Dramatische Verwicklungen im Mietshaus:
Rezension „Street Scene“ in Pforzheim
Es dauert eine Weile, bis man das Beziehungsgeflecht der zahlreichen Personen durchschaut, die sich auf der Pforzheimer „Street Scene“ ein Stelldichein geben. Denn da tummeln sich außer den Mitgliedern der sechs Familien, die im Mietshaus in einem ärmlichen New Yorker Stadtviertel leben, noch weitere Hausbewohner, Freunde, zufällig vorbeikommende Passanten und sehnsüchtig erwartete Besucher.
Das Alltagsleben in dieser ziemlich tristen Umgebung thematisiert „Street Scene“ auf Basis von Elmer Rice’s gleichnamigem Schauspiel aus dem Jahre 1929. Die Uraufführung mit den Liedtexten von Langston Hughes und der Musik von Kurt Weill fand erst 1947 in New York statt. Weill, der 1935 auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigrierte, wollte eine neue Form des eigenständigen amerikanischen Musiktheaters schaffen. So kombiniert „Street Scene“, heute noch als „amerikanische Oper“ auf den Spielplänen geführt, Elemente der europäischen Oper mit Anklängen an Broadway-Musical und Operette.
Opern-untypisch ist nicht nur die aus dem Alltag gegriffene Thematik, sondern auch der Aufbau, der einem Singspiel gleicht. „Street Scene“ ist nicht durchkomponiert. Gesprochene Szenen verbinden die unterschiedlichen Gesangsparts, zumeist Arien, aber auch Stücke mit operettenhaftem Charakter, Swing, Blues und Balladen. Die durch ihre musikalische Vielfalt und Weills dissonante Kompositionen höchst anspruchsvolle Partitur erfordert die volle Konzentration der Musiker. Gewohnt souverän meistert die Badische Philharmonie Pforzheim unter Leitung von Generalmusikdirektor Markus Huber die Herausforderung, lediglich die musikalische Untermalung der Sprechszenen gerät zu laut. Die sowieso eher mäßige Textverständlichkeit – nicht alle Stimmen kommen wirklich über das Orchester – geht dann gegen Null. Zwar gibt es Übertitel, aber diese werden etwas unpraktisch sehr weit oben eingeblendet, so dass man entweder mitlesen oder das Bühnengeschehen im Auge behalten kann.
Und selbiges lohnt die ungeteilte Aufmerksamkeit. Jan Hendrik Neidert beweist, dass ein wunderbar stimmiges Bühnenbild keines Übermaßes an Technik bedarf. Zwei Straßenlaternen und zwei weiße Bänke stehen vor dem Mietshaus, zu dessen Eingangstür mittig fünf Stufen führen. Pinkfarbenes und helles Licht strahlt von hinten auf die Darsteller, so dass deren Umrisse schemenhaft an die noch geschlossenen Fenster projiziert werden. Man erkennt, wie gefrühstückt, geputzt und Zeitung gelesen wird. Ein Fenster nach dem anderen öffnet sich, Putzlappen werden ausgeschüttelt, Köpfe beugen sich zum Nachbarn und Rufe tönen auf die Straße.
Im weiteren Verlauf dreht sich die Hausfront immer weiter und verschafft so immer tiefere Einblicke in die Wohnungen – räumlich, aber ebenso in die zuweilen recht skurrilen Geschehnisse, die hinter den sonst verschlossenen Türen ablaufen. Im zweiten Teil des zweiten Aktes dreht das Bild von den offenen Räumen nicht etwa zur gewohnten Fassade der Nachkriegszeit zurück, sondern es erscheint eine modernere, fast noch trostlosere Vorderfront, mit Hausnummer, grauem Einheitsputz und ohne die hübschen Bänke, die sich so wunderbar als Treffpunkt für Klatsch und Tratsch eignen.
Ganz groß in dieser „Disziplin“ ist Emma Jones. Zwar singt Lilian Huynen in dieser Rolle keinen Solopart, aber mit dem sprichwörtlichen Dialekt der Straße, herrlich überzogener Mimik und dem (Stoff)Hund, den sie zum Gassi gehen hinter sich herzerrt, hat sie mit ihrer gekonnt humorvollen Interpretation die Lacher auf ihrer Seite. Als ihre Tochter Mae legt Janne Geest gemeinsam mit Johannes Blattner als Dick McGann vor dem Haus einen flotten Jitterbug aufs nicht vorhandene Parkett, bei dem beide etwas zu tief ins Glas blicken und mehr und mehr ins Torkeln geraten.
Ansonsten tritt Familie Jones eher wenig in Erscheinung, wie auch die anstehende Zwangsräumung der Wohnung von Familie Hildebrand nur mit einigen eingeworfenen Sätzen und gegen Ende mit dem unvermittelten Erscheinen zweier braun gewandeter Möbelpacker angedeutet wird. Danielle Rohr hat im weißen, jungfräulich unschuldigen Kleidchen als Jennie Hildebrand gemeinsam mit dem Ensemble einen wunderbaren Auftritt mit der fröhlich-leichten Nummer „Fein eingewickelt in Seidenpapier“. Doch hauptsächlich dienen die Familien Jones, Hildebrand und Olsen dazu, die ethnische Vielfalt der Hausbewohner und die darin begründeten Vorurteile darzustellen. Auch Lippo Fiorentino und seine deutsche Frau Greta, die mit geblümter Kittelschürze über gemustertem Kleid mehr Wert auf Ordnung und Sauberkeit denn auf Mode legt, erfüllen diesen Zweck.
Kwonsoo Jeon als feuriger Italiener Lippo bringt mit einer Runde Eis für alle nicht nur eine willkommene Abkühlung in den heißen Sommertag – tatsächlich dehnt sich das gesungene Jammern über die Hitze fast ebenso lang wie ein schwüler Sommertag in New Yorks Straßenschluchten - sondern singt mit dem „Eiskrem-Sextett“ zugleich auch das Loblied auf die freie amerikanische Gesellschaft. Jeon beweist tenorale Kraft und fügt sich zugleich harmonisch in den Ensemblegesang ein. Gleiches gilt für Sopranistin Franziska Tiedtke, deren Koloraturen wunderbar leicht über dem Chor liegen. Beide sind in den gesprochenen Passagen sehr gut zu verstehen und bleiben gesanglich mühelos über dem Orchester. Auch Johannes Strauß als Sam Kaplan weiß zu überzeugen.
Um Sam und dessen unglückliche Liebe zu Rose Maurrant dreht sich einer der Handlungsstränge. Sam, mit angeklatschten Haaren und sogar für die Nachkriegszeit wenig modischem gelb-rot-gestreiftem Pullunder, erkennt die Tristesse seines Daseins, bringt aber nicht die Entschlusskraft auf, dieser zu entfliehen. Vor allem, als Rose ihn trotz durchaus vorhandener Sympathie letztlich zurückweist und ohne ihn zu einem neuen Leben aufbricht, sinkt er seelisch gebrochen an der Mauer des Hauses zu Boden. Johannes Strauß beweist neben seiner enormen gesanglichen Leistung auch schauspielerisch sein Können, seine Verzweiflung wirkt authentisch, seine Liebe zu Rose ehrlich. In „Bei Nacht“ entfaltet sich sein strahlender Tenor ebenso überzeugend wie in den Duetten mit Natasha Young als Rose.
Auch Natasha Young verfügt über eine bemerkenswert schöne Stimmfarbe, nur bleibt sie leider sehr leise und ist vor allem in orchestral unterlegten Sprechszenen fast gar nicht zu hören. Die Wandlung von der gehorsamen Tochter zur entschieden auftretenden jungen Frau aber gelingt bestens. Schon als sie ihrem Chef Harry Easter (hervorragend: Albrecht von Stackelberg) klarmacht, dass er sie auch mit seinen gönnerhaft-angeberischen Versprechungen einer Broadway-Karriere nicht für sich gewinnen wird, zeigt sich, dass Rose eigene Werte hat. Natasha Young bringt diese in „Was nützt mir die Mondnacht“ mit sanfter Stimme, aber dennoch unmissverständlich zum Ausdruck.
Die tragische Figur in der Geschichte ist Roses Mutter, Anna Maurrant, grandios gesungen von Anna-Maria Kalesidis. Ihrem dramatischen Sopran fehlt es weder an Volumen noch an Ausdrucksstärke, die unterschiedlichen Aspekte ihrer Rolle arbeitet Kalesidis auch darstellerisch deutlich heraus. Wenn sie wie gedankenverloren die engen Schuhe auszieht, ihre Füße massiert, auf Strümpfen vor dem Haus auf und ab geht und dann wie ein Häufchen Elend auf der Bank hockt, klingt in „Ich kann es einfach nicht versteh’n“ tiefe Melancholie und Trauer um verlorene Träume. Man kann nachvollziehen, wie sie sich in die Affäre mit Milchmann Sankey verstricken konnte, die ihr und ihm letztlich zum Verhängnis wird.
Anna Maurrant hat es mit ihrem ständig grimmigen, patriarchalischen Ehemann Frank wahrlich nicht leicht. Keine andere Meinung außer seiner eigenen lässt er gelten, Veränderungen lehnt er grundsätzlich ab. „Wenn alles so wie früher wär‘“ singt er dann auch voller Inbrunst. Bass-Bariton Cornelius Burger füllt die Rolle mit enormer Bühnenpräsenz und klanglicher Tiefe. Als sich die Situation zuspitzt und letztlich in tödlicher Katastrophe endet – Frank bringt den Liebhaber seiner Frau um und verletzt diese so schwer, dass sie später im Krankenhaus stirbt - nutzt auch sein verzweifeltes „Ich habe sie auch geliebt“ nichts mehr.
Ungleich zum üblichen dramatischen Schluss einer Oper endet „Street Scene“ jedoch nicht mit Anna Maurrants Tod. Es erscheint ein Paar, das in der Zeitung vom Mordfall gelesen hat und auf die frei gewordene Wohnung hofft. Und vor dem Haus jammern die Nachbarinnen wieder in trauter Dreisamkeit über die unerträgliche Hitze.
Ein Musical ist „Street Scene“ nicht, eine typische Oper auch nicht. Und so kann man die Produktion eigentlich allen empfehlen, die nicht in Genregrenzen denken. Mit dem raffinierten Dreh in die 1980er Jahre – auch visualisiert durch Kostümvariationen, die ebenfalls das Jahrzehnt wechseln, aber rollentypisch bleiben – holt Regisseur Thomas Münstermann das Stück näher an die heutige Zeit. Den Wechsel ins Jahr 2016 darf der Zuschauer dann gedanklich selbst vornehmen.
Text: Sylke Wohlschiess
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