Ambitioniert:
Rezension „Anatevka“ in Leinfelden
Wer fünf Töchter hat und trotzdem von Reichtum träumt, muss schon sehr optimistisch sein. So wie der jüdische Milchmann Tevje, der im späten Russischen Kaiserreich um 1900 im Dörfchen Anatevka ein Leben getreu den alten Traditionen führt. Seine Zuversicht verliert er weder, als sich seine Töchter gegen die von ihm bestimmten Ehegatten auflehnen, noch als die politische Situation sein persönliches Leben unmittelbar beeinflusst und er mit seiner Familie und allen anderen Juden aus seiner Heimat vertrieben wird.
Aus Scholem Alejchems Roman „Tevje, der Milchmann" von 1894 schufen Joseph Stein (Buch), Sheldon Harnick (Liedtexte) und Jerry Bock (Musik) das Musical „Anatevka", das 1964 am Broadway uraufgeführt wurde. Der englische Originaltitel „Fiddler on the Roof" bezieht sich auf ein immer wiederkehrendes Motiv des jüdisch-russischen Malers Marc Chagall, in dessen Heimatstadt ein Geiger bei wichtigen Lebensereignissen aufspielte.
„Jeder von uns ist ein Fiedler auf dem Dach und egal was geschieht, er wird versuchen, eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich den Hals zu brechen". So erklärt Tevje gleich anfangs, was es mit dieser Figur auf sich hat. Mit völlig anderer Lichtstimmung ausgeleuchtet wirken die Auftritte von Annette Laubengeier mit ihrer Violine seltsam entrückt, wie aus einer anderen Welt. Die Handlung wird eingefroren und nur Tevjes Unterhaltungen mit Gott laufen weiter.
Harald Schmidt als Milchmann Tevje meistert diese umfangreiche Rolle mit Bravour und trägt über weite Strecken die gesamte Inszenierung. Mit absolut professionellem Schauspiel entwickelt er sehr differenziert den Charakter eines in sich und im Glauben ruhenden Mannes, der für seine Familie das Beste will und auch angesichts einschneidender Veränderungen nie den Lebensmut verliert. Grandios ist der trockene Humor, mit dem er in frech-freundschaftlicher Zwiesprache mit Gott („muss ich dir erklären, was in der Bibel steht?") seine eigene Einstellung solange dreht, bis er letztlich doch guten Gewissens den Wünschen der Töchter nachgeben kann. Auch die ernsten Szenen, der Abschied von Tochter Hodel, die ihrem Mann in die sibirische Verbannung folgt, oder die Nichtversöhnung mit Tochter Chava, die einen Christen geheiratet hat, spielt Schmidt glaubwürdig und sehr authentisch. Seine stimmliche Präsenz lässt ebenfalls nichts zu wünschen übrig: Sonor und volltönend, hält er mit gut gestütztem Bariton bei „Wenn ich einmal reich wär" auch die langen Töne einwandfrei.
Die übrigen gesanglichen Leistungen reichen dann doch nicht immer ganz an professionelles Niveau heran, besonders bei den Damen fehlt es des Öfteren an Stimmvolumen und Sicherheit, was die Wirkung von Solostücken und Duetten beeinträchtigt. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Julia Brückner und Karin Funk (Regie und Bühnenbild) bei dieser Inszenierung bewusst auch Neulingen die Chance geben, sich vor Publikum zu beweisen, also wohl auch Nervosität die Stimmen zittern lässt.
Wunderbar harmonisch und voluminös klingen dagegen die Chorgesänge, und durchweg bemerkenswert sind die schauspielerischen Leistungen. Natalie Schleicher beispielsweise gibt eine sehr mädchenhafte, liebliche Hodel, Mia Stäbler als Zeitel schwankt gekonnt zwischen selbstbewusster Frau und gehorsamer Tochter. Als drittälteste Tochter Chava berührt Leni Karrer mit ergreifend hilflosen Gesten, als auch bei der Vertreibung aus Anatevka ihr Vater Tevje angesichts ihrer Heirat mit dem Christen Fedja (Christian Fickert mit sehr schöner Stimme) unversöhnlich bleibt. In dem über 70 Personen zählenden Ensemble sind auch die kleineren Parts typgerecht besetzt, so etwa Torsten Meyer als Wachtmeister mit imposanter Statur und Stimme oder Alexander Schiller als selbstzufriedener Lazar Wolf. Alle Mitwirkenden sind mit spürbarer Begeisterung dabei.
Dass gerade einem Amateurensemble auch besondere Möglichkeiten offenstehen, zeigt sich in der Traumszene. Tevje hat erkannt, wie sehr seine Älteste den armen Schneider Mottel liebt, will ihr die Hochzeit gestatten und auch seine Frau von der Idee überzeugen. Dazu bedarf es einer List. Er inszeniert einen angeblichen Alptraum, in dem Großmutter Zeitel erscheint, die vehement und unter Androhung ansonsten fürchterlichster Konsequenzen Goldes Einverständnis einfordert. Fast das gesamte Ensemble schwirrt in weißen Gespensterumhängen scheinbar in wildem Durcheinander über die Bühne. Was andernorts schnell albern wirken kann, wird hier zum charmanten Showstopper. Vor allem Erna Wilson, die mit der immer wieder wegbrechenden Stimme einer uralten Greisin herrlich gekonnt zetert und kreischt, löst wahre Lachsalven aus.
Von solch lustigen Szenen und viel Wortwitz wird die eigentlich eher melancholische Atmosphäre des Stücks immer wieder durchbrochen. „Anatevka" enthält viele Elemente der Klezmer-Musik, einer nichtliturgischen, aber an religiöse Zeremonien angelehnten jüdischen Musikart. Sylvio Zondlers moderne Arrangements dieser traditionellen Klänge setzt das 14-köpfige Liveorchester unter dem Dirigat von Peter Pfeiffer mit Spielfreude und Professionalität um. Alle Einsätze gelingen exakt, hier gibt es wirklich keine hörbaren Unterschiede zu kommerziellen Produktionen. Marianne Illig gelingt es, ihre flüssig und schwungvoll umsetzbaren Choreographien zum Teil der Handlung werden zu lassen. Im Wirtshaus feiern die Juden tanzend die von Tevje und Lazar vereinbarte Hochzeit, die ausgelassene Fröhlichkeit animiert die ebenfalls dort zechenden Russen zum Kosakentanz. Auf Zeitels Hochzeit mit Mottel – mit viel Esprit und Witz gespielt von Christoph Blessing – brechen die Gäste mit der jüdischen Tradition des getrennten Tanzens und drehen sich als Paare im Kreis.
Der Ausgestaltung des Bühnenbildes kommt zugute, dass das Amateurtheater über eine große Drehbühne verfügt, die reibungslose, schnelle Szenenwechsel ermöglicht. Sieht man zunächst die Außenfassaden der äußerst realistisch wirkenden ärmlichen Holzhäuser, öffnet sich nach einer Drehung der Blick auf den Schankraum des Wirtshauses oder das Wohnzimmer von Tevje und Golde. Mit Kerzen, die beim Sabbatgebet nicht nur auf der Bühne, sondern zeitgleich auch im Publikum aufleuchten oder einer Bank, die sich unvermittelt bewegt und nur mittels etwas Dampf und Geräuschen aus dem Off zu einem abfahrenden Zug wird, gelingen äußerst wirkungsvolle Effekte. Diese kreativen Einfälle, ein fantastischer Hauptdarsteller und eine gute, homogene Ensembleleistung machen die Freilichtinszenierung in Leinfelden trotz einiger Längen zu einem sehenswerten Erlebnis.
Text: Sylke Wohlschiess