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Königsträume:
Rezension „Ludwig²“ in Füssen

Ein Schuss zerreißt die nächtliche Stille. Eine helfend ausgestreckte Hand greift ins Leere. Gleich darauf ein zweiter Schuss. Dann legt sich ewiges Schweigen über den See.

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Das Musical „Ludwig² - Der König kommt zurück!“ bezieht unter Benjamin Sahlers Regie eindeutig Stellung zum Tod des Märchenkönigs: kein Unfall, kein Suizid – Mord! Just in dem Moment, als Dr. Gudden die geistige Klarheit des Königs erkennt und im Dialog der beiden deutlich wird, dass der Psychiater, seinerzeit einer der fortschrittlichsten Mediziner seines Fachgebiets, sein unter Druck abgegebenes Gutachten revidieren würde, setzen zwei Kugeln diesem Ansinnen ein jähes Ende.

Das Schicksal hat dem Wunsch des Königs entsprochen, ein „ewig Rätsel bleiben“ zu wollen. Bis heute ist sein Ende im Starnberger See ungeklärt. Auch das Musical mit den poetischen Texten von Rolf Rettberg und den ergreifenden Melodien der Komponisten Konstantin Wecker, Nic Raine und Christopher Franke kann keine neuen Erkenntnisse liefern. Natürlich nicht. Aber Regisseur Sahler arbeitet mit seiner chronologischen Erzählweise die komplexen Zusammenhänge heraus, die letztlich zur Eskalation der Ereignisse führen.

Man blickt auf Stationen des königlichen Lebenswegs: Konfliktbeladene Kindheitsmomente, ergreifende Szenen auf der Roseninsel, fröhliches Treiben unterm Regenbogenapparat, aber auch konspirative Treffen der Königsgegner um Graf Rettenberg, Gewissenskonflikte und sich überschlagende Ereignisse in Ludwigs letzten Tagen. In besonders einschneidenden Lebenssituationen erscheint Prinz Ludwig, der sein erwachsenes Ich an die Träume seiner jungen Jahre gemahnt und deren Umsetzung einfordert.

Die Inszenierung aus 2016 wurde stringenter und tiefgründiger gestaltet. Die handelnden Personen interagieren direkter, Details wie ein fester Händedruck oder Blickkontakte werden intensiviert. Das sind nur Nuancen, aber genau diese sorgen für deutlich mehr Emotionalität. Zusätzlich wurden die technischen Möglichkeiten verbessert. So bietet sich dem mit spürbarer Hingabe agierenden Ensemble die perfekte Ausgangsbasis für eine durchweg authentische Umsetzung.

ludwig fuessen 2017 04Monika Staszak berührt als Ludwigs Kindermädchen Sybille Meilhaus mit natürlichem Spiel und weich fließendem Sopran. Die tiefe Zuneigung zu ihrem Schützling bringt sie nicht nur beim Wiegenlied „Mein Ritter“ vortrefflich zum Ausdruck, auch bei der Überbringung von Richard Wagners Todesnachricht nimmt sie den gramgebeugten König mit mütterlicher Zuneigung in die Arme, was die lebenslange Verbundenheit der beiden verdeutlicht.

Mit bewundernd aufgerissenen Augen versinkt Dorothea Baumann in der Rolle der Sophie von Bayern in schwärmerischer Anbetung Seiner Majestät. Der scheue König aber entscheidet sich für Flucht statt Verlobung. Da helfen auch die vehementen Verkupplungsversuche von Sophies Mutter Ludovica nicht, die von Marina Krauser mit herrlichem Minenspiel und druckvoller Stimme interpretiert wird.

Anna Hofbauer gibt mit glasklarem Sopran eine ausgesprochen energische Kaiserin Elisabeth von Österreich. Ihre Haltung ist von adliger Würde, ihr Blick bei allen offiziellen Anlässen hoheitsvoll in die Ferne gerichtet. Nur in den Momenten mit ihrem Cousin Ludwig II. fällt die Fassade der unnahbaren Schönen, wobei sie, im Gegensatz zu Ludwig, stets die Realität im Auge behält und seine allzu stürmischen Annäherungen entschieden zurückweist.

Das eingängige Terzett „In uns’rem Herzen“ von Sybille, Sophie und Sisi eint die unterschiedlich gefärbten Stimmen der Sopranistinnen Staszak, Baumann und Hofbauer zu wunderbaren Harmonien von großer Eindrücklichkeit, wie auch das Musical insgesamt einen außergewöhnlichen Spannungsbogen entfaltet, der durch die facettenreiche Partitur perfekt abgebildet wird.

Es ist schade, wenn auch aus Kostensicht verständlich, dass kein Liveorchester spielt. Die Vehemenz der Instrumentalparts bei den Kriegsszenen, die Dynamik der Gesamtkomposition und die zeitlose Schönheit der Melodien wären dann noch besser zur Geltung gekommen. Die Qualität der Aufnahme und auch die Tonqualität im Saal ist aber einwandfrei. Wirklich ärgerlich und zudem vermeidbar ist vielmehr, dass auch ein Großteil der Chöre nicht live gesungen wird.

Die Kulissen sind reduzierter als früher, was einen ganz eigenen Eindruck von Weite schafft. Benjamin Sahler hat Gerd Friedrichs noch vorhandene Originalbühnenbilder sehr gelungen mit Tino Tieslers modernem Lichtdesign und einigen Projektionen verwoben. Wände fahren auf und ab, Requisiten mit der Drehbühne herein und hinaus. Ein atemberaubender Anblick ist nach wie vor der Fall des überdimensionalen roten Vorhangs. Der tief in seiner Trauer versunkene König hüllt sich bei „Das Herz so schwer“ darin ein, schreitet nach vorne und zieht den leichten Stoff mit sich, der wellenartig hinter ihm zu Boden schwebt.

ludwig 35aStar des Bühnenbildes ist der abdeckbare See unterhalb der riesigen Drehbühne, der nicht nur bei der Todesszene eine wichtige Rolle spielt. Geleitet von einem Schwan, elegant im Wasser getanzt von Stefanie Gröning, bringt ein Boot den Prinzen zum gegenüberliegenden Ufer. Dort wird er von seinem älteren Ich in Empfang genommen – eine sinnfällige Umsetzung des Zeitsprungs in der Handlung.

Den „Familienkrach im Hause Wittelsbach“ sieht man mit den Augen des eingeschüchterten kleinen Ludwig, daher die geradezu comicähnliche Überzeichnung der Szene. Stefanie Kock tobt als seine unbarmherzig strenge und unsensible Mutter Marie von Preußen mit schriller Wut quer durchs Speisezimmer und macht es dem Herzen ihres Gatten Max II. von Bayern (Oliver Frischknecht) ganz schön schwer, bei so viel „protestantischer Blaustrümpfigkeit“ nicht aus dem Takt zu geraten. Die Kürzung tut der Sequenz gut.

Der Soldatenmonolog dagegen ist einer der Szenenübergänge, die noch optimiert werden könnten. Zwar wird er von William Cohn mit tiefer Stimme fantastisch gesprochen, aber die Schrecken des Krieges werden bereits mit der vorigen Szene eindrucksvoll genug visualisiert: Unter blutrot waberndem Himmel kämpfen und sterben Soldaten zwischen stechend-weißen Laserstrahlen, auch Zivilisten fallen im Kugelhagel, während im Hintergrund überdimensionale Skelette bedrohlich aufragen. Dies braucht keine verzögernde Verstärkung durch gesprochene Worte.

Julian Wejwar spielt den als Opfer dieses Krieges in geistige Umnachtung gefallenen Prinzen Otto, Ludwigs Bruder, der in Guddens Privatklinik behandelt wird. Patienten stolpern mit leerem Blick von links und rechts herein. Sie ziehen weiße Stoffbahnen hinter sich her, die sie in der Bühnenmitte fallen lassen – ein inszenatorisch starker, sehr beklemmender Moment. Inmitten dieser Atmosphäre bringt Wejwar den schmalen Grat zwischen Ottos wenigen lichten Momenten und völliger Desorientiertheit mit Bedacht zum Ausdruck. Er agiert schauspielerisch eher zurückgenommen, lässt aber im Solo „Die Nacht marschiert“ stimmlich seinen Seelenqualen freien Lauf.

ludwig fuessen 2017 05William Cohn als skrupelloser Waffenfabrikant Kaspar schert sich wenig um solche Auswirkungen seiner Geschäfte. Störfaktor bei der Gewinnmaximierung ist nur der allzu friedens- und wagnerliebende König. Gemeinsam mit dem wankelmütigen Grafen Holnstein (Pablo Botinelli, der auch als verschrobener Regenbogenmaschinenerfinder brilliert), Harald Tauber als Graf Rettenberg, der nichts als Verachtung und Spott für den König übrig hat und treibende Kraft beim Hochverrat an ihm wird, und dem um seine Macht als Vorsitzender des Ministerrates fürchtenden Freiherrn von Lutz (Oliver Polenz) spinnt er ein Netz aus Intrigen. Psychiater Gudden wird mit den Verlockungen von Geld und wissenschaftlichem Ruhm ebenfalls hineingezogen – sein Gutachten soll den König für geisteskrank und damit automatisch für regierungsunfähig erklären.

Dass auch er als Mitwisser zum Opfer wird, hätte Dr. Gudden wohl nicht gedacht. Alexander Kerbst spielt einen zurückhaltenden, vornehmen Mediziner, der den Verschwörerkreis zwar sichtlich verachtet, sich aber trotzdem kaufen lässt. „Soll das die Zukunft sein?" fragt er mit tiefer, bebender Stimme. In Kerbsts Interpretation spiegelt sich der innere Konflikt Guddens zwischen seiner Ehre als Mediziner und dem auf Gelder angewiesenen Klinikleiter in feinen Nuancen wider. In den Stunden in Schloss Berg wird Kerbsts Spiel genau in dem Maße offensiv, wie sich Gudden mit der Erkenntnis seiner Schuld und seines Irrtums angesichts eines zwar exaltierten, aber keinesfalls verrückten Königs konfrontiert sieht.

Als Handlanger des Todes muss der Schattenmann herhalten, der in Gestalt von Kevin Tarte sehr effektvoll wie aus dem Nichts mit Hut und langem, schwarzem Mantel auftaucht. Die gesanglich höchst anspruchsvolle „Schattenarie“ meistert Tarte mit enormem Stimmvolumen, untermalt mit bösartigen Blicken, die dem düsteren Rollencharakter perfekt entsprechen.

Auch der letzte Getreue des Königs kann ihn nicht mehr retten. Oedo Kuipers erscheint äußerlich sehr jungenhaft in der Rolle des Grafen Dürckheim, der nur fünf Jahre jünger als Ludwig war. Hier hätte die Maske mehr tun müssen, zumal der König im zweiten Akt deutlich altert, Dürckheim aber nicht. Auch das lustige Hüpfen des Grafen bei „König Technik“ mutet eher befremdlich an – eine Passage, die man vielleicht noch einmal überdenken könnte.

ludwig fuessen 2017 02Oedo Kuipers' darstellerische und stimmliche Leistung ist dagegen ohne Fehl und Tadel. Mit festem Blick und aufrechter Haltung vermittelt er seine unverbrüchliche Treue zum König, die in „Freundschaft“ auch stimmlich besiegelt wird. Kuipers verfügt über eine auffallend angenehme, warme Stimme, die er gekonnt einsetzt. Er und Jan Ammann als König Ludwig II. harmonieren vorzüglich und liefern ein großartiges Duett.

Bereits 2005, in der Uraufführung des Musicals „Ludwig²“, war ein hervorragender Jan Ammann in der Titelrolle zu sehen. Zwölf Jahre später kann man seine Leistung als König Ludwig II. von Bayern nur als sensationell bezeichnen.

Mit der klassischen Gesangstechnik entfaltet sich die ganze Schönheit seiner Stimme. Ammanns Stimmumfang ist immens, seine Stimmführung präzise und zugleich geprägt von außergewöhnlicher Leichtigkeit. Scheinbar vollkommen mühelos perlen die hohen, zarten Töne, voller Dynamik und mit schier unglaublichem Volumen meistert er ein Solo nach dem anderen. Erfüllt von schmerzlicher Poesie erklingt „Geliebte Berge“. „Kalte Sterne“ wird zu einem gesanglichen Glanzpunkt voller Gefühl und von tief berührender Dramatik.

Auch schauspielerisch gibt sich Ammann ganz in die Rolle. Die Thronrede zeigt einen unsicheren jungen König, der fast wie aus einer anderen Welt erscheint. Wie dieser Feingeist an der Realität scheitert, zeigt Ammann im zweiten Akt in atemberaubender Intensität: beängstigende Wutausbrüche, hilflose Gesten angesichts des kranken Bruders, irr' verdrehte Augen unter Guddens Hypnose. Jan Ammann durchlebt jede Gefühlsregung des Königs, seine emotionalen Abgründe ebenso wie die euphorischen Momente. Dabei vermeidet er jegliche Überziehung, sondern bleibt immer exakt im Rahmen dessen, was man aus heutiger Sicht zwar als exaltiert und extrem, aber niemals als psychisch krank definiert. Chapeau!

ludwig fuessen 2017 01Bei aller Dramatik kommt auch der Humor nicht zu kurz: In heller Panik wirft Ludwig Wittelsbach die Lauschmuschel“ von sich, als der seltsame Apparat, Telefon genannt, plötzlich schrillt. Umwerfend, wie Ammann mit verhalten angedeuteten Schrittchen den unbeschwerten Tanz des Volkes nachahmt und mit einem königlich-hochmütigen Augenzwinkern den polternden Rettenberg in seine Schranken weist.

Ein besonderer Monolog ist am Ende des zweiten Aktes platziert: König Ludwig II. gab 1882 dem amerikanischen Journalisten Lew Vanderpoole ein Interview, dessen bewegender Originalwortlaut sich nun im Musical teils wiederfindet. Das Zitat „Gehen Sie leise, denn Sie gehen auf meinen Träumen“ stammt zwar nicht aus diesem Kontext, sondern aus einem Gedicht von William Butler Yeats, aber es schließt die Szene geradezu perfekt. Ammanns ausdrucksstarke Interpretation lässt Historie und Bühnenstück verschmelzen – eine schauspielerische Meisterleistung und ein wahrhaft traumhafter Theatermoment.

Die Todesnacht im Starnberger See ist zweifellos die bislang beste Umsetzung dieser Szene und nun inszenatorisch unmittelbar ans Finale angebunden: Unter den Textzeilen „König Ludwig hör' uns schwören, du lebst weiter in uns allen“ wird ein Holzkreuz in den See getragen und dort abgestellt, eine Reminiszenz an das Aufstellen eines solchen Kreuzes im Starnberger See schon kurz nach dem Tod des Königs.

Wovon Ludwigverehrer und Musicalfans gleichermaßen träumten, wurde 2016 wahr: Benjamin Sahler und sein Team holten den König zurück ins Festspielhaus Füssen. Nun ist auch die besondere Magie des Musicals „Ludwig²““ wieder erwacht. Der Königstraum geht weiter.

Text: Sylke Wohlschiess

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