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Amüsant:
Rezension „Victor / Victoria" in Stuttgart

„Soll was genial sein, muss es banal sein" meint Nachtclubsänger Caroll Todd, genannt Toddy. Seine Idee: Um endlich wieder ein Engagement zu ergattern, soll sich die arbeitslose Sängerin Victoria Grant als Graf Victor Grazinski ausgeben, einen in Paris völlig unbekannten, in seiner polnischen Heimat aber höchst erfolgreichen Travestiekünstler. Eine Frau, die einen Mann spielt, der eine Frau spielt? Victoria ist skeptisch. Aber die Täuschung ist perfekt und schon ihr erster Auftritt wird zum durchschlagenden Erfolg. Als Graf Victor genießt sie fortan das Leben als „Schwarm von Paris". Das geht solange gut, bis der coole Gangsterboss King Marchan in ihr Leben tritt, der sich zu seinem hellen Entsetzen von Victor angezogen fühlt.

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Der Stoff wurde bereits 1933 von der UFA verfilmt, für die Neuauflage 1982 erhielten Komponist Henry Mancini und Songtexter Leslie Bricusse im Jahr 1983 den Oscar für die beste Filmmusik. Als Musical war „Victor/Victoria" erstmals im Oktober 1995 am Broadway zu sehen. Da Mancini vor Beendigung des Werkes starb, steuerte Frank Wildhorn drei Songs bei. Das Buch stammt wie schon beim Film aus der Feder von US-Regisseur Blake Edwards, als dessen Markenzeichen rasante Komödien gelten.

Dem trägt Ulf Dietrich in seiner Inszenierung Rechnung: Auch er fügt viele Szenen in schneller Abfolge aneinander. Da braucht es bei der kleinen Bühne des Alten Schauspielhauses einen einfallsreichen Bühnenbildner wie Dietmar Teßmann, der es versteht, die schnellen Szenenwechsel auch ohne viel Technik elegant umzusetzen. Fixe Elemente sind zwei Treppen am linken und rechten Bühnenrand, die zu einer kleinen Empore führen, auf der auch die Musiker platziert sind. Mit ein paar Tischen, Stühlen und Plakaten entsteht die schummrige, etwas zwielichtige Bar, in der Victoria und Toddy sich kennenlernen. Wenn Reinhold Ohngemach als André Cassell mit großer Geste den goldenen Vorhang beiseite zieht, ist aus der Bar durch eine weitere Treppe in der Mitte die große Bühne für Victor geworden.

Später blickt der Zuschauer frontal in die benachbarten Hotelsuiten, die auf einem Schiebeelement montiert sind und bei Bedarf hereingefahren werden. Die Treppen verbinden jetzt die Stockwerke der Zimmer. Durch Türen an der Rückwand, die weitere Räume andeuten, wird die fehlende Bühnentiefe geschickt kompensiert. Die Konstruktion wirkt wie ein überdimensionales Puppenhaus und unterstreicht ideal den Slapstick-Charakter einiger Szenen, beispielsweise als King Marchan endlich Gewissheit über Victors wahre Identität will. Marchan verschafft sich heimlich Zutritt in Victor und Toddys Suite, während seine Geliebte Norma danach trachtet, Victor näher zu kommen und sein Leibwächter Squash Bernstein verzweifelt versucht, der Lage Herr zu werden. Jeder versteckt sich vor jedem, alle irren in hektischem Durcheinander von Raum zu Raum.

Hier wird besonders deutlich, dass „Victor/Victoria" von Situationskomik, Wortwitz und satirischer Überzeichnung lebt. Der Schwerpunkt liegt auf den gesprochenen Szenen, dem Schauspiel. Die gesamte Cast schöpft mit sichtlicher Spielfreude alle Gestaltungsmöglichkeiten aus und überzeugt auf ganzer Linie. Schade nur, dass es kaum gesangliche Herausforderungen gibt.

victorvictoria 02Volker Risch gefällt in seiner ersten Musicalrolle mit angenehmer, äußerst wohlklingender Stimme. Sicher intoniert er den Einstiegssong „Paris bei Nacht". Risch zeichnet mit viel Feingefühl den Charakter des sympathischen, hilfsbereiten Toddy, der in zweitklassigen Etablissements feststeckt und wegen seiner Homosexualität belächelt wird. Doch statt sich darüber zu grämen, sieht er mit der Lebensweisheit des erfahrenen Mannes über die Anzüglichkeiten hinweg und verliebt sich schließlich die „treuen Augen" von Marchans zurückhaltendem Leibwächter Squash Bernstein, den Michael Hiller sehr glaubwürdig verkörpert.

Jan Ammann als King Marchan quält sich bei „King's Dilemma" mit der Frage, ob die Frau, die er liebt, womöglich ein Mann ist. Ammann findet die Balance zwischen humorvoller Darstellung und dem ernsten Unterton der Szene. Leider bietet das nahezu gesprochene Solo wie auch die Rolle insgesamt kaum Möglichkeiten, auch seine stimmliche Bandbreite zu zeigen. Seine komödiantische Ader kann Ammann dagegen voll ausleben: Mal schaut er herrlich verblüfft, dann wieder verdreht er völlig entnervt die Augen angesichts seiner Noch-Freundin Norma, die ihren „Pucki" fast in den Wahnsinn treibt.

Maja Sikora glänzt in der Rolle des überdrehten und vollkommen naiven Blondchens, das weder deutsche Grammatik noch Fremdwörter beherrscht und nur Männer und deren Verführung im Sinn hat. Angesichts des schönen Grafen Victor verfällt sie in hysterisches Fangehabe, und auch nachdem sie weiß, dass Toddy schwul ist, hört sie nicht auf, ihn anzubaggern. Dabei wirkt Norma keineswegs wie die große Verführerin, sondern durch ihre Tollpatschigkeit unfreiwillig komisch, ja lächerlich, was sie selbst natürlich nicht merkt. Sikoras Darstellung ist grandios, ihre Verführungsnummern „Wie Paris mich geil macht" und „Chicago, Illinois" sind an Komik kaum zu überbieten.

Eine ebenso bravouröse Leistung zeigt Antje Rietz in der Titelrolle. Wenn Victoria den Victor gibt, von Nase hochziehen bis Frauen-auf-den-Hintern-klatschen kein Klischee auslässt und schließlich noch mit typischem Macho-Gang über die Bühne stolziert, ist das in höchstem Maße amüsant, ohne jemals plump zu wirken. Rietz beherrscht auch die nachdenklicheren Momente, beispielsweise wenn sie sich letztlich doch als Frau zu erkennen gibt. Im Duett „Klingt fast wie Liebe" harmoniert sie gut mit Jan Ammann, beim Solo „Licht und Schatten" überzeugt sie ebenfalls mit klarer, sanfter Stimme.

Schon bei der Premiere agiert das Ensemble sehr homogen und setzt auch Alexander Grünwalds Choreographien synchron um. Die üblichen Showtanz-Elemente werden mit einfallsreichen Bewegungsabläufen ergänzt. So entsteht die Varieté-Atmosphäre der 1930er Jahre, aber mit durchaus erfrischendem Touch. Zu diesen Auftritten passen auch die jazzlastigen Kompositionen, für die Mancini bekannt ist. In „Victor/Victoria" dient die Musik kaum einmal der Handlung, sondern untermalt vor allem die Showeinlagen der Protagonisten. Die fünfköpfige Band unter Leitung von Niclas Ramdohr swingt gekonnt durch die Partitur und hat großen Anteil am Erfolg der Aufführung, die vom Premierenpublikum mit viel Beifall belohnt wird.

Wie viele Komödien mit Niveau hat auch „Victor/Victoria" eine ernste Botschaft. Regisseur Ulf Dietrich gelingt es, die Forderung nach Toleranz sehr subtil herauszuarbeiten. Jeder sollte so leben dürfen, wie er oder sie es für richtig hält, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Denn letztlich kann es Außenstehenden egal sein, ob Hans Müller einen Martin oder eine Martina liebt, einen Andreas oder eine Andrea. Einen Victor oder eine Victoria.

Text: Sylke Wohlschiess

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