen reagieren, wenn sie sich in Machtpositionen wiederfinden, ob sie ihren Einfluss missbrauchen oder sinnvoll zum Nutzen der Gesellschaft einsetzen, das ist eines der großen Themen, die nicht nur in der Sagenwelt, sondern auch in unserer Realität für Zündstoff sorgen.
Benjamin Sahler und Christopher Brose bringen die Fassung, die Regisseur Reinhardt Friese und Bühnenbildner Herbert Buckmiller für „Der Ring – Das Musical“ erstmals 2016 am Theater Hof inszenierten, entsprechend explosiv auf die Bühne des Füssener Festspielhauses und ziehen gekonnt alle Register, die das Haus bietet.
Da ist zunächst die riesige Drehbühne, die abwechselnd den Blick in die Ober- und die Unterwelt freigibt. Wotans Reich, Walhall, erscheint elegant und weitläufig, in kühl-vornehmem Blau ausgeleuchtet, mit weißer Treppe, überdimensionalem Kronleuchter, großen Fensterflächen und wenigen erlesenen Möbelstücken. Alberichs in aggressives Rot getauchtes Nibelheim ist das krasse Gegenteil: Alles ist eng und gedrückt. Wie Käfige wirken die kleinen Kammern des langgestreckten schmalen Aufbaus, zu dessen zweiter Ebene einfache Leitern führen.
Eine Besonderheit ist zweifellos der 90.000 Liter fassende Bühnensee inklusive Fontäne. Mit Stühlen im Wasser und tropfensprühenden langen Mähnen bringen die Tänzerinnen und Tänzer bei Siegfrieds Solo im 2. Akt den See förmlich zum Kochen. In perfekter Kombination aus Erotik und Eleganz tanzen Michaela Praher, Kristy Ann Butry, Ann Kathrin Wurche, Julie Martin, Marlou Düster, Vera Horn, Sebastian Wunder, Michael Fiech, Gregor Continanza und Valerio Croce die von Marvin A. Smith erdachte Choreographie.
Die modernen Schrittfolgen, anspruchsvoll und ausgefallen zugleich, die zudem die Tänzer als Vasallen des jeweiligen Herrschers nahtlos in die Handlung einbinden, tragen ebenso wie Tino Tieslers grandioses Lichtdesign viel zur atmosphärischen Spannung bei, die „Der Ring – Das Musical“ auszeichnet. Wenn weiße Laser die Nacht durchschneiden und sich mit glitzernden Wassertropfen, Nebel, gelb angestrahlter Fontäne und dem Lichterhimmel verbinden, entstehen atemberaubende visuelle Eindrücke. Auch Kostüme (Annette Mahlendorf) und Maske (Maja Storbeck) passen stets ideal ins Gesamtbild.
Das lässt fast verschmerzen, dass der Ton mit dem sonstigen Niveau der Produktion nicht mithalten kann. Chorstimmen und Teile der Musik werden eingespielt. Bei der heutigen Technik wäre das gar nicht unbedingt störend. Wenn allerdings die Livestimmen und die von Frank Nimsgern (Gitarre), Dr. Konstantinos Kalogeropoulos (Keyboard), Stefan Engelmann (Bass) und Stephan Schuchardt (Drums) virtuos live gespielten instrumentalen Parts mit den Playbacks keine homogene Einheit bilden, trübt das den Hörgenuss. Die Stimmen, ausgesteuert mit viel Hall, sind gegenüber dem Orchester zu leise, was zu Lasten der Textverständlichkeit geht.
Vor diesem Hintergrund ist Benjamin Sahlers Idee, die Texte der aus dem Off tönenden Erzählerstimme auf die Leinwand zu projizieren, besonders sinnvoll. Der Erzähler verbindet die Szenen, indem er die Vorgänge nochmals erklärend zusammenfasst, seine Worte zu verstehen, ist unabdingbar. Beim Ton muss auf jeden Fall nachgebessert werden.
Tadellos gewählt dagegen ist die Besetzung der einzelnen Rollen.
Der Alberich-erprobte Chris Murray gibt den „ekligen Zwerg“ mit großer Stimme und ebenso großer Schauspielkunst. Dabei beeindruckt er nicht nur mit dem dröhnend-bedrohlichen Solo „Macht“, sondern ebenso mit dem nachdenklichen „Steig hinab kleiner Mann“. Alberichs bissig-ironischen Witz, seine gehässigen Kommentare und demonstrative Langeweile angesichts der zwischen Siegfried und Brunhild erwachenden Gefühle bringt Chris Murray messerscharf auf den Punkt. Besonders faszinierend, wie Murray nicht nur seine Körperspannung und Gestik exakt rollengerecht ausrichtet, sondern wie sich auch seine Mimik völlig verändert. Der Darsteller verschwindet komplett hinter dem Gesicht der Rolle – eine unglaubliche Leistung! Dabei schrecken Chris Murray auch ungewohnte Situationen nicht, singt er doch die komplette erste Szene teils bis Brusthöhe im Wasser stehend.
Dort in den Fluten des Rheins trifft Alberich auf die Rheinamazoni Zärtlichkeit, Lust und Schmerz, die reichlich naiven Töchter Wotans, denen er den Ring der Macht entwendet. Kathy Savannah Krause, Kristin Backes und Stefanie Gröning zeigen sich in rot-, bronze- und goldfarbenen hautengen Paillettenkleidchen als eingespieltes Trio mit unterschiedlich gefärbten Sopranen. Der starke Belt von Kathy Savannah Krause, die ausgefallene Stimmfarbe von Kristin Backes, die ausgesprochen klare Artikulation von Stefanie Gröning: Die drei harmonieren und ergänzen sich aufs Allerbeste, egal ob im Wasser beim lockenden „Dreifach die Triebe“ oder an Land beim lockeren „Fisch-Rap“.
Dort treffen die drei Amazoni auf den eben erst von Alberich erschaffenen Siegfried, der zwar wenig Probleme mit dem Drachen und dem schwertschwingenden Wotan hat, aber einigermaßen irritiert vor so viel geballter Weiblichkeit steht.
Christopher Brose bringt die naive Unschuld des gestählten Kämpfers wunderbar in die Rolle ein. Dass er optisch einen Ideal-Siegfried abgibt, darf er beweisen, indem er die Rüstung öfter mal ablegt und den perfekt durchtrainierten, golden schimmernden Oberkörper zeigt. Brose überzeugt aber bei weitem nicht nur mit Muskeln, sondern gleichermaßen mit enorm starker Rockstimme, deren ganze Power sich in jedem Solo von neuem entfaltet. Auch auf die leisen Töne versteht sich der unerschrockene Held: Im etwas schlagermäßigen „Lass es Liebe sein“, singt Christopher Brose im Duett mit Anke Fiedler, die Wotans Lieblingstochter Brunhild Stimme und Gestalt verleiht.
Anke Fiedler schreitet in elegantem weißen Kleid mit natürlicher Grazie durch das Reich ihres Vaters Wotan, dessen gelangweilter Arroganz sie zunehmend skeptisch gegenübersteht. Brunhilds Kritik äußert sich im Solo „Kleine Fallen“. Ihren klangschönen Mezzosopran führt Anke Fiedler sicher durch Höhen und Tiefen, klingt mal wütend, mal leise verzweifelt. Sie verbindet Emotion und Stimmvolumen und überzeugt damit auf ganzer Linie. Fiedlers Spiel vermittelt klar Brunhilds Konflikt: Sie liebt ihren Vater, kann seinen Allmachtsanspruch aber nicht mehr tolerieren, vor allem, da er mit gefährlichem Desinteresse verbunden ist. Brunhilds Ansicht nach fehlen Wotan Werte, die seine Herrschaft rechtfertigen. Sie sieht keinen Ausweg, tötet Wotan und beeinflusst auch Siegfried, sich ebenfalls gegen seinen Vater zu wenden.
Dass Wotan, des Ringes beraubt und damit sterblich geworden, dann tatsächlich nicht überlebt, überrascht ihn selbst vermutlich am meisten.
Jan Ammann leidet mit schmerzvoll-verwunderter Miene und stirbt einmal mehr einen beeindruckenden Bühnentod. Dabei hat für den Göttervater alles so gut angefangen: In pelzverbrämtem weißen Mantel schreitet er ehrfurchtgebietend durch das neu erbaute Walhall, inkognito in schwarzem Lackmantel holt er den Ring aus Alberichs Unterwelt zurück und jeder zittert, wenn er wutentbrannt seinen Götterstab zur Erde donnert.
Auch die lässige Überheblichkeit des gelangweilten Göttervaters bringt Jan Ammann überzeugend auf die Bühne. Ammanns Bühnenpräsenz, effektvoll betont durch die Wunde über dem linken Auge, ist sprichwörtlich. Stimmlich zeigt er ebenfalls eine hervorragende Leistung: Wotans Soloparts und Duette sind wie geschaffen für seinen unverwechselbaren Bariton.
Eine weitere Figur ist ebenfalls authentisch: Der Drache. In ihm stecken die jeder für einen Körperteil zuständigen Ensemblemitglieder. Zusammengesetzt ergibt sich ein riesiges Untier, gegen das selbst Hüne Siegfried klein erscheint. Der Kampf zwischen den beiden wird so zu einem weiteren der zahlreichen effektvollen Momente in „Der Ring – Das Musical“.
Diesem prächtigen Bühnenspektakel mit grandiosen Darstellern, energiegeladenen Kompositionen und imposantem Bühnen- und Lichtdesign wünscht man eine baldige Wiederaufnahme im Festspielhaus Füssen. In diesem vielleicht schönsten Theater der Welt schließt sich auch der Kreis zum „Hausmusical Ludwig²“, war doch König Ludwig II. Richard Wagners größter Fan und Förderer. Heutzutage würde dem Märchenkönig „Der Ring – Das Musical“ sicher ebenso gut gefallen.
Text: Sylke Wohlschiess
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Fotogalerie 1. Akt
Konzertbericht „Der Ring - Das Musical“ konzertant, Oktober 2018 in Füssen
Darstellerprofil Chris Murray (dort weitere links zu Rezensionen von Stücken und Konzerten mit Chris Murray)
Fotos und ausführlicher Bericht von der Pressekonferenz des Festspielhauses Füssen mit Alberich-Darsteller Chris Murray und Komponist Frank Nimsgern