Trügerische Traumwelt:
Rezension "Sunset Boulevard" in Dortmund
Die Tür zum Sunset Boulevard Nr. 10086 öffnet sich derzeit am Theater Dortmund. Gil Mehmert inszenierte Andrew Lloyd Webbers 1993 uraufgeführtes Musical "Sunset Boulevard" bereits 2011 in Bad Hersfeld und bringt nun eine für Dortmund überarbeitete Fassung auf die Bühne.
Sicher die wichtigste Besonderheit: Unter dem Dirigat des Musikalischen Leiters Ingo Martin Stadtmüller spielen die 43 Musiker der Dortmunder Philharmonie erstmals in Deutschland die vom Komponisten neu geschaffene "symphonic version", also die Fassung für ein großes Orchester. So schallen denn auch echte Holzbläser und Streichinstrumente in voller Besetzung deutlich klangvoller durch den Saal als andernorts ihre gesampelten Varianten. Allerdings kommt der Sound nicht im ganzen Saal in optimaler Aussteuerung an.
Kostüme, Bühnenbild und Ausleuchtung gehen Hand in Hand, es entstehen schnell wechselnde oder parallel ablaufende Bilder. Eine schräge Ebene erweitert die Spielfläche, ein rotes Plüschsofa steht für verblichene Pracht und Norma Desmonds Oldtimer wird aus Requisitenteilen während der Szene zusammengesetzt, was den irrealen, filmartigen Charakter des Lebens in der Villa symbolisiert. In den Paramount Studios, in denen längst moderne Technik und Tonfilm Einzug gehalten haben, bringen Regieassistenten mit Klemmbrett und wichtiger Miene die in zirkusartigen Kostümen umherwirbelnden Schauspieler in die richtige Position. Dagegen wirkt Norma Desmonds Residenz umso verlassener mit den fast blinden Fensterfronten, durch die kaum noch Tageslicht fällt. Seitlich angebrachte Drehelemente lassen Joe Gillis‘ kärgliches Garagenzimmer entstehen. Dort hinauf führt eine enge, steile Stahltreppe, die einen auffälligen Kontrast zum breit geschwungenen herrschaftlichen Aufgang in der großen Halle bildet, auf dem die Desmond jedes Erscheinen zu ihrem persönlichen Galaauftritt hochstilisiert.
Pia Douwes als ehemalige Stummfilmdiva Norma Desmond brilliert mit einer schauspielerisch differenzierten Darstellung und begeistert stimmlich auf ganzer Linie. Es fehlt nicht an exaltierten Gesten und dramatischem Minenspiel, aber zugleich lässt Pia Douwes hinter dem affektierten Gehabe der Diva stets die Verzweiflung einer einsamen Frau erahnen. Fast scheint es, als wäre Norma Desmond durchaus klar, dass sie in einer inszenierten Scheinwelt lebt, an die sie sich aus purem Selbstschutz klammert. Ihre Überdrehtheit setzt sie auch gezielt als Druckmittel ein, um Joe ihre Wünsche aufzuzwingen. Während Pia Douwes mit grandioser Stimme "Träume aus Licht" besingt und bei der privaten Kinovorführung (in Umkehrung des Blickwinkels schickt Lichtdesigner Stefan Schmidt helle Lichtkegel durchs Publikum) parallel zum Geschehen auf der Leinwand im bewusst überzogenen Stil des Stummfilms alle Rollen mitspielt, ist in der Schlussszene keine Spur der Glitzerwelt mehr übrig.
Hier zeigt Pia Douwes nicht das ansonsten oft dargestellte endgültige Abdriften der Desmond in augenrollenden Wahnsinn, sondern den Zusammenbruch einer kranken, alten Frau, deren Leben ohne die schützende Fassade der Fantasie an der Realität zerschellt. Die graue, kurzhaarige Perücke und das vergleichsweise einfach gehaltene Kleid unterstreichen diesen Eindruck, auch im Gegensatz zu den vorherigen mondänen Art-Deco-Roben in Schwarz und Weiß, Gold und Silber.
Heike Meixner, die sowohl fürs Bühnenbild als auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, gibt Max von Mayerling ein ungewöhnliches Aussehen. Extrem blass geschminkt wirkt der Butler ein wenig wie sein Kollege Lurch aus der "Addams Family". Das erscheint befremdlich, lässt aber fürs Publikum auch Spielraum für Interpretationen: Womöglich ist Max ebenso wie Norma hinter den Fassaden der Scheinwelt gefangen, obwohl er selbst diese für sie aufgebaut hat? Er ist ja nicht nur der Butler im Desmond’schen Haushalt, sondern war früher Normas Ehemann und ein bekannter Stummfilmregisseur. So zieht er auch im Leben die Fäden und täuscht Norma vor, dass Fans und Filmemacher noch immer auf ihre Rückkehr warten. Ks. Hannes Brock schreitet wie aus einer längst vergangenen Zeit im schwarzen Anzug und mit weißen Handschuhen durch die Räume. Seine vornehme Zurückhaltung gibt er nur auf, wenn es gilt, seine angebetete Norma gegen die Außenwelt zu verteidigen. "Kein Star wird jemals größer sein" ist seine Liebeserklärung, die Ks. Hannes Brock mit wohl gesetztem, klarem Tenor zu einem wahren Hörgenuss macht.
Wietske van Tongeren versprüht als Betty Schaefer Optimismus und Lebensfreude. Als Joes Drehbuch abgelehnt wird, schlägt sie ihm vor, es gemeinsam zu überarbeiten. Beide wehren sich gegen die aufkeimenden Gefühle, sind dann aber schon "Viel zu sehr" involviert. Das Duett zwischen Betty und Joe zeigt Wietske van Tongeren und Oliver Arno in Topform. Locker und leicht fließen die Töne, beide Stimmen fügen sich ausgesprochen harmonisch zusammen.
Oliver Arno als Joe Gillis kann sich jedoch kaum auf seine Gefühle für Betty konzentrieren, zu präsent ist Norma Desmond in seinem Leben und seinen Gedanken. Er schwankt gegenüber Norma stets zwischen Mitleid und genervter Abscheu. Mit teuren Geschenken sucht Norma Joe an sich zu binden. Joe weiß das. Dennoch lässt ihn nicht nur die Aussicht auf sein gutes Honorar bleiben. Gegen seinen Willen ist er von Norma fasziniert – und deshalb letztlich von sich selbst angewidert. Oliver Arno spielt die vielschichtigen Emotionen des erfolglosen Drehbuchautors hervorragend bis in die kleinsten Nuancen heraus und überzeugt mit wandlungsfähiger Stimme, die jede Gefühlsregung perfekt umsetzt. Lediglich der Titelsong gerät sehr statisch. Die mag dem Szenenaufbau geschuldet sein: Oliver Arno räkelt sich als Joe auf einer Liege am Pool und wechselt dann hinter einem Paravent vom Bademantel in den Anzug. Viel Bewegungsfreiheit bleibt da nicht, was dem Lied einiges von seiner Dynamik nimmt. Mit stimmigen Requisiten von Sonnenbrille bis Sundowner gefällt die Szene auf jeden Fall optisch.
Ebenfalls ein Hingucker sind neben den wunderschönen Gewändern der Desmond auch die fantasievollen und ganz unterschiedlichen Kostüme, die das Ensemble während der Drehpause in den Studios trägt. Absolut authentisch wie aus den 1950ern wirkt die farbenfrohe Bekleidung der jungen Leute in Schwabs Drugstore und auf der Silvesterparty. Das Ensemble punktet mit natürlichem Spiel und homogenem Gesang. "Nur noch ein Jahr" lädt geradezu zum Mitfeiern ein und "Ein bisschen leiden" veranschaulicht wunderbar überzogen die Prozeduren, die ewige Jugend verheißen.
Im Theater Dortmund erfährt "Sunset Boulevard" eine gelungene musikalische und gesangliche Umsetzung. Zwar fehlt es einigen Szenen etwas an Tempo und Dynamik, aber die exzellenten Leistungen der Darsteller machen dies schnell vergessen.
Text: Sylke Wohlschiess
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