Was geschah nach Jesu‘ Tod?
Rezension „Maria Magdalena“ in Hallenberg
Dezember 1945, Nag Hammadi: Ein schwarzer Mercedes fährt an einer Ausgrabungsstätte vor. Weiß gekleidete Arbeiter graben unter der heißen Sonne Ägyptens. Ein irdenes Gefäß wird gefunden, uralte Papyrusrollen darin. Ungläubiges Staunen, als der Gelehrte daraus vorliest: „Und die Gefährtin des Erlösers ist Maria Magdalena. Er liebte sie mehr als alle Jünger und küsste sie oft auf den…“. Just im Moment, als der Text abbricht, geht die Rahmenhandlung nahtlos, fast wie eine filmische Überblendung, in die eigentliche Geschichte über.
Es ist der Tag nach Jesu‘ Kreuzigung, Maria weint an seinem Grab. „Das war doch dieser Prediger?“ fragt mitleidig ein Römer. Wer Jesus war, ist klar. Aber – wer war eigentlich Maria Magdalena? Mit dieser Frage befasst sich Autorin Birgit Simmler in ihrem Musical „Maria Magdalena“, das auf der Freilichtbühne Hallenberg erstmals aufgeführt wird und zu dem Paul Graham Brown eine abwechslungsreiche Partitur komponiert hat. Zwar bleibt keine Melodie sofort im Ohr, aber die einzelnen Lieder sind auf die Bühnencharaktere und die Handlung gut abgestimmt und können auch von Laien gemeistert werden.
Das gilt es zu bedenken, denn in Hallenberg stehen durchweg Amateurschauspieler auf der Bühne. Die schauspielerischen Leistungen sind beachtlich, auch die von Silvia Salzbauer einstudierten Chorgesänge gelingen ganz hervorragend. Bei den Solopartien gibt es dann doch häufiger falsche Töne und vor allem nicht immer sicher geführte und tragende Stimmen. Was an Gesangstechnik und Erfahrung fehlt, wird durch Begeisterung wettgemacht. Nicht zuletzt erfordert es auch eine gehörige Portion Mut, sich vor 1.400 Zuschauern singend auf eine Bühne zu stellen. Alleine deshalb gebührt den Akteuren Respekt und Anerkennung.
Birgit Simmler, die auch Regie führt, dirigiert das über 50-köpfige Ensemble mit sicherer Hand über die 90 Meter breite Naturbühne. Ausgetretene Stufen durchziehen den ehemaligen Steinbruch, der über mehrere Ebenen bespielbar und von einer bewachsenen Felswand begrenzt ist. Säulen ragen auf der linken Bühnenhälfte empor, dort befindet sich der Tempel, in dem der Hohe Rat der Juden sich mit der römischen Besatzungsmacht arrangiert und gegen die Anhänger Jesu‘ agiert. Rechterhand wurde Marias Haus errichtet, das zum Versammlungsort der Jünger und Gläubigen wird.
Alle Szenenübergänge sind exakt ausgearbeitet, die riesige Bühne wird zu jedem Zeitpunkt optimal genutzt. Eingefrorene Szenenbilder auf der einen Bühnenseite lenken die Aufmerksamkeit auf die Ereignisse, die auf der anderen Seite ablaufen. Das zweigeteilte Bühnenbild verdeutlicht die Kluft zwischen der neuen und der alten Religion. Ohne triftigen Grund wechselt niemand auf die „Gegenseite“, weder räumlich noch im übertragenen Sinne.
Solch‘ einen Grund hat zunächst der Römer Lucius. Von den geheimen Versammlungen in Marias Haus hat der Hohe Rat Wind bekommen. Rüdiger Eppner ist als Ratsmitglied Gamaliel nicht nur eine äußerst ehrfurchtgebietende Erscheinung, sondern auch stimmlich sehr präsent. Gemeinsam mit den anderen überlegt er „Wie den Messias zerstören“. Sie schicken Lucius als Spitzel zu Maria. Doch es kommt anders als erwartet: Lucius ist von der christlichen Botschaft tief bewegt und fühlt sich sogleich zu Maria hingezogen. Mit der fröhlichen Melodie „Götter“ bringt er ihr augenzwinkernd die Aufgabenteilung der römischen Götter nahe. Stefan Pippel kombiniert Bühnenpräsenz mit emotionalem Spiel und vermittelt dadurch sehr glaubhaft die aufkeimenden Gefühle. Das Duett „Näher bei mir selbst“ überzeugt mit schöner stimmlicher Harmonie zwischen Stefan Pippel und Manuela Winter, die in der Titelrolle die Hauptverantwortung des Stücks schultert.
Gleich mit ihrem ersten Solo „Marias Lied“ lässt ihre sanfte, klangschöne Altstimme aufhorchen. In tiefer Trauer hält sie Zwiesprache mit dem Toten und findet die Kraft, seine Lehre weiter zu tragen. Als die Jünger sich aus Angst weigern zu predigen, zeigt Manuela Winter Marias kämpferische, fast aggressive Seite. Ohne es zu beabsichtigen, nimmt sie allmählich die Rolle ein, die früher Jesus innehatte: Zu ihr kommen nun die Kranken, sie spricht in den Versammlungen, sie stellt sich dem Feind – und auch sie zweifelt an sich. Aber sogar als beim von Saulus gelegten Brand in ihrem Haus ihr Sohn Ismael umkommt, bleibt Maria ihren Grundsätzen treu. Manuela Winter spielt sich mit viel Gefühl und großer Ausdruckskraft durch alle Facetten von Marias Gefühlswelt und zeichnet ein glaubhaftes Charakterportrait einer starken Frau.
Der erste, den Maria zum neuen Glauben bekehrt, ist Stephanus. Von Kopf bis Fuß ist Helmut Mause der reiche Händler, der vom Skeptiker zum Verfechter der christlichen Lehre wird. Mutig hält er an seiner neu gewonnenen Überzeugung fest, erleidet für seine angebliche „Lästerung“ den Tod durch Steinigung und wird so zum ersten christlichen Märtyrer.
Dem intriganten Saul kommt Stephanus' Tod gerade zupass. Jeden toten Christen verbucht er als persönlichen Erfolg. Dass er von seiner Angst vor dem Jüngsten Gericht getrieben wird, vermittelt Daniel Glade mit hartem, staccato-artigen Gesang bei „Angst“ und mit expressivem Minenspiel. Ob es Jesus ist, dem er am Schluss begegnet, oder doch nur ein einfacher Hirte, wird im Musical nicht eindeutig festgeschrieben. Aber aus dem erbarmungslosen Saulus, der auch Maria bei ihrem Bittgang in den Tempel roh und brutal behandelt, wird nach dieser Begegnung der Apostel Paulus.
Ebenfalls unter den Jüngern ist Simon Petrus, eindrucksvoll dargestellt von Thomas Knecht. Aus Angst weigert sich Simon Petrus, nach Jesu‘ Tod weiterhin zu predigen. Als Maria ihm daraufhin heftige Vorwürfe macht, reagiert er ebenfalls wütend: „Keiner kreuzigt eine Frau“. Thomas Knecht entwickelt seine Figur im Lauf des Stücks mit differenziertem Spiel und großer Ausdruckskraft: Vom Zweifler mit dem schlechten Gewissen, über den unbedachten Eiferer, der unüberlegt in den Tempel stürmt und andere dabei in Gefahr bringt, wird aus Simon Petrus letztlich der Fels, auf den Jesus seine Kirche bauen will.
Inmitten der ernsten Thematik des Stücks findet sich mit Vanessa Antes humorvoller Darstellung der (über)eifrigen Heiratsvermittlerin Sarah auch eine willkommene Prise Humor und mit dem Happy End zwischen Maria und Lucius ein hoffnungsvolles, versöhnliches Ende.
Mit „Maria Magdalena“ hat Birgit Simmler ein Musical mit hohem inhaltlichem Anspruch geschaffen, das die wenigen historisch gesicherten Fakten über die Frau an Jesu‘ Seite geschickt in erfundene, aber durchaus plausible Geschehnisse einbettet. Mit der Aufforderung „Vielleicht solltest Du das alles aufschreiben?“ schließt sich dramaturgisch der Kreis zur Rahmenhandlung.
Wer keine Perfektion erwartet und offen für Stücke mit Botschaft und Bedeutung ist, wird den Weg zur Freilichtbühne Hallenberg nicht bereuen.
Text: Sylke Wohlschiess