Perfektes Ambiente:
Rezension „Grand Hotel" in Ettlingen
Ein kleiner Kosmos für sich: das Grand Hotel. Das Ambiente ist elegant, ja mondän. Menschen kommen und gehen. Sie geben sich geschäftig, sicher, selbstbewusst. Doch allmählich bekommen die sorgfältig aufrecht erhaltenen Fassaden Risse und es offenbart sich der Blick auf Lebenskrisen unterschiedlichster Art. Aus zufälligen Treffen werden schicksalhafte Begegnungen, teils mit unerwartet endgültigem Ausgang.
Vicki Baum schrieb den 1929 veröffentlichten Roman „Menschen im Hotel", den sie selbst 1930 zu einem Theaterstück namens „Grand Hotel" adaptierte. 1932 folgte der oscarprämierte Film mit Greta Garbo, 1959 ein Remake mit Heinz Rühmann.
Der erste Versuch, den Stoff als Musical auf die Bühne zu bringen, war aufgrund der stark von der Vorlage abweichenden Inhalte wenig erfolgreich. Die Broadway-Premiere von „At the Grand" von Luther Davis (Buch), Robert Wright und George Forrest (Musik und Gesangstexte) wurde abgesagt. Erst 30 Jahre später, im Jahr 1989, wagte sich das Kreativteam erneut an das Thema und blieb dieses Mal nah an der Romanhandlung. Als zusätzlicher Komponist wurde Maury Yeston gewonnen, der Bestehendes optimierte und neue Kompositionen hinzufügte. Das so entstandene neue „Grand Hotel" brachte es auf über 1.000 Broadway-Vorstellungen und kam 1991 in deutscher Erstaufführung nach Berlin ans Theater des Westens.
„Grand Hotel" war ursprünglich als zweistündiger Einakter konzipiert. In der Freilichtinszenierung der Schlosfestspiele Ettlingen setzt Regisseur Udo Schürmer nach 90 Minuten eine Pause, der ein nur noch etwa 40-minütiger zweiter Akt folgt. Das Geschehen entfaltet sich durch das Zusammentreffen der sechs gleich stark gewichteten Hauptfiguren. Bis aber die Vorgeschichte eines jeden so weit skizziert ist, dass sich die sechs Handlungsstränge überkreuzen und so das Wochenende im Hotel zu einem glaubhaften Wendepunkt für alle werden kann, zieht sich der erste Akt trotz sehr guter Darsteller und wunderbarer Ideen von Regie und Choreographie doch etwas in die Länge. Im zweiten Teil geht es deutlich dynamischer zu und es kommt zu überraschenden Verbindungen zwischen den Menschen im Hotel.
Groß, hager, mit Augenklappe und Krückstock taucht der ehemalige Militärarzt Oberst Dr. Otternschlag immer wieder wie ein unheilvoller Schatten auf. Als eine Art allwissender Beobachter steht er über den Dingen und deckt mit sarkastischen Bemerkungen die Schwächen, heimlichen Wünsche und vergeblichen Hoffnungen jedes Einzelnen auf. Ein hervorragender Thomas Weissengruber macht diesen desillusionierten Realisten zu einem ausgesprochen authentischen Charakter, ohne Bösartigkeit, aber distanziert und nüchtern, auch gegenüber sich selbst. Denn im Gegensatz zu den anderen weiß der morphiumsüchtige Otternschlag, dass seine besten Zeiten vorbei sind.
Dies gilt auch für die alternde Primaballerina Elisaweta Gruschinskaja – allerdings versucht sie sich im Verdrängen. In extravaganten Roben, mit herrlich theatralischen Gesten und aufgesetztem französischem Akzent klammert sich Katja Brauneis schauspielerisch und stimmlich absolut überzeugend an vergangenen Ruhm und später an Baron von Gaigern. Bei „Feuer und Eis" erlaubt sie aber auch einen berührenden Blick auf die inneren Nöte der Diva. Als ihre Assistentin Raffaela, die der Gruschinskaja weit mehr als nur freundschaftliche Zuneigung entgegenbringt, träumt Christine Rothacker vornehm-zurückhaltend aber gleichsam intensiv von einem gemeinsamen Leben mit ihr. Diese Sehnsucht hält Raffaela fest in sich verschlossen und gibt nach außen hin nur die martialische Beschützerin. In strengem schwarzen Kleid, mit klaren Anweisungen („Sie braucht Ruhe. Basta.") und klangvollem Alt setzt Rothacker beide Seiten ihrer Bühnenfigur bestens in Szene.
Erstmal hinkommen, nach Hollywood, davon träumt Flämmchen „ohne Nachname". Stars brauchen keinen. Maria-Danaé Bansen tanzt bei „Mädchen im Spiegel" wie einst Marilyn Monroe mit den Hotelpagen, naiv fast wie ein Kind, das Bühne spielt. Doch Bansen stellt nicht nur die blonde Seite ihrer Rolle frisch und charmant dar, sondern besingt auch die dröge Realität der Berliner Friedrichstraße, der sie entfliehen will. Dafür lässt sie sich auf einen Deal mit Hermann Preysing ein, der sie als Sekretärin mit nach Amerika nehmen will, wenn sie dafür „ein bisschen nett" zu ihm ist. Thomas Schirano in der Rolle des pleite gegangenen Geschäftsmanns spielt sehr gut heraus, dass die Lüge, mit der Preysing die drohende Insolvenz seiner Firma abwenden will, bei ihm offensichtlich alle Hemmschwellen eingerissen hat. Nachdem er so vom eigentlich seriösen Unternehmer zum Betrüger wird, geht er auch bei Flämmchen zu weit und ist kurz davor, sie zu vergewaltigen, als der Baron erscheint.
Carsten Lepper als verarmter Baron Felix von Gaigern, nonchalant, charmant und ein Dieb „nicht aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit" ist auf Beutezug im Hotel, als Flämmchens Schreie ihm zum Verhängnis werden. Er eilt zu Hilfe, es kommt zum Handgemenge, dann fällt ein Schuss. Gleich darauf steht Lepper mit „Rosen auf dem Bahnsteig", so, wie er es Elisaweta versprochen hat, deren Gefühle er seit der gemeinsamen Nacht ehrlich erwidert. Lepper gefällt im Schauspiel auf ganzer Linie, sein Stimmvolumen ist beeindruckend. In den Höhen singt er teilweise mit zu viel Druck und klingt dann etwas gepresst, in den mittleren Lagen ist seine Stimme dagegen warm und charaktervoll. Am Schluss des Liedes lässt er Mantel und Rosen fallen und man sieht das blutdurchtränkte weiße Hemd – ein gelungener Überraschungsmoment.
So ist der todkranke Buchhalter Otto Kringelein nicht wie erwartet derjenige, der stirbt. Nachdem er seine letzten Wochen im Nobelhotel verbringen wollte, um das „echte Leben" zu kosten, lernt er nicht zuletzt durch Flämmchens lebensbejahende Art, dass „Leben in Menschen, nicht in Gebäuden wohnt" und entschwindet mit ihr nach Paris. Adrian Kronebergers wohlklingender Tenor lässt vom ersten Moment an aufhorchen und seine Darstellung ist eine der bemerkenswertesten Leistungen in einem durchweg auf hohen Niveau agierenden Ensemble. Grandios die Wandlung vom graugesichtigen, mitleiderregenden Kranken in viel zu groß gewordenem Anzug, der mit verkrampften Händen stets schüchtern am Rand des Geschehens bleibt, zu einem vor Galgenhumor strahlenden Mann, der sein Schicksal annimmt.
Dass das Leben weitergeht zeigt auch die Rahmenhandlung, die das Wochenende im Grand Hotel umschließt: Carl van Wegberg als Hotelangestellter Erik verfolgt anfangs mit Bangen am Telefon, wie seine Frau in den Kreißsaal kommt, und ist am Schluss stolzer Vater, ein Solopart, den er mit energiegeladenem Gesang vom Balkon aus präsentiert, während unten in der Lobby viel Bewegung aufkommt: Kringelein und Flämmchen reisen ab, Preysing wird verhaftet, die Diva verlässt das Hotel um vergeblich am Bahnhof auf den Baron zu warten und der Oberst steht bereit, die nächsten Gäste zu begutachten. Das Schlussbild gleicht der Anfangsszene, was die Inszenierung angenehm rund macht.
Zu den Klängen von Salontango und Slow Fox gleitet zudem ein Tanzpaar von Szene zu Szene und verzahnt die verschiedenen Lebensgeschichten auch optisch - eine wunderbare Verbindung von Regie und Choreographie. Markus Buehlmann bringt auch den Charleston im gelben Salon, stilgerecht gelb ausgeleuchtet, mit einem tanzfreudigen Ensemble trittsicher auf die Bühne.
Die zeitgerechten Kostüme der 1920er Jahre (Anne Weiler) und die stimmungsvolle Beleuchtung (David Horn) harmonieren mit dem Bühnenbild, das perfekt in die frisch renovierte Schlossfassade integriert ist. Barocke Illusionsmalerei umrandet echte Fenster, die ebenfalls echten Säulen des Balkons werden mit einer Drehtür inmitten weiterer Säulen ergänzt, dazu ein roter Teppich, eine Rezeption mit Telefonen, ein paar Hocker. Mehr braucht es nicht. Nicht ganz stimmig scheint allein die Ausrichtung des „Grand Hotel"-Schildes, denn fast alle Szenen spielen im Inneren des Hotels. Aber dennoch: Besser kann man ein Bühnenbild nicht in vorhandene räumliche Gegebenheiten einpassen.
Nicht ganz optimal ist dagegen der Sound des Orchesters unter Leitung von Jürgen Voigt, das in den Räumen hinter dem Balkon im ersten Stock platziert ist. Vor allem anfangs, wenn Solo- und Ensemblestimmen sich mit Hintergrundmusik aus der Lobby und Telefonklingeln mischen, verwischt alles zu einem undeutlichen Klangbrei. Bei den Solonummern ist der Klang aber deutlich besser. Die Musik selbst besteht vor allem aus Elementen des Swing, der Stilrichtung des Jazz, zu der man um 1920 in den Salons getanzt hat. Es gibt keine Ohrwürmer, die in Erinnerung bleiben. Viele Szenen sind hauptsächlich auf Schauspiel ausgerichtet und nur musikalisch hinterlegt, was aber zum Ort des Geschehens passt. Diesen Sommer steht also ein Grand Hotel im Ettlinger Schlosshof – da sollte man einchecken.
Text: Sylke Wohlschiess