Wer bin ich, Gott?
Rezension Musical „Die Päpstin“ in Stuttgart
Mythos oder Wirklichkeit? Sicher ist, dass die Geschichte der Frau, die sich im 9. Jahrhundert durch eine Verkettung höchst ungewöhnlicher Umstände auf dem Papstthron wiederfand, Donna W. Cross zu ihrem Roman „Die Päpstin“ inspirierte. Nach Sönke Wortmanns Filmversion holten Dennis Martin (Musik, Libretto) und Christoph Jilo (Libretto) Johanna 2011 auf die Musicalbühne.
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Der Uraufführung in Fulda folgten weitere Spielzeiten und Standorte, zuletzt Anfang März 2018 im Theaterhaus Stuttgart. Benjamin Sahlers Neuinszenierung des Musicals „Die Päpstin“, die zuvor in Neunkirchen zu sehen war, punktet mit einer durchweg hervorragenden Besetzung.
In der Titelrolle zeichnet Anna Hofbauer das beeindruckende Charakterbild einer außergewöhnlichen Frau, deren ganzes Sein vom Streben nach Wissen und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben geprägt ist. „Wer bin ich, Gott?“ bricht es angesichts der Toten nach dem Normannenangriff aus Johanna heraus. Markerschütternde Schreie, pure Verzweiflung und dann - ihr Blick fällt auf den ermordeten Bruder - lassen sich an Anna Hofbauers lebendigem Mienenspiel Johannas Gedanken förmlich ablesen. Eine einmalige Chance tut sich inmitten des Grauens auf. In dieser Schlüsselszene entscheidet Johanna sich binnen Sekunden, die Identität ihres Bruders anzunehmen und an seiner Stelle ins Kloster einzutreten, ungeachtet der lebenslangen Todesgefahr und Isolation, der sie sich mit diesem Schritt aussetzt. Bei „Einsames Gewand“ wird dies gekonnt visualisiert, indem Johanna alleine durch eine in der Bewegung erstarrte Menschenmeng schreitet. Die gesamte Bandbreite von Johannas Emotionen durchlebt und durchleidet Anna Hofbauer in geradezu atemberaubender Intensität. Auch stimmlich gefällt sie mit sicher geführtem Sopran, der bis in die hohen Tonlagen klangrein und angenehm bleibt.
Die Einsamkeit zu durchdringen vermag nur Markgraf Gerold, Johannas große Liebe, ihr einziger echter Vertrauter und Beschützer. Mit großer Natürlichkeit und einer Prise Humor spielt Jan Ammann den edlen Markgrafen, der Güte und Wahrhaftigkeit ausstrahlt, aber dennoch vehement seine Ansichten vertritt, beispielsweise wenn er Kaiser Lothar (herrlich autoritär gespielt von Benjamin Setz) vor falschen Freunden oder Johanna vor den Gefahren ihres Doppellebens warnt. Stimmlich brilliert Ammann mit unverwechselbarem Timbre und virtuosen Schlusstönen. Mit dem grandios gesungenen Solo „Ein Traum ohne Anfang und Ende“ werden Emotionen greifbar.
Gleiches gilt für „Wehrlos“. Anna Hofbauer startet mit dem langsamen Solopart, der immer eindringlicher wird, je offener sie ihre Gefühle für Gerold besingt. Jan Ammann setzt mit gefühlvollen, leisen Tönen ein. Dann verbinden sich beide Gesangslinien zu einem Duett, das mit berührenden Formulierungen das Glück der erwiderten Liebe und zugleich die Ausweglosigkeit der Situation von Johanna und Gerold beschreibt. Jan Ammanns klassisch geprägte Stimme und Anna Hofbauers Pop-Sopran harmonieren wunderbar.
Einen schauspielerischen Glanzpunkt setzt Uwe Kröger in der Rolle des Gelehrten Aeskulapius. Weil dieser schon im Mädchen Johanna besondere Geistesgaben erkennt, ermöglicht er ihr entgegen aller Widerstände eine umfassende Ausbildung. Anders als in der Romanvorlage kreuzen sich beider Wege in Rom wieder. Dort wahrt Aeskulapius Johannas Geheimnis und unterstützt sie in ihrer Arbeit. Allerdings – und das arbeitet Uwe Kröger differenziert mit meisterlichem Spiel heraus – geht es Aeskulapius stets vorrangig um Johannas Beitrag zu Wissen und Wahrheit, weniger um sie als Mensch. Als Johanna neue Heilmethoden anwenden will, ergreift er vehement für sie Partei. Aber Aeskulapius ist selbst so fokussiert auf geistigen Fortschritt, dass er die Gefahren, die das Papstamt für Johanna birgt, ebenso vehement zur Seite wischt. Mit charismatischem Auftreten und enormer Bühnenpräsenz erweist sich Uwe Kröger als ideale Besetzung für diese Rolle.
Aeskulapius fungiert zudem als Erzähler, der immer wieder die Ereignisse von Jahren in wenigen Worten zusammenfasst. Hier kommen Krögers saubere Intonation und seine volle, angenehme Sprechstimme sehr gut zur Geltung. Im Zusammenspiel mit den Kinderdarstellern agiert Uwe Kröger ausgesprochen einfühlsam. Als Lehrer an der Domschule weist er mit ruhiger Autorität auf Fehler hin und lobt zugleich mit feiner Ironie Johannes‘ Schwertzeichnung.
Nur wenige Sätze hat der junge Darsteller Nico Brade, aber dennoch bringt er Johannes‘ Minderwertigkeitsgefühl angesichts der geistigen Überlegenheit seiner Schwester klar zum Ausdruck.
Etwa ein Drittel des Musicals „Die Päpstin“ thematisiert Johannas Kindheit. So hat Alva Kist in der Rolle der kleinen Johanna einen großen Part mit umfangreichem, teils schwierigem Text. Sie meistert diesen nicht nur ohne einen einzigen Versprecher, sondern auch klar verständlich mit sehr gut gesetzter Betonung. In ihrer Darstellung verbindet sich kindlich-natürlicher Charme mit großer Ausdrucksstärke. Johannas Drang nach Wissen, der die Angst vor dem Vater überwindet und dem sie auch die Liebe zur Mutter unterordnet, wird durch Alva Kists ausgezeichnete Leistung auch für diejenigen nachvollziehbar, die den Roman nicht kennen.
Stefanie Kock als Johannas Mutter hat es mit dem gewalttätigen Ehemann nicht leicht. Als sächsische „Heidin“ bleibt sie fremd in ihrer neuen Heimat. Ihre Tochter sieht sie als einzige Vertraute. Mit samtweicher Stimme und tief empfundenen Gefühlen erzählt Stefanie Kock ihr in der wunderschönen Komposition „Boten der Nacht“ heimlich von den alten Göttersagen ihrer Heimat. Die mächtigen Raben Munin und Hugin, die der Göttervater zur Erde geschickt hat, sollen Johanna immer beschützen.
Regisseur Benjamin Sahler versinnbildlicht die Raben durch zwei Tänzerinnen, Stefanie Gröning und Vera Horn, die auch für die Choreographie insgesamt verantwortlich sind. Mal projiziert als verzerrtes Schattenbild im Hintergrund, mal mit getanzten Passagen, tauchen die Raben gemäß ihres göttlichen Auftrags immer dann auf, wenn die Situation für Johanna besonders gefährlich wird oder sie an einem entscheidenden Punkt ihres Lebens steht.
Ein Novum in der Choreographie eines Musicals ist die Einbindung von Akrobatik am Vertikaltuch. Rechts und links der Bühne turnen Stefanie Gröning und Vera Horn in schwindelerregender Höhe absolut synchron mit beeindruckender Körperbeherrschung und großer Eleganz ihre Figuren. Insgesamt ist die Choreographie gut auf die Musik abgestimmt, rückt aber in einigen Szenen zu sehr in den Vordergrund.
Auch die Ausführung der Ensembleszenen gerät an manchen Stellen etwas unsauber. Bei aller Spielfreude treten hier doch Unterschiede zwischen den Profis und den zusätzlich engagierten Laien zutage. Das ist nicht wirklich schlimm und mit etwas mehr Probenzeit hätte man dies ebenso noch optimieren können, wie die nicht immer flüssigen Szenenübergänge. Allen Amateurdarstellern, die den Schritt auf die Profibühne gewagt haben, gebührt auf jeden Fall Anerkennung.
Auch die technischen Gegebenheiten sind nicht ganz optimal: Kein Vorhang verdeckt die Umbaupausen, so sieht man des Öfteren das Ensemble die zahlreichen variablen Bühnenelemente an Ort und Stelle tragen, bevor es weitergeht. Dass die oben am Schnürboden befestigten, unten von den Darstellern gezogenen rahmenartigen Wandkonstruktionen auch gerne mal nicht ganz rund in ihren Führungsschienen laufen, stört ebenfalls.
Generell ist das reduzierte Bühnenbild aber völlig ausreichend, zumal Tino Tiesler es versteht, sein Lichtdesign so exakt einzupassen, dass immer wieder Lichtstrahlen wie ein Teil des Bühnenaufbaus wirken. Die perfekt ausgeklügelte Beleuchtung intensiviert jede Szene, egal, ob bedrohliches Rot, kaltes Blau oder sanfter Schimmer. Wenn grellweiße Laserstrahlen den rot wabernden Nebel durchschneiden, wirkt Rouven Wildegger-Bitz mit gehörntem Helm als normannischer Eroberer gleich noch einmal so bedrohlich. Auch als Abt Ratgar im kalten Licht des Klosters ist Wildegger-Bitz eine Gefahr für Johanna, gerade so, wie ihr Vater in ihrer Kindheit.
Frank Bahrenberg spielt und singt den bigotten Dorfpriester, der Frau und Kinder tyrannisiert und sich dabei noch im Recht wähnt, mit solchen Nachdruck, dass einem schon im Publikum angst und bange werden kann. Mit heiligem Zorn, ohne einen Funken Mitleid für seine verängstigte kleine Tochter, schmettert er ihr die bösesten Beschimpfungen entgegen. Ein „Wechselbalg“, widernatürlich und vom Satan besessen sei sie. Auch in seiner zweiten Rolle als Papst Sergius spielt Bahrenberg sehr prägnant einen Gottesmann, der nicht unbedingt auf dem Pfad der Tugend bleibt, sondern der Völlerei frönt.
Wein, Weib und Gesang liebt auch Bischof Fulgentius. Er führt in Dorstadt ein lockeres Haus, ist aber im Grunde gutmütig und erlaubt Johanna den Besuch der Domschule.
Marcus G. Kulp gibt außerdem einen zweiten, Johanna wohlgesonnenen Geistlichen: Prior Rabanus. Dieser nimmt sogar eine Auspeitschung auf sich, um zu verhindern, dass Johanna als Frau entlarvt wird. Auf ihre erstaunte Frage nach dem Warum folgt das Solo „Hinter hohen Klostermauern“. Marcus G. Kulp interpretiert diesen Appell an Toleranz und Weltoffenheit mit authentischer Schlichtheit und wunderschönem lyrischen Tenor. Kulp verzichtet auf dramatische Gesten und schafft so einen tief bewegenden Moment, vielleicht einen der eindrücklichsten des Abends.
Eindruck vor allem auf die Herren macht Marioza. In ihrem zweiten Part kann Stefanie Kock ihre ausgelassene Seite zeigen: Als Kurtisane Marioza tanzt sie mit lasziver Eleganz inmitten ihrer Mädchen, die kokett riesige rote Federfächer schwingen. Mühelos becirct sie die obersten Kirchenführer, intrigiert schamlos und spielt so eine wichtige Rolle im Ränkespiel um die Macht in Rom. Sogar ihre Stimme weiß die erfahrene Sängerin an die Rolle anzupassen: Statt wie als Johannas Mutter warmherzig und sanft, klingt es nun herausfordernd und verführerisch. Beide so unterschiedlichen Rollen nimmt man Stefanie Kock hundertprozentig ab.
Auch das Vater-Sohn-Gespann Arsenius und Anastasius macht sich Mariozas Einfluss beim Kampf gegen Johannes Anglicus zunutze. Arsenius will seinen Sohn als Papst sehen. Dafür geht er „Zum Ruhme der Familie“ buchstäblich über Leichen. Alexander Kerbst singt den Arsenius mit starker Stimme und untermalt seine Ziele mit herausfordernden Gesten.
Christopher Brose in der Rolle des Anastasius zieht nach. Im Lauf der Handlung verschieben sich die Positionen immer mehr: Anastasius‘ ironische Bemerkungen werden immer gehässiger, seine ganze Attitude gefährlicher. Er wird zunehmend aggressiver, was Brose mit der ganzen Power seines Rock-Tenors demonstriert. Die Reprise des Duetts von Arsenius und Anastasius endet denn auch folgerichtig als kraftvolles Solo für Anastasius. Aber allen Bestechungsversuchen zum Trotz gelingt es Anastasius nicht, die begehrte Machtposition zu erlangen, auch nicht, als Johannas Identität auffliegt und das Amt des Kirchenobersten wieder frei wird.
In der beeindruckenden Schlusssequenz muss Johanna zuerst den Mord an Gerold miterleben und stirbt dann an einer Fehlgeburt. Ihr Tod wird durch fantastische Lichtregie als eine Art lichtvolles Erheben inszeniert, was dem tragischen Schluss eine versöhnliche Note gibt.
Vielleicht ist das Musical etwas textlastig, noch eine oder zwei von Dennis Martins gelungenen Balladen oder Midtempo-Nummern hätten es schon sein dürfen. Dass kein Liveorchester spielt, ist ebenfalls schade, wenngleich der Ton in der Halle gut ausgesteuert ist. Wer inhaltlich anspruchsvolle Stücke mit spannender Handlung mag, ist beim Musical „Die Päpstin“ auf jeden Fall richtig. Zumal die Leistung der Stuttgarter Cast, egal ob Haupt- oder Nebenrolle, auf ganzer Linie überzeugt.
Text: Sylke Wohlschiess
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